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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Wieder vereint.

Sprechen konnten wir nicht. Wir sahen uns in die Augen, und weinten, und faßten einander bei den Händen – das Wunder des Wiedersehens hatte uns stumm gemacht. Immer wieder mußte ich Eveline ansehen; hatte ich doch in den Stunden vor der Rettung unsägliche Angst um sie ausgestanden, wenn ich mir vorstellte, wie geschwächt, wie gebrochen sie von der furchtbaren Leidenszeit sein mußte. Bleich und hohlwangig und abgezehrt erwartete ich sie zu finden, und jetzt war sie bei mir, rund, rosig, blühend, mit glänzenden Augen und elastischen Bewegungen, eine ganz andere als das kranke, schwächliche Mädchen, von dem ich an jenem Aprilmorgen Abschied genommen hatte! Wir vergaßen alles um uns her, und saßen still beieinander, leise Worte stammelnd, aus überströmendem Herzen.

Da glitt das Rettungsfaß wieder an dem Tau entlang; nach kurzer Zeit sprang Evelinen's Leidensgefährte in das Boot und ließ sich erschöpft auf eine Ruderbank niedersinken. Uns nickte er mit verklärtem Gesicht zu.

»Das ist Mr. Selby,« sagte meine Braut, »mein einziger Freund und Beschützer in dieser entsetzlichen Zeit, Archie, ohne seine Ritterlichkeit und Fürsorge wäre ich längst nicht mehr!«

Der Mann und ich schüttelten uns stumm die Hände.

»Wo ist Kapitän Burke?« fragte Bland.

»Ertrunken,« sagte Eveline, »schon vor vielen Monaten.«

»Du mußt jetzt nicht sprechen!« bat ich.

Eveline war totenblaß geworden.

»Mrs. Burke ist erfroren,« fuhr sie fort. »Ich habe tagelang mutterseelenallein neben ihrer Leiche gewacht, bis Mr. Selby kam. – – Ohne ihn hätte ich allein bleiben müssen, bis –«

Sie schwankte und sank ohnmächtig in meine Arme.

In meiner Rocktasche fand ich ein Fläschchen Kognak, das ich für alle Fälle zu mir gesteckt hatte, und rieb der Ohnmächtigen Stirn und Schläfen mit der belebenden Flüssigkeit, aber vergeblich. Eveline lag noch immer regungslos in meinen Armen, als wir den Anker von dem Eisblock losmachten und die Boote sich in Bewegung setzten. Erst als wir neben der Brigg beilegten, erwachte sie aus ihrer Ohnmacht.

Bland und ich hoben Eveline an Deck. Sie war noch sehr schwach, konnte aber doch, auf meinen Arm gestützt, bis in die Kajüte gehen.

Stundenlang saßen wir dort allein zusammen.

*

Der Schiffsjunge hatte in der Kajüte den Tisch gedeckt. Ich eilte rasch an Deck, um Mr. Selby zu bitten, mit uns zu essen.

Langsam bahnte sich der Albatroß seinen Weg durch die Eisberge. Eben verschwanden die düsteren Felsgipfel der Krönungsinsel am Horizont. Mr. Selby war in eifrigem Gespräch mit Kapitän Cliffe; als ich mit ausgestreckten Händen auf ihn zuschritt, lächelte er. Auch wenn das, was mir Eveline in den langen Plauderstunden in der Kajüte über ihn erzählt hatte, mich nicht schon so für ihn eingenommen hätte, so wäre trotzdem mein erster Gedanke gewesen: das ist ein guter Mensch! Dabei war Ralph Selby eigentlich beinahe häßlich zu nennen, aber in seinen Augen lag ein rührender Ausdruck von Güte.

Ich drückte ihm beide Hände und dankte ihm mit bewegten Worten für all die aufopfernde Fürsorge, die er meiner Braut in den Wochen und Monaten ihrer Verlassenheit gewidmet hatte.

»Ja,« sagte er, »es war eine böse Zeit für Miß Otway, besonders die erste Woche, als sie ganz allein mit Mrs. Burkes Leiche auf dem Wrack war. Wenige Männer hätten diese entsetzlichen Tage so mutig ertragen und so gut überstanden.«

Ich lud Mr. Selby ein, mit mir in die Kajüte zu kommen. Kapitän Cliffe wollte an Deck bleiben, da der Albatroß durch die treibenden Eisberge noch immer stark gefährdet war. Wie tags zuvor, so standen auch jetzt überall Leute auf dem Ausguck; zwei Mann bedienten das Steuerrad.

Während wir unten auf Eveline warteten, erklärte Mr. Selby mir, wie das Wrack auf die Eiswand hinaufgekommen war.

Nachdem der Sturm die Lady Emma in die Bucht hinein und auf das Eis getrieben hatte, war sie durch regelmäßig aufeinander folgende Brandungswogen allmählich immer höher hinaufgetrieben worden, bis sie endlich auf jener eisüberzogenen Felsenstufe liegen blieb.

»Unsere Lage war schrecklich,« erzählte er, »denn das Wrack lag fast ganz auf der Seite, so daß die Deckplanken beinahe senkrecht neben uns aufragten, und wir uns nur mit größter Anstrengung und Gefahr bewegen konnten. Doch uns sollte noch weit Schlimmeres bevorstehen. In der folgenden Nacht erschütterte ein vulkanischer Ausbruch unsere Felseninsel bis in ihre Grundfesten. Wie von Riesenfäusten gepackt, wurden wir hin und her geschleudert und erwarteten jeden Augenblick, das Wrack in Atome zerschellen zu sehen. Dazwischen dröhnte das ohrzerreißende Krachen und Knattern der berstenden Eismassen.

Gegen vier Uhr morgens schwieg der Aufruhr so plötzlich wie er begonnen hatte. Als wir uns umsahen, segneten wir trotz der ausgestandenen Angst die furchtbaren Erdstöße, denn sie hatten das Wrack wieder in seine natürliche Lage gebracht. Nun konnten wir uns an Bord wenigstens frei bewegen. Als ich bei Tagesanbruch an Deck ging, sah ich zu meinem größten Erstaunen in einiger Entfernung offenes Wasser vor mir. Der große Eisberg, der uns so lange von der Außenwelt abgeschlossen hatte, war durch das Erdbeben von den Felsen losgerissen worden und wiegte sich nun eine Viertelmeile entfernt auf der See. Die Eisklippe, auf der wir gestrandet waren, fiel jetzt unterhalb des Wracks so glatt und steil zum Meere ab, als sei sie mit dem Meißel bearbeitet worden. Wann und wie alle diese Veränderungen vor sich gegangen waren, weiß ich nicht – wir hatten beide, halb betäubt vor Schreck und Angst, nichts von all' dem beobachten können, was um uns her vorging.«

In diesem Augenblick trat Eveline in die Kajüte, und von neuem überraschten mich ihre kraftvollen Bewegungen und ihr blühendes Aussehen.

»Sehen Sie nur,« wandte ich mich an Mr. Selby, »als meine Braut ihre Reise antrat, war ihre Gesundheit die denkbar zarteste. Wie ist es möglich gewesen, daß sie sich trotz all der ausgestandenen Leiden und Strapazen so erholt hat?«

»Ich weiß nicht, ob ich mich verändert habe,« sagte Eveline; »ich weiß nur das eine: Daß ich überhaupt noch am Leben und wieder mit Dir vereint bin, das verdanke ich einzig und allein Ihnen, Mr. Selby. Und in Gegenwart meines Verlobten danke ich Ihnen von ganzem Herzen für all die Güte und Selbstlosigkeit, die Sie mir in den Stunden unserer gemeinsamen Not so tausendfach bewiesen haben.«

Mr. Selby verbeugte sich stumm.

Ich ergriff seine Hände. »Worte sind viel zu arm, um Ihnen auszudrücken, wie dankbar wir Ihnen sind!«

In höchster Verlegenheit sah er uns an. »Aber jeder andere hätte doch auch so viel als möglich für Miß Otway gesorgt; natürlich hat sie mir furchtbar leid getan ...«

*

Alles, was er getan hatte, schien ihm ganz selbstverständlich und keiner besonderen Erwähnung, noch weniger eines Dankes wert.

Bei Tisch drehte sich das Gespräch nur um die Ereignisse und Erlebnisse der letzten Wochen. Eveline hatte mir von dem grausigen Fund der letzten Zeilen des armen Kapitän Clarke erzählt und wir hatten sofort beschlossen, nach unserer Rückkehr Southsea aufzusuchen und Nachforschungen nach seinen Hinterbliebenen zu halten. Mit Selby wollte ich in Evelinen's Gegenwart nicht über den Mann im Eis (so nannte Eveline den Unglücklichen) sprechen, da die Erinnerung an den furchtbaren Fund meine Braut zu sehr aufregte. Und natürlich interessierte es mich vor allem, wie Eveline und Selby sich auf dem gestrandeten Wrack eingerichtet hatten.

»Hunger haben wir nicht gelitten,« lächelte Mr. Selby. »Es waren eine Menge guter Sachen an Bord; Mangel brauchten wir nicht zu leiden. Die Schiffsladung bestand zum größten Teil aus allen möglichen Lebensmitteln; vor allem aus Konserven. Wir hatten außerdem Brandy, Whisky und Porter; mit unserer Ladung von Spirituosen hätte man halb London betrunken machen können.«

»Sogar Milch war da!« sagte Eveline.

»Milch?« fragte ich erstaunt.

»Ja, kondensierte Milch, von der wir mehrere hundert Dosen hatten.«

»Woher nahmen Sie Feuerungsmaterial, Mr. Selby?« fragte ich.

»Wir hatten Kohlen. Als wir auf das Eis gerieten, waren etwa zwölf Tonnen in der Vorpiek. Da ich auf baldige Befreiung hoffte, und Miß Otway den Aufenthalt an Bord so angenehm wie möglich machen wollte, ging ich anfangs verschwenderisch damit um. Später, als Tag um Tag verstrich, ohne uns Rettung zu bringen, verfuhr ich haushälterischer, so daß jetzt wohl noch die Hälfte der Kohlen auf der Lady Emma sind.«

»Kam denn niemals ein Schiff in Sicht?«

»Oh ja, mehrmals sogar. Aber nie so nahe, daß wir uns bemerkbar machen konnten. Ich habe einen großen Teil der Kulissen und Theaterdekorationen, die wir als Stückgut an Bord führten, an Deck verbrannt, um vorüberfahrende Schiffe bei Tage durch den Rauch und nachts durch den Feuerschein auf uns aufmerksam zu machen. Aber vergeblich. Man wird auf den Schiffen geglaubt haben, Rauch und Flammen rührten von dem Vulkan auf der Krönungsinsel her. Außerdem verbarg uns eine Zeitlang ein großer Eisberg, der sich gerade vor uns aufgepflanzt hatte.«

»Aber der Walfischfänger, durch den ich die ersten sicheren Angaben über die Lady Emma erfuhr, war doch nahe genug gekommen, um das Wrack zu sichten.«

»Ich habe das Schiff nicht gesehen,« sagte Selby. »Wahrscheinlich war ich gerade in der Kajüte, als es vorbeifuhr.«

Eveline nickte: »Manchmal bin ich wochenlang nicht an Deck gekommen. Ich hatte auch gar kein Verlangen danach, so verhaßt war mir der Anblick der Eisklippen und der ewige Donner der Brandung.«

»Zuweilen war die Kälte so arg,« sagte Selby, »daß alles Heizen nichts half, und sogar kochendes Wasser sich mit einer Eiskruste überzog, wenn es ein paar Minuten lang auf dem Tische gestanden hatte. Das einzige Erwärmungsmittel war dann tüchtige Bewegung. Ich hatte in der Kajüte ein wenig Raum geschaffen, so daß Miß Otway dort auf- und abgehen konnte. Es war nicht mitanzusehen, wie sie frierend und in untätigem Brüten neben dem Ofen kauerte und immer verzagter wurde.«

So plauderten wir lange Zeit. Dann erhob sich Selby mit den Worten:

»Ich will mich jetzt wieder ein wenig an Deck umsehen, hoffentlich kann ich mich irgendwo nützlich machen.«

Ich zog Eveline wieder zu unserem Plauderwinkel am Ofen und setzte mich neben sie. Ueber uns hörten wir die lauten Warnungsrufe der Mannschaft, wenn wieder ein Eisberg gesichtet wurde. Aber meine Braut zeigte keine Angst bei den alarmierenden Kommandoworten und dem lebhaften Hin und Her, das ihnen jedesmal folgte. Evelinens Augen strahlten im Gegenteil in fast überirdischem Glanze, aus ihren Augen sprach eine unbeschreibliche Freude, und zu gleicher Zeit ein schier ungläubiges Staunen über das Wunder ihrer Rettung. Statt der starren Unbeweglichkeit des Wracks fühlte sie jetzt kräftige Schiffsbewegungen unter ihren Füßen, statt des lauten Donners der Küstenbrandung drang jetzt das Zischen und Rauschen des schäumenden Kielwassers an ihr Ohr.

Das Licht der scheidenden Sonne lag rotglühend auf dem Oberlicht, wurde dann matter und matter und erblaßte endlich ganz. Der Schiffsjunge kam den Tisch abräumen, es wurde dunkel in der Kajüte, der erste Stern blickte zu uns herein – wir achteten kaum darauf. Ganz in einander versunken, hatten wir Zeit und Raum völlig vergessen.

»Archie,« flüsterte Eveline, »welch ein Unterschied zwischen dieser Stunde und dem entsetzlichen Augenblick, als ich neben Mrs. Burkes Leiche stand. Damals verhallte mein Jammer ungehört in der furchtbaren Einsamkeit; jetzt bin ich wieder bei Dir – bei Dir!« Und überglücklich lehnte sie ihr tränenüberströmtes Gesicht an meine Schulter.

*

Hier enden Mr. Moores Aufzeichnungen. Uns bleibt nur noch hinzuzufügen, daß der Albatroß nach drei Wochen ohne jeden Unfall Buenos Aires erreichte, wo die Geretteten, deren romantisches Geschick allgemeine Teilnahme erregte, jubelnd begrüßt wurden. Nachdem Eveline sich hier mit der notwendigsten Garderobe versehen hatte, setzten sie und Mr. Moore auf einem amerikanischen Dampfer ihre Heimreise fort, und am 1. Mai 1861 schloß in Southampton Sir Mortimer Otway seine Tochter in die Arme.

Der überglückliche Vater wußte lange nicht, wie er Ralph Selby seine Dankbarkeit bezeigen sollte. Endlich schlug Mr. Moore vor, Sir Mortimer solle im Verein mit der Bankfirma Moore, Son & Duncan eine Brigg für ihn erbauen lassen.

Und so war der junge Seemann sieben Monate nach seiner Ankunft in England Kapitän und Miteigentümer eines schmucken Fahrzeuges von 1340 Tonnen, das bald danach seine erste Reise nach Bombay antrat.

 

Ende.


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