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Achtes Kapitel.
Die Mannschaft meutert.

Weißleuchtend hob sich ein Segel von dem grauen Schneegewölk am Horizont ab. Der Kapitän betrachtete es unverwandt durch sein Fernrohr.

»Dort ist das Schiff!« jubelte Mrs. Burke.

»Kommt es uns entgegen?« fragte ich, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd.

»Das weiß ich jetzt noch nicht,« sagte der Kapitän. »Es ist noch zu weit entfernt. Nehmt die erste beste Teertonne, die euch in die Hände fällt,« rief er den Leuten zu.

In wenigen Sekunden war sein Befehl ausgeführt und ein Signalfeuer angezündet. Als Mrs. Burke und der Schiffsarzt, bis an die Nasen vermummt, an Deck erschienen, quoll bereits eine dicke schwarze Rauchwolke über die Reeling und wälzte sich träge in den grauen Nebeldunst hinaus, von den emporschießenden Flammen grell beleuchtet.

Rastlos schleppten die Leute immer neues Feuerungsmaterial herbei, um die Glut zu schüren, und immer angstvoller spähten ihre Blicke nach dem langsam verblassenden weißen Schimmer am dämmerigen Horizont. Plötzlich sprang einer der Matrosen, der bisher am eifrigsten geholfen hatte, das Feuer zu unterhalten, wie ein Besessener an die eisüberzogene Reeling, glitt aus, raffte sich wieder auf, starrte sekundenlang auf das entschwindende Segel und schrie dann seinen Gefährten verzweifelt zu:

»Jungens! Das Schiff segelt weiter!«

Wir Frauen schrieen auf.

»Es hält uns für einen Walfischfänger, der Tran auskocht,« sagte ein anderer alter Seemann. »Rauch ist in diesen Breiten kein zuverlässiges Signal.«

»Das Schiff ist unsere einzige Rettung,« brüllte der erste Matrose. »Erreichen wir es nicht, so können wir treiben, bis wir alle erfroren sind.«

»Seh zu, in welcher Richtung es segelt, solange es noch zu sehen ist,« schrie eine andere Stimme.

Augenblicklich stürzte der Mann auf den Kompaß zu und suchte mit senkrecht ausgestreckter Handfläche die Richtung des davonsegelnden Schiffes festzustellen.

»Kapitän Burke!« rief er den Kapitän an.

»Was gibts?«

»Wir haben's satt, Kapitän. Mit Spieren und Notsegeln richten wir hier nichts aus. Das Schiff dort ist unsere einzige Rettung!«

»Halt Dein Maul, Johnson,« sagte der Kapitän mit mühsam erzwungener Ruhe. In seinem leichenblassen Gesicht aber glühten die Augen wie die eines Tobsüchtigen.

»Ich soll mein Maul halten?« murrte der Mann trotzig. »Das werd ich tun, sobald ich gesagt hab', daß ich mich den Teufel um die Seemannsartikel zu scheren brauche, wenn die Masten über Bord sind. Ich hab' keine Lust, mich mit Notmasten abzuquälen, die der erste Windstoß doch wieder über den Haufen bläst!«

Und mit einem Mal brüllte er gellend:

»Jungens, ich mach', daß ich dem Schiff nachkomm', so lang's noch Zeit ist. Wer geht mit?«

Wie ein elektrischer Schlag wirkte dieser Ruf auf die Mannschaft. Wie auf Kommando stürzten sich alle auf das Boot, dessen Stricke sie mit ihren Taschenmessern und Handbeilen zu durchschneiden versuchten.

Niemand achtete mehr auf das Signalfeuer, das allmählich zusammensank und nur noch ein dünnes, schnell verflatterndes Rauchwölkchen emporsandte.

Kapitän Burke sah wie gelähmt dem Treiben der Leute zu. Dann kam Leben in seine starren Züge, und mit Donnerstimme schrie er:

»Zurück, ihr Hunde! Das Boot ist Schiffseigentum, ihr habt kein Recht darauf. Schwimmt dem Schiff nach, wenn ihr wollt! Niemand rührt das Boot an!«

Die Matrosen kümmerten sich gar nicht um den Kapitän. Schäumend vor Wut drang jetzt der aufs äußerste Gereizte mit geballten Fäusten auf die Meuterer ein und schlug zwei von ihnen zu Boden. Niemand wagte es, die Hand gegen ihn zu erheben, aber einer der Matrosen stellte ihm von hinten ein Bein. Er strauchelte und schlug schwer auf die glattgefrorenen Decksplanken.

Laut jammernd warf sich Mrs. Burke neben dem unbeweglich daliegenden Körper ihres Gatten auf die Kniee. Der Bootsmann aber rief ihr entschuldigend zu:

»Wir können nicht anders, Madam – es geht um Tod und Leben. Selbstverständlich kommen Sie alle mit, wenn das Boot seeklar ist. Vorwärts, Jungens, so lange es noch hell ist!«

Mr. Owen und ich halfen der armen Frau, den Ohnmächtigen in die Kajüte zu transportieren. Unterwegs erholte sich der Kapitän, wies mit heftiger Bewegung die stützende Hand des Schiffsarztes zurück und stand, mit Hilfe seiner Frau, nach einigen Sekunden wieder auf den Füßen.

»Gib mir einen Schluck Branntwein,« sagte er.

Rasch eilte ich in die Kajüte hinab. Unten aber überkam mich eine derartige Schwäche, daß ich mich einen Augenblick setzen mußte, weil meine zitternden Kniee den Dienst versagten. Ehe ich mich wieder erheben konnte, kamen Mrs. Burke und ihr Gatte schon die Stiege herunter.

Der Kapitän warf sich auf einen Stuhl am Tisch und vergrub sein Gesicht in die Hände. Mrs. Burke eilte geschäftig hin und her, um uns mit einem Schluck Branntwein zu erquicken, und ich lauschte gespannt auf die verworrenen Geräusche, die durch die Decksplanken zu uns herunterdrangen. Jetzt wurde das Boot über das Deck geschleift – jetzt glitt es über die Reeling und nun – – –

»Sie werden uns doch mitnehmen!« rief ich entsetzt.

Der Kapitän hob den Kopf und warf mir einen zornigen Blick zu.

» Uns mitnehmen?« wiederholte er.

»Aber ...«

» Sie mögen mitgehen, wenn Sie Lust haben – ich bleibe hier.«

»Nein, Miß Otway,« jammerte Mrs. Burke. »Sie dürfen ohne mich nicht gehen, und mein Platz ist an der Seite meines Mannes. Bedenken Sie: wenn die Leute das Schiff nicht finden – und das ist sehr wahrscheinlich – treiben sie bei der furchtbaren Kälte im offenen Boot auf der See. Das hielten Sie nicht eine einzige Nacht aus. Wir brauchen uns nicht zu ängstigen, wenn wir zurückbleiben. Erreichen die Leute das Schiff, dann senden sie uns Hilfe; finden sie es aber nicht – dann sind wir hier in unserer warmen Kajüte besser daran, als jene im offenen Boot.«

»Aber wir sind dann allein an Bord!« rief ich verzweifelt.

»Die Hunde hätten einen neuen Notmast aufrichten können,« stöhnte der Kapitän. »Statt dessen stehlen die Schurken mir das einzige Boot, und ich kann es ihnen nicht einmal wehren, denn was ist ein Einzelner gegen so viele!« und in dumpfer Mutlosigkeit ließ er den Kopf wieder auf die verschränkten Arme sinken.

Jetzt polterten schwere Schritte die Kajütentreppe herab, und vier oder fünf Seeleute standen vor uns. Einer von ihnen, der eine brennende Laterne trug, trat auf Mr. Burke zu und sagte:

»Das Boot ist seeklar, Kapitän!«

»Was habt ihr hier unten zu suchen?« donnerte Mr. Burke sie an.

»Wir wollen uns Lebensmittel holen,« war die Antwort. »Warum sollen wir erst die Hauptluke öffnen und in den Schiffsraum hinuntersteigen, wenn wir alles, was wir brauchen, hier bei der Hand haben.«

Außer sich vor Wut stand Kapitän Burke auf und wollte sich auf die Eindringlinge stürzen, doch mit lautem Aufschrei fiel seine Frau ihm um den Hals und beschwor ihn, die Leute um Gottes willen gewähren zu lassen und sie durch nutzlosen Widerstand nicht noch zu reizen. Zähneknirschend fügte er sich, denn er erkannte wohl, daß die Mannschaft zum Aeußersten entschlossen war und vor nichts zurückschrecken würde.

Rasch öffneten die Matrosen die kleine Luke hinter der Kajütentreppe und beluden sich mit den für unseren persönlichen Bedarf aufbewahrten Vorräten. Dann verließen sie die Kajüte wieder, ohne sich weiter um uns zu kümmern. Wenige Minuten später aber rief die Stimme des Bootsmannes zu uns herunter:

»Kapitän Burke, es ist keine Sekunde mehr zu verlieren. Wollen Sie und die Damen jetzt kommen?«

Mr. Burke antwortete nicht.

»Allmächtiger!« schrie ich auf, »sollen wir allein bleiben!«

»Kommen Sie mit uns, Fräulein, wenn der Kapitän und seine Frau das Schiff nicht verlassen wollen?« fragte der Bootsmann wieder.

»Nein,« schrie Mr. Burke. »Soll sie mit euch erfrieren? Fahrt allein ins Verderben, ihr Narren!«

Ohne ein Wort der Erwiderung ging der Bootsmann. Gleich nach ihm kam Mr. Owen, der mit schriller Stimme rief:

»Mrs. Burke, Miß Otway, schnell, schnell! Wir fahren sonst ohne Sie!«

»Und meinen Mann fordert er nicht auf, mitzukommen, der Elende!« fuhr Mrs. Burke entrüstet auf. »Denkt er, ich würde meinen Mann verlassen?«

Wie ein Pfeil schoß Mr. Owen jetzt die Stiege herab.

»Gebt Miß Otway frei!« kreischte er. »Ihr habt kein Recht, sie mit Gewalt hier festzuhalten, wenn sie uns begleiten will.«

»Hinaus!« donnerte der Kapitän. Der Schiffsarzt gehorchte – sonst wäre er wohl nicht mehr lebendig aus der Kajüte gekommen.

»Ihr Blut komme über euch!« rief er dem Kapitän und seiner Frau zu. Dann verschwand er oben im Dunkel.

»Hören Sie nicht auf ihn,« sagte Mrs. Burke mit tränenerstickter Stimme. »Sie werden sofort das mit den Wellen kämpfende Boot sehen und dann selber urteilen können, wo die Gefahr fürchterlicher ist, dort – oder hier – –«

Laut weinend fiel ich ihr um den Hals, und eine Weile hielten wir uns schluchzend umschlungen. Als ich wieder aufblickte, hatte der Kapitän die Kajüte verlassen, und wir folgten ihm an Deck.

Das Boot war schon einige Schiffslängen von der Lady Emma entfernt und schoß mit geschwelltem Segel wie ein Pfeil durch die Wogen. Kapitän Burke, der ihm mit prüfenden Blicken nachsah, rief uns entgegen:

»Bei der Geschwindigkeit müssen die Leute das Schiff sicher erreichen. Seht, wie geschickt das Segel bedient wird!«

»Vielleicht bringen sie uns Rettung,« rief Mrs. Burke. »Wenn sie vom Schiff aus gesichtet und aufgenommen werden, dann schlägt auch für uns die Stunde der Erlösung.«

Sehnsüchtig folgten meine Augen dem entschwindenden Segel. Und dennoch mußte ich mir sagen, daß Mrs. Burke vollkommen recht daran getan hatte, mich zum Bleiben zu überreden. Eine einzige Nacht auf den dünnen Planken jener offenen Nußschale wäre bei der eisigen Kälte, die mich schon jetzt bis ins Mark durchschauerte, mein sicherer Tod gewesen.

Kapitän Burke hatte sein Fernrohr herausgezogen und richtete es jetzt aufmerksam auf eine Stelle am Horizont, an der ich mit meinen scharfen Augen einen winzigen, leuchtenden Punkt bemerkte.

»Dort ist das Schiff!« rief er. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie es heute noch einholen. Hätte ich doch früher daran gedacht ... Aber mit Meuterern unterhandelt man nicht. Die Schurken haben mir mein einziges Boot gestohlen, ohne zu fragen, was jetzt aus uns hier werden soll!«

»Woran hast Du nicht früher gedacht, Edward?« fragte seine Frau.

»Ich hätte ihnen ein Dutzend Raketen mitgeben können,« antwortete er.

Wir folgten dem Boot mit den Augen, bis wir das Segel von den weißen Schaumkronen der Wellen nicht mehr unterscheiden konnten. Jetzt erst kam unsere trostlose Verlassenheit mir ganz zum Bewußtsein. Schwerfällig hob und senkte das Wrack sich auf den Kämmen der Wogen, die unablässig an der Wetterseite emporleckten und sie mit einem schimmernden Eispanzer überzogen.

Endlich waren Schiff und Boot unseren Blicken vollständig entschwunden, und Kapitän Burke schob, nachdem er den Horizont noch einmal sorgfältig abgesucht hatte, das Fernrohr wieder zusammen.

»Auf See kann sich in ein paar Stunden vieles ändern,« sagte er. »Morgen sind wir vielleicht schon ein gutes Stück nordwärts getrieben.«

»Segeln die Leute ohne Kompaß?« fragte Mrs. Burke.

»Der Bootsmann besaß einen eigenen Kompaß, ein wahres Wunderwerk an Metall- und Schnitzarbeit, den werden sie wohl mitgenommen haben. Und jetzt,« fuhr der Kapitän in weit freundlicherem Ton fort, als wir seit Tagen von ihm gehört hatten, »jetzt wollen wir hinuntergehen und etwas essen. Feuerung und Lebensmittel reichen noch für lange Zeit, und die Lady Emma ist genau so fest wie am Tage ihrer Abfahrt. Wir wollen nicht den Mut verlieren.

Ich folgte Mrs. Burke in die Kajüte.

Es mochte unterdessen etwa zwei Uhr geworden sein, und schon begannen die Schatten der Polarnacht sich herabzusenken. Wir zündeten die Lampe an und warteten auf den Kapitän, der an Deck geblieben war, während wir in der Kajüte den Tisch deckten. Endlich wurde Mrs. Burke unruhig und ging hinauf, um ihren Mann zu holen.

Es war nicht das erste Mal seit jener entsetzlichen Sturmnacht, daß ich in der Kajüte allein blieb. Aber während ich gestern noch Tritte und Menschenstimmen und das geschäftige Hin und Her des Schiffslebens über mir gehört hatte, umfing mich heute drückende Grabesstille.

Plötzlich sah ich am Fuße der hölzernen Wandverkleidung zwei Lichtfünkchen aufglimmen. Anfänglich hielt ich sie für eine Sinnestäuschung, dann dachte ich an das phosphoreszierende Leuchten morschen Holzes in der Dämmerung. Aber die hellen Pünktchen bewegten sich, kamen näher und näher, und endlich konnte ich deutlich die langen Schnurrhaare und den plumpen Kopf einer großen, grauen Ratte unterscheiden. Mit lautem Aufschrei fuhr ich zurück, und – husch – war der Spuk verschwunden. Von Grauen und Ekel geschüttelt, stürzte ich die Kajütentreppe hinauf, um dem furchtbaren Alleinsein zu entfliehen.

Tiefes Dunkel lag über der See, und auf dem Schiff verbreitete nur der schimmernde Schnee eine matte Helle.

Angstvoll rief ich Mrs. Burkes Namen, doch kein Laut antwortete mir. Halb gleitend, halb taumelnd irrte ich über das glattgefrorene Deck und schrie in meiner Herzensangst immer und immer wieder in das nächtliche Schweigen hinaus. Allein sobald mein Ruf verhallt war, hörte ich nichts als das Pfeifen des Windes und das Rauschen der Wellen.

So war ich bis zu der offen stehenden Kombüsentür gelangt und wollte wieder rufen, als ich aus einer kleinen Luke eine menschliche Gestalt auftauchen sah.

»Wer ist das?« fragte ich zitternd.

»Sind Sie es, Miß Eveline?« klang es zurück, und gleich darauf stand Mrs. Burke vor mir.

»Oh Gott, wo bleibt ihr nur!« rief ich schluchzend. »Ich glaubte schon, Ihr wärt verunglückt und hättet mich ganz allein gelassen.«

»Mein Mann holt Kohlen aus dem Schiffsraum,« sagte Mrs. Burke, »und ich muß ihm die gefüllten Eimer abnehmen. Wir sind noch nicht ganz fertig. Aber warten Sie hier in der Kälte nicht auf uns, sondern gehen Sie in die Kajüte. In zehn Minuten sind wir wieder bei Ihnen.«

Als ich in die Kajüte zurückkehrte, fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe, allein die Furcht vor der Ratte hielt mich aufrecht. Ueberall glaubte ich die spitze Schnauze und die funkelnden Augen des häßlichen Geschöpfes auftauchen zu sehen, und mit erleichtertem Aufatmen begrüßte ich den Kapitän und seine Frau, als sie mit Kohleneimern beladen die Stiege herabkamen.

Bei Tisch erzählte Mrs. Burke stolz, wie geschickt ihr Mann an einem Pfahl auf dem Vorderkastell einen Block befestigt und ein Tau durchgezogen hatte, sodaß sie ohne große Kraftanstrengung die Kohleneimer, die der Kapitän unten im Schiffsraum füllte, in die Höhe ziehen konnte. Ich dagegen schilderte meinen Schreck beim Anblick der großen Ratte.

»Beruhigen Sie sich, Fräulein,« sagte der Kapitän lachend, »die Tiere sind nicht so gefährlich, wie Sie denken. Sie fallen den Matrosen mitunter in den Siruptopf oder kriechen in ihre Kojen. Schlimmeres aber kann man ihnen nicht nachsagen: wenn sie auch Schiff und Ladung beschädigen, so warnt ihr Instinkt sie doch, den Menschen anzugreifen.«

Nach beendeter Mahlzeit erhob sich der Kapitän und warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. Er schien irgend etwas zu berechnen, denn ich hörte ihn leise vor sich hinmurmeln:

»Das Boot segelt schnell und hat das Schiff vielleicht jetzt schon erreicht – wollen sehen, was sich tun läßt.«

»Was hast Du vor?« fragte seine Frau.

»Ich will ab und zu einmal eine Rakete steigen lassen und eine Signallaterne am Stumpf des Fockmastes aufhängen oder noch besser – vorn am Bugspriet, wo sie hin- und herschwingt.«

»Kann das Wrack sich noch lange über Wasser halten?« fragte ich.

»Sehr lange, Fräulein.«

»Ich dachte immer, ein Wrack würde von den Wellen in kurzer Zeit zertrümmert.«

»Durchaus nicht,« erwiderte Mr. Burke. »Sie werden doch sicherlich auch schon von Wracks gelesen oder gehört haben, aus deren Loggbüchern hervorging, daß sie monate- ja sogar jahrelang, von der Mannschaft verlassen auf dem Meere umhertrieben. Sie sind dann für die Schifffahrt ebenso gefährlich wie unverzeichnete Riffe und Klippen. Ein gutes Schiff geht nicht so leicht in Trümmer. Auch auf unsere Lady Emma können wir uns verlassen; sie bietet uns ein sicheres Obdach, bis ein vorüberfahrendes Schiff uns aufnimmt.«

Begierig lauschte ich diesen tröstlichen Worten, die mir einen Teil meiner früheren Sorglosigkeit und Sicherheit wiedergaben. Der Rest des Tages verlief ereignislos, auch für die Nacht prophezeite der Kapitän beständiges und ruhiges Wetter. Er zündete ein tüchtiges Feuer in der Kajüte an und bat seine Frau, uns Kaffee zu kochen, während er die Feuerwerkskörper versuchte, von denen er vorhin gesprochen hatte.

Um mir ein Vergnügen zu machen, forderte er mich auf, mit nach oben zu kommen und mir das Aufsteigen der Raketen anzusehen. Zischend schoß die erste in die schwarze Finsternis hinauf, und ein glutroter Feuerball färbte die Wolken in seiner Nähe rosig wie bei Sonnenuntergang.

»Noch eine – auf gut Glück!« sagte der Kapitän, und wieder sprühte ein blendender Blitz empor, aus dem diesmal ein weißes, sternklares Licht sich sekundenlang über die rollenden Wogen ergoß; gleich darauf aber erschien mir das Dunkel nur um so tiefer und undurchdringlicher.

»So!« rief Kapitän Burke, »wer kann nun wissen, ob nicht doch ein Menschenauge diese Zeichen erblickt hat. Auf See darf man niemals den Kopf hängen lassen, Miß Otway. Kommen Sie, wir wollen jetzt eine Tasse heißen Kaffee trinken, und dann will ich unsere hellste Laterne an den besten Platz bringen.«

Unsere Unterhaltung am Kaffeetisch drehte sich wieder um unsere Rettungsaussichten.

»Wenn nun aber das Schiff, dem wir begegnen könnten, sich weigert, uns ins Schlepptau zu nehmen, werden Sie dann wieder darauf bestehen, das Wrack nicht im Stiche zu lassen?« fragte ich den Kapitän. »Wenn das der Fall sein sollte, dann –«

Mr. Burke wandte mir sein vom Ofenfeuer rot angestrahltes Gesicht zu.

»Was dann, Miß Otway?«

»Dann wollte ich mich lieber schriftlich verpflichten, Ihnen die in Frage kommende Summe zu ersetzen, als noch eine Stunde länger auf dem Wrack zu bleiben.«

»Fürchten Sie nichts, Sie sollen die Lady Emma heil und gesund verlassen,« erwiderte er. »Einstweilen sind Sie hier besser aufgehoben, als draußen im Langboot. Wenn Sie Mr. Owen gefolgt wären, so hätte er Sie jetzt auf dem Gewissen.«

»Ja, wenn die Leute das Schiff noch nicht erreicht haben, müssen sie jetzt schon Leichen sein,« sagte Mrs. Burke. »Welche entsetzliche Vorstellung – bei dieser furchtbaren Kälte regungslos dasitzen und fühlen zu müssen, wie die Sturzseen einen bei lebendigem Leibe allmählich mit einer Eiskruste überziehen!«

Der Kapitän erhob sich und holte eine große Schiffslaterne herbei, deren Glaskuppel von einem Drahtnetz umschlossen war. Sorgfältig füllte und reinigte er sie und meinte dann:

»Jetzt wollen wir das Bugspriet damit ausputzen, damit die Lady Emma sich wieder ein bißchen auf ihr früheres schmuckes Aussehen besinnt. Bleiben Sie hier unten, Miß Otway, es hat keinen Zweck, daß Sie sich noch einmal der bitteren Kälte aussetzen. Aber Du, Frau, kannst mir oben behilflich sein; ich werde wahrscheinlich einen Block am Bugspriet anbringen müssen, um die Laterne draußen zu befestigen.«

Mrs. Burke zog sich warm an, riet mir scherzend, nicht wieder vor einer harmlosen Ratte Reißaus zu nehmen, und folgte ihrem Gatten an Deck.

Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit bemächtigten sich meiner, sobald ich mich allein sah. Mir war, als könne es aus dieser verzweifelten Lage keine Rettung und kein Entrinnen mehr geben. Sehnsüchtig dachte ich an mein Vaterhaus zurück, und vor meinen geschlossenen Augen stand plötzlich jene winterliche Szene kurz vor meiner Abreise, als ich mit dem Geliebten am Strande entlang gegangen war und wir unsere entzückten Augen an dem herrlichen Anblick der schäumenden Brandung geweidet hatten. Noch einmal durchlebte ich in Gedanken den Schmerz des Abschieds von meinem Verlobten ...

So saß ich lange Zeit in Sinnen verloren. Als ich endlich wieder aufblickte, sah ich an dem vorgerückten Zeiger, daß der Kapitän und seine Frau schon über zwanzig Minuten an Deck weilten. Das schien mir bei der strengen Kälte sehr lange. Doch sagte ich mir, daß es wohl geraume Zeit in Anspruch nehme, mit so geringen Hilfsmitteln, wie sie uns augenblicklich zu Gebote standen, am Bugspriet eine Signallaterne zu befestigen.

Ich wartete noch eine ganze Weile. Als aber über eine halbe Stunde verstrichen war, ohne daß sich Schritte auf der Kajütentreppe hören ließen, da packte mich eine wilde Angst, und mit zitternden Knien und klopfendem Herzen ging ich zum zweiten Male auf die Suche.

An Deck regte sich nichts. Doch! Horch – was war das? Vom Vorderkastell her drang leise ein qualvolles Stöhnen. Einen Augenblick stand ich starr vor Schreck. Dann bewegten meine Füße sich fast mechanisch nach der Richtung hin, aus der das Stöhnen klang.

Im matten Schneelicht erkannte ich neben der Kombüse die Umrisse einer lang ausgestreckten menschlichen Gestalt, von deren Lippen jene herzzerreißenden Schmerzenslaute quollen – es war Mrs. Burke!

Ich warf mich neben ihr auf die Knie, ergriff ihre Hand und rief – fast sinnlos vor Schreck und Angst:

»Allmächtiger Gott, was ist geschehen? Wo ist der Kapitän?«

Mary schrie gellend auf.

»Ertrunken – über Bord ... Edward!«

Ich stürzte an die Reeling und blickte in die Tiefe. Nichts war zu sehen – die schwarzen Wogen hatten ihr Opfer verschlungen. Eine unbeschreibliche Angst durchschauerte mich. In meinem Geiste sah ich den unglücklichen Kapitän auf das Bugspriet hinausklettern, die brennende Signallaterne in der Hand; sah ihn ausgleiten, stürzen – hörte den verzweifelten Aufschrei, das Aufklatschen des Körpers auf das Wasser ...

Mein Gott, was sollten wir anfangen! Da lag die arme Mary; schwer verletzt offenbar. Sie hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht auf meine Rufe.

Vergeblich versuchte ich, sie in die Kajüte herunterzuschaffen. Sie war völlig hilflos und meine schwachen Kräfte reichten nicht aus, den schweren Körper auch nur von der Stelle zu bewegen.

Da übermannte mich die Verzweiflung, und gebrochen sank ich neben der leblos Daliegenden auf das schneebedeckte Deck hin.


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