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Frühlingsaufruf

Des Winters Eisesschanzen sind geschmolzen,
Der Frost zerrann, der jüngst ans Fenster schlug:
Es spottet des Tyrannen schon, des stolzen,
Der Schwalb' und Lerche freier Himmelsflug.
Die Sonne trifft mit scharfgespitzten Bolzen
Der Furchen Saat, gelockert von dem Pflug,
Und Halm und Tier, im Kämmerlein verborgen,
Begrüßen neuvergnügt des Jahres Morgen.

Schon wimmelt es von kleinen, großen Kindern,
Sich tummelnd auf des Frühlings Schaugerüst;
Den Prunkpalast der Schöpfung auszuplündern,
Verspüren die Erschaff'nen groß Gelüst;
Der Dichter kann und mag es nicht verhindern,
Dieweil er selbst der ärgste Schwelger ist,
Denn aus des Busens stets gefüllten Speichern
Will er verschwendend alle Welt bereichern.

So wandert denn nach allen Regionen,
Genießt des Himmels und der Erde Pracht,
So unter dichtbelaubten Eichenkronen
Wie von der Blumen Dufthauch angefacht;
Sei's auf der Firnenspitzen Wolkenthronen,
Sei's auf der Alpenseen kristallner Nacht,
Beschaut die Welt und ruft es in Posaunen,
Was euch das Herz erfüllt mit Lust und Staunen!

Und wenn ihr dann in Wald und Blütenhainen
Der Drossel Sang, des Specht's Gehämmer lauscht,
Und hingelagert auf bemoosten Steinen,
Geheimnisvoll euch Wassersturz umrauscht;
Wenn sinnend über modernden Gebeinen
Ihr Freudigkeit mit Tiefgefühl vertauscht:
Dann fühlt, daß für des Lebens tiefste Wunden
Natur den Wunderbalsam aufgefunden.


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