Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.
Der Mann im Eis.

Im Morgengrauen standen wir beide auf dem Deck des Wracks, das jetzt in seiner natürlichen Lage fest und sicher in dem Klippenvorsprung lag.

Wir konnten uns kaum fassen vor Freude. Das Deck, auf dem ich gestern noch nur vorsichtig kriechen durfte, so lebensgefährlich war es in seiner Abschüssigkeit, war nun vollkommen eben, eine so ebene Fläche, daß Miß Otway fröhlich wie ein Kind die Planken entlang laufen konnte.

»Es kommt mir vor, als sei ein Wunder geschehen,« rief sie.

»Es ist auch beinahe ein Wunder,« antwortete ich.

»Mir ist es unerklärlich,« sagte sie, aus großen Augen die Klippen anstarrend, die an der Schiffsseite emporragten. Sie schritt hinüber zur Reeling der anderen Schiffsseite und schrie auf.

»Mr. Selby! Kommen Sie!«

Ich rannte zu ihr und sah staunend, daß die Eisklippe, auf die uns die Sturmbrandung vor kurzem hinaufgeschoben hatte, gespalten und ins Meer gestürzt sein mußte. Ein Teil von ihr war verschwunden. Sie fiel jetzt unterhalb des Wracks steil, senkrecht fast, gegen das Meer zu ab. Und auch der riesige Eisberg vor dem Wrack, der uns vom Meer abgeschlossen hatte, war verschwunden ...

»Wir können vom Meer aus gesehen werden,« jubelte Miß Otway.

»Und wir haben ebenen Boden unter unseren Füßen,« sagte ich.

»Wir können uns wenigstens rühren.«

»Und am schönsten ist es für Sie, Miß Otway. Sie sind nun nicht mehr eine Gefangene in der dumpfen Kajüte, sondern können sich frei bewegen!«

»Und Ihnen helfen,« lächelte sie. »Vor der Kälte habe ich keine Angst!«

Sie deutete auf den Pelzmantel und die Pelzkapuze, in die sie eingehüllt war. Nein, vor der Kälte brauchten wir uns nicht zu fürchten. Die Garderobe des armen Kapitäns der Lady Emma war für einen Seemann außerordentlich vollständig gewesen (ich trug seinen Pelzmantel auf dem Leib) und Miß Otways Vater hatte in weiser Voraussicht auch an Kälte gedacht und seiner Tochter schwere Pelze mitgegeben.

»Aber es ist mir noch immer unerklärlich, was in dieser Schreckensnacht vorgegangen ist,« sagte Miß Otway. »War es ein Sturm?«

»Ein Sturm konnte solche Veränderungen nicht hervorrufen,« antwortete ich. »Meiner Ansicht nach muß es ein vulkanischer Ausbruch gewesen sein, der die Inselgruppen der Süd-Orkneys erschüttert hat – ein Erdbeben. Die Stöße sind auf keine andere Weise zu erklären.«

Und ich erzählte ihr von den eigentümlichen Beobachtungen, die ich am Abend vorher gemacht hatte.

»Es war ein Erdbeben, Miß Otway,« sagte ich, »dessen Zentrum wohl ziemlich weit entfernt gewesen sein mag. Die Klippen hier sind jedoch durch die Stöße noch so erschüttert worden, daß das Wrack in Mitleidenschaft gezogen wurde; glücklicherweise so, daß es wieder in aufrechte Lage kam.«

»Dann sei dieses Erdbeben gesegnet,« meinte Miß Otway ernst.

Wir betrachteten die Felsenklippen, die an der Seite des Wracks fast senkrecht in die Höhe stiegen. Schwarze Felsen waren es, völlig glatt, stellenweise mit ewigem Eis überzogen. Dicht an der Schiffsseite war die Felsenwand rissig, von Eisblöcken unterbrochen. Es schien mir, als habe das Erdbeben an einer Seite, da, wo die Wand an die Bugseite des Wracks stieß, Eisblöcke und Felsen zerschmettert. Riesige Felsstücke und zertrümmertes Eis waren am Bug der Lady Emma aufgetürmt, und eine Spalte schien sich tief in die Felsenwand hineinzuwühlen.

Die Klippen jemals zu ersteigen, war sicherlich ein Ding der Unmöglichkeit. Das hatte ich schon längst eingesehen. Sie waren senkrecht, glatt wie ein Spiegel. So gerne ich auch auf der Höhe der Klippen eine Signalflagge errichtet hätte – daran war nicht zu denken. Aber die neugerissene Spalte lockte mich. Es war immerhin möglich, daß sie weiter führte.

War dies der Fall, so konnte ich vielleicht, wenn ich ihr folgte, die Felsenwand von der anderen Seite erklimmen und eine Signalflagge anbringen, die weithin sichtbar sein mußte. Der Versuch war sicherlich der Mühe wert.

»Sehen Sie die Spalte dort, Miß Otway?« sagte ich.

»Ja.«

»Ich möchte den Versuch machen, in sie einzudringen, um zu sehen, wohin sie führt.« Rasch erklärte ich ihr meine Hoffnung, einen Aufstieg zu den Klippen zu finden, um von dort aus Signale zu geben.

»Ist es gefährlich?« fragte sie.

»Das glaube ich nicht,« antwortete ich. »Jedenfalls werde ich sofort umkehren, wenn der Aufstieg gefährlich sein sollte. Sie brauchen nicht die geringste Angst zu haben, Miß Otway. Ich verlasse Sie nicht.«

»Ich will mit Ihnen gehen.«

»Aber –« versuchte ich einzuwenden.

»Nein,« sagte sie rasch. »Entweder mit mir oder gar nicht. Ich will nicht – – –«

Kein Wunder, daß das arme Mädchen sich fürchtete in dieser entsetzlichen Einsamkeit! Sie mußte ja eine grauenhafte Angst vor dem Alleinsein haben! So stimmte ich ihr sofort bei, innerlich entschlossen, sie nicht der geringsten Gefahr auszusetzen und auch selbst um ihretwillen sehr vorsichtig zu sein. Nachdem ich ein Beil, eine Laterne und Stricke aus der Kajüte geholt hatte, machten wir uns auf den Weg.

Die Spalte lag so, daß ich an der Bugseite des Wracks – die Felsen berührten das Schiff beinahe – mit leichter Mühe ein paar Bretter hinüberlegen konnte. Ich schritt voraus und Miß Otway folgte mir. Etwa zwanzig Fuß weit drangen wir vor, ohne daß wir uns auch nur bücken mußten. Die Spalte schien ein Riß im Felsen zu sein, mit festgefrorenem Eis ausgefüllt, das durch das Erdbeben zertrümmert worden war. Nun wurde es dunkel. Ich zündete die Laterne an. Der Gang wurde enger, aber in gebückter Haltung konnten wir noch etwa zehn Fuß weiter vorwärts dringen. Dann verengerte sich die Spalte.

»Wollen wir nicht lieber umkehren?« fragte Miß Otway.

»Ich glaube,« antwortete ich, »daß ich die Oeffnung vergrößern kann. Bitte, halten Sie die Laterne.«

Nach wenigen Beilhieben bröckelten die Eismassen ab. Sie mochten durch das Erdbeben schon gelockert worden sein. Wir schlüpften durch. Die Spalte wurde nun weiter, fast wie eine Höhle. Nach wenigen Schritten kam es mir vor, als sähe ich einen matten Lichtschimmer.

»Dort muß ein Ausgang sein!« rief Miß Otway fast im gleichen Augenblick.

»Vorsichtig – seien Sie ja vorsichtig!« bat ich. »Der Ausgang kann das Ende des Spaltes auf der anderen Seite der Klippen bedeuten und wir müssen auf jeden Schritt achten, um nicht abzustürzen.«

Sorgfältig, Schritt für Schritt untersuchte ich den rissigen Boden mit seinen Eisblöcken und seinem Felsgeröll, und mit unendlicher Vorsicht kletterten wir weiter. Es wurde immer heller und heller, und endlich waren wir bei der Oeffnung angelangt, durch die das Tageslicht einströmte.

Ich stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Ich hatte mich vorgebeugt, mich an einem Vorsprung der Felswand festhaltend, und sah, daß die Spaltöffnung auf den Grund einer tiefen Mulde führte, der Boden angefüllt mit gefrorenem Schnee, mit Eistrümmern und Felsgeröll. Ringsum türmten sich die Klippen auf. Außer der Felsspalte, in der wir standen, schien nirgends weder ein Zugang noch ein Ausgang zu sein. Wie ein riesiger natürlicher Kessel sah die Mulde aus. Die Felsen stiegen genau so senkrecht auf wie beim Schiff, und nirgends konnte ich auch nur den geringsten Haltepunkt zum Erklettern entdecken. Auch hier war es unmöglich, die Klippen zu ersteigen.

»Ich fürchte, wir haben den Weg umsonst gemacht,« sagte ich zu Miß Otway.

Sie nickte. »Diese Felsen sind unbesteigbar.«

Wir sahen uns um. Ueberall nackte Felswand. Dort, der Spalte gegenüber, schien wieder ein Riß in der Klippenwand zu sein, denn eine ungeheure Eismasse unterbrach die schwarze Steinoberfläche.

Ich machte Miß Otway darauf aufmerksam. Sie sah hin.

Und plötzlich schrie sie laut auf.

»Mein Gott!« rief sie. »Mr. Selby! – großer Gott – dort ist – ein – Kreuz!!«

Ich rannte hinüber, über das Geröll stolpernd. An die schwarze Felsenwand war ein winziges Kreuz geheftet ...

Ja, die Form eines Kreuzes war unverkennbar! Wir standen und starrten auf die beiden kleinen gekreuzten Stücke, in einen Riß des Felsens mit spitzen Steinen festgeklemmt –

»Menschen waren hier ...« flüsterte Miß Otway.

Das Kreuz war überzogen mit ewigem Eis. Vorsichtig hämmerte ich mit dem Beil, bis die Eisstücke sich loslösten. Dann sah ich, daß das Kreuz aus Eisen bestand – aus den beiden Teilen eines riesigen Klappmessers mit blechernem Griff, so wie Seeleute sie manchmal tragen, besonders auf Walfischfängern. Die Klinge war von Rost zerfressen. Und auf dem Griff – ja, das waren Buchstaben, mit einer Messerspitze tief eingegraben:

E. C. – Die Buchstaben waren verwittert, angefressen von Rost, aber deutlich erkennbar.

Atemlos vor Erregung beugte Miß Otway sich über mich. Der Messergriff war senkrecht an der Felswand befestigt. Sein oberer Teil enthielt die Buchstaben, deutlich erkennbar; unten war ein Pfeil, der auf die Erde deutete.

»Was soll der Pfeil bedeuten?« fragte Miß Otway.

Aber schon arbeitete ich fieberhaft daran, mit dem Beil die Geröllstücke am Boden aus dem Eisklumpen loszubrechen. Rechts und links flogen die Steine. Und endlich – zwischen zwei größeren Steinen – festgefroren in einer Eisschicht – lag ein Bündel ...

»Schnell – schnell!« schrie Miß Otway.

Vorsichtig löste ich das Bündel los und wickelte die Umhüllung ab. Es waren Fetzen von Kleidungsstücken, derber blauer Stoff, halb verwittert. Dann kamen zwei flache Steine. Und zwischen den Steinen, wieder in steifgefrorenen Stoff gehüllt, lag eine Brieftasche – aus schwärzlichem Leder, das förmlich abbröckelte unter meinen tastenden Fingern. In der Tasche war ein kleines Paketchen, aus dem gleichen blauen Stoff. Ich öffnete es sorgfältig und hielt drei Blätter Papier in der Hand, eng mit Bleistift beschrieben. Sie waren offenbar aus einem Notizbuch gerissen worden.

Miß Otway und ich starrten uns an.

»Hallo! Hallo!« schrie ich plötzlich aus Leibeskräften, einem Impuls folgend.

Donnernd brach sich der Schall meiner Stimme an den Felsenwänden und tönte in vielfältigem Echo wieder. Aber keine menschliche Stimme antwortete ... Mein Impuls war lächerlich gewesen.

»Das Kreuz muß viele Jahre alt sein,« sagte ich, ein wenig beschämt. »Wollen wir nicht lieber zurückkehren, Miß Otway, und unseren Fund auf dem Schiff in aller Ruhe untersuchen?«

»Nein – lesen Sie doch. Oder, bitte, geben Sie mir die Papiere.«

Ich reichte ihr die Notizblätter hinüber, und wir setzten uns auf einen Felsen, dicht an der Felswand, an der das Kreuz befestigt gewesen war. Ringsum ragten drohend die Kliffe. Die Mulde mit ihrem Wirrwarr von Geröll und Eis sah unbeschreiblich nackt und kalt aus – wie verkörperte Einsamkeit. Es war bitter kalt. Wir hüllten uns fester in unsere Pelze. Da stieg oben über den Felsen die Sonne empor, und ihre matten Strahlen drangen zu uns.

Miß Otway legte die Papiere auf ihren Schoß und sah träumerisch vor sich hin.

»So ist einmal in dieser furchtbaren Wildnis ein Mensch gewesen,« flüsterte sie. »Ein Mensch, wie Sie und ich, Selby; ein armer Mensch, der alle Qualen der Einsamkeit und der Verzweiflung ausgestanden haben muß. Können Sie sich das vorstellen, Selby? Hier, wo wir sitzen, muß schon ein anderer Mensch gesessen sein ... Er muß gebetet haben und gehofft haben wie wir. Er muß verzweifelt sein, Selby!«

Sie richtete sich auf und las:

»Geschrieben von Kapitän Edward Clarke aus Southsea-on-Thames, Walfischfänger Good Hope, am 15. Juni 1839.«

»Vor zweiundzwanzig Jahren!« rief ich erschüttert aus. »Der Mann ist längst tot.«

»Ich fürchte, er hat viel leiden müssen,« flüsterte Miß Otway.

Sie las weiter:

»Gott sei meiner Seele gnädig! Dies ist der Monat Juni des Jahres 1839. Die Good Hope hat am 27. Mai in einem Sturm 120 Seemeilen südlich von den Orkneys ihren Mast verloren. Wir sind fünfzehn Tage lang hilflos getrieben und in das Eismeer der Krönungsinseln verschlagen worden. In der Nacht des 13. Juni 1839 stießen wir gegen einen Eisberg, und das Schiff sank. Ich weiß nicht, was aus den anderen geworden ist. Sie sind wohl alle tot. Ich erwachte am Morgen und fand mich auf einer Klippe hoch über dem Meer. Ich bin fast erfroren. Ich habe nichts zu essen als nur wenige Schiffszwiebacke, die in meiner Tasche steckten.«

Wir sahen uns an, und Miß Otway brach in Tränen aus. Sie konnte nicht mehr vorlesen. Wir beugten uns zusammen über die Papierstückchen und lasen zusammen. Die Schrift, von einer Hand geschrieben, die fast erstarrt war vor Kälte, sah ungelenkig aus wie die großen ungeschickten Buchstaben eines Kindes ...

»15. Juni. – Ich habe sehr lange geschlafen. Ich bin schwach und müde, aber gar nicht hungrig. Ich habe noch ein Stück Zwieback. Ich weiß nicht, ob heute der 15. Juni ist. Ich habe sehr lange geschlafen. Ich habe Weib und Kind in Southsea und das ist sehr schwer. Heute fand ich einen Felsenspalt. Ich ging hindurch und fand einen Platz zwischen den Klippen. In der Felswand ist eine große Höhle. Es ist wärmer dort.«

»16. Juni. – Ich mache aus meinem Messer ein Kreuz. Vielleicht wird es einmal gefunden. Ich befestige es vor der Höhle. Ich bin sehr schwach. Wer es findet – soll meiner Frau ...«

»16. Juni. – Ich schreibe noch einmal. Muß Papier vergraben. Bin sehr schwach.«

»17. Juni. – Ich lebe noch; aber letzter Tag. Habe mich in Arm gebissen und Blut getrunken. Mary grüßen. Bin müde. Ich will schlafen. Gott sei –«

Das waren die Zeilen, die wir in dem verwitterten Notizbuch fanden.

Miß Otway saß da, zusammengesunken auf dem Felsblock und weinte zum Herzzerbrechen. Ich wagte nicht, sie zu trösten. Ich saß und wartete und sah scheu zu den riesigen Eismassen in der Felsenwand hinüber. Dort war die Höhle. Diese Eismassen verschlossen den Unglücklichen, der hier elend umgekommen war. Hinter dem Eis mußte seine Leiche, mußten seine Gebeine liegen ...

In namenlosem Entsetzen sprang ich auf und hieb mit dem Beil gegen das Eis in der Felsenwand. Mit aller Kraft, die in mir war; so wuchtig wie ich nur konnte. Aber das uralte Eis war hart wie Stein. Nur winzige Stückchen splitterten ab. Ich hieb und hieb – –

Miß Otway war aufgestanden und zu mir getreten.

»Lassen Sie den Mann im Eis ruhen, Selby!« sagte sie leise, aber mit ruhiger Stimme. »Er ist einsam und in Verzweiflung gestorben. Lassen Sie ihn ruhen!«

Sie stand lange da und betrachtete die düstere Felsenwand, die Eismassen. Dann sah sie mich an, aus klaren Augen.

»Sie werden mich nicht schwach finden, Mr. Selby, was auch kommen möge. Ich will stark sein, weil ich nicht feige sein will. Dieser Mann aber, dieser arme Mann, der verhungerte und erfror – dieser unglückliche Mann, lieber Mr. Selby, zeigt uns unser Schicksal. Wir sterben im Eis, so wie er starb – –«

Mit festen Schritten ging sie zu der Spaltenöffnung, die zum Wrack führte – – –


 << zurück weiter >>