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Sechstes Kapitel.
Die Verheerungen des Sturms.

Kapitän Burkes ganzes Verhalten machte auf mich immer mehr den Eindruck, als habe das plötzlich hereinbrechende Unglück seinen Verstand verwirrt. So unstät hatte ich seine Augen noch nie flackern sehen, so gereizt seine Stimme noch nie klingen hören wie heute. Nichts von Kaltblütigkeit war in seinem Wesen zu spüren – er schien sein seelisches Gleichgewicht völlig eingebüßt zu haben.

Nachdem er uns verlassen hatte, verstrichen einige Minuten in beklommenem Schweigen. Dann wurden schwere Schritte auf der Kajütentreppe laut, und zwei Matrosen, von denen der eine ein blutgetränktes Tuch um die Stirn gewunden hatte, traten herein, um nach des Kapitäns Geheiß Feuer im Ofen anzuzünden.

»Ist Wasser ins Schiff gedrungen?« rief Mrs. Burke ihnen entgegen.

»Nein, Madam,« war die Antwort, »wir haben eben gepeilt und keins gefunden.«

»Ist Ihre Kopfwunde gefährlich?«

»Nein, danke, nur eine Schramme, nicht der Rede wert,« erwiderte der Mann und kniete vor dem Ofen nieder, während sein Gefährte sich neugierig in der Kajüte umsah.

Gar zu gern hätte ich von den beiden Leuten noch mehr über unsere augenblickliche Lage gehört, doch mußte ich mir sagen, daß Mrs. Burke als Frau des Kapitäns am besten wissen müsse, wieviel sie fragen dürfe. So hüllte ich mich denn fest in meinen Pelz und beobachtete schweigend die von den züngelnden Flammen seltsam beleuchteten Seemannsgestalten.

Nach einer Weile polterten noch weitere drei Mann, darunter auch der Steward, mit allerlei Küchengerät und Trinkgefäßen die Stiege herab und machten Miene, sich in der Kajüte häuslich niederzulassen.

»Der Kapitän hat uns erlaubt, hier zu bleiben,« sagte einer von ihnen. »Der Ofen in der Kombüse brennt nicht und in unseren Kojen ists vor Kälte nicht auszuhalten.«

»Wo ist denn der Koch?« fragte Mrs. Burke.

»Ueber Bord gespült! Mit dem Steuermann und drei anderen.«

Erschüttert faltete Mrs. Burke die Hände.

»Ich würde euch gern eine Mahlzeit kochen, Leute,« sagte sie. »Aber ich kann mich bei diesem Rollen und Schlingern nicht auf den Füßen halten. Steward, holen Sie einen Schinken aus der Speisekammer. Kaffee und Schiffszwieback stehen hier. Macht euch selber etwas zu essen zurecht. Großer Gott – fünf Mann über Bord! Wieviel sind übrig geblieben?«

»Neun Mann,« erwiderte der Matrose mit der verbundenen Stirn, und unmittelbar darauf betrat der Rest der Schiffsmannschaft die Kajüte.

»Gib den Leuten reichlich zu essen und heißen Kaffee, soviel sie wollen. Und einen Schluck Rum dazu,« rief Mr. Burke von oben her seiner Frau zu. Dann wurden die Kajütentüren geschlossen und bald bot der wieder angenehm durchwärmte Raum ein Bild friedlichen Behagens, in dem nur die triefenden Südwester und Oelröcke der Matrosen an das Toben der Elemente da draußen erinnerten.

»Kommt der Kapitän nicht herunter?« fragte Mrs. Burke mit angstzitternder Stimme. »Oben an Deck muß er ja zu Stein frieren.«

»Er wird bald hier sein, Madam,« antwortete der Bootsmann, respektvoll seinen Südwester abnehmend, von dem eine hart gefrorene Schneekruste klatschend zu Boden fiel.

»Der Kapitän war gerade dabei, einen Eisberg zu beobachten, der auf uns zutreibt,« warf einer der Leute ein.

Ich fühlte, wie mir das Blut in den Adern erstarrte und atmete erst ein wenig erleichtert auf, als ein anderer Matrose seinem Kameraden tadelnd zurief:

»Was fällt Dir ein, die Damen zu erschrecken, Jim! Der Eisblock tut dem Schiffe ja nichts.«

Die Leute machten sich an die Arbeit. Einige rollten den durchnäßten Teppich zusammen, andere deckten den Tisch, holten Schiffszwieback und Marmelade aus der Speisekammer, schnitten den Schinken in Scheiben und brieten ihn über dem Ofenfeuer.

Ihre ruhigen, sorglosen Bewegungen verrieten nichts von der furchtbaren Gefahr, in der wir schwebten.

In verzweifelter Angst hingen unterdessen Mrs. Burkes Augen an der Kajütentreppe. Endlich sprang sie auf und rief:

»Warum kommt mein Mann nicht! Ich kann's nicht mehr aushalten ... Er wird über Bord gespült werden oder erfrieren! Will keiner ihn holen gehn?«

Augenblicklich ging der Bootsmann an Deck. Nach fünf Minuten kehrte er mit dem Kapitän zurück, der geistesabwesend auf den Ofen zuschritt, um sich die erstarrten Hände zu wärmen, und mit heiserer, ganz veränderter Stimme zu den Matrosen sagte:

»Laßt euch nicht stören, Jungens, ihr habt heute einen schweren Tag.«

Mrs. Burke beschwor ihn flehentlich, nicht wieder an Deck zu gehen, doch ein Blick in sein verstörtes Gesicht ließ sie verstummen.

Noch nie hatte ich in einem Raume größere Gegensätze vereint gesehen als hier. Die behagliche Ausstattung der Kajüte bildete einen schneidenden Kontrast zu den schweren Stiefeln und dem triefenden Oelzeug der Matrosen, in deren plumpen Fäusten sich das blinkende Silbergerät seltsam genug ausnahm.

Wie ein Alp aber senkte es sich mir auf die Brust, wenn ich mir ausmalte, wie es an Deck aussehen mochte. Schneewehen und Eiszapfen in jeder Ecke, das Steuerrad zertrümmert, von den Masten nur noch klägliche Stümpfe vorhanden – ringsum tiefe Finsternis, heulender Sturm und schäumende Wellen, und vor dem Bugspriet wie ein bleiches Gespenst der Eisberg – – –

»Eßt tüchtig, Jungens,« sagte der Kapitän, »vor Tagesanbruch können wir nichts anfangen. Vier von euch hat die See ohnehin schon geschluckt ...« er brach ab und seufzte tief auf. »Was meint Ihr, Wall,« fuhr er dann, zu dem Bootsmann gewendet, fort, »wäre die Lady Emma wieder in die Höhe gekommen, wenn wir den Großmast nicht gekappt hätten?«

Der Bootsmann spuckte bedächtig sein Priemchen aus: »Nein, Kapitän, wir wären gekentert.«

Die Matrosen murmelten zustimmend.

»Na, Leute,« sagte der Kapitän, »morgen müssen wir einen Notmast errichten und dann nordwärts steuern, bis wir wieder in belebteres Fahrwasser kommen. Vielleicht treffen wir ein Schiff, das uns ins Schlepptau nimmt.«

Die Leute erwiderten nichts. Ihr Schweigen bedrückte und beunruhigte mich. Aber ich freute mich über die klaren und zielbewußten Anordnungen des Kapitäns, der nicht mehr so verstört schien.

Als die Matrosen gegessen hatten, wollten sie die Kajüte verlassen, aber der Kapitän erlaubte ihnen, die Nacht über hier zu bleiben.

Mich forderte Mr. Burke auf, meine Kabine aufzusuchen und zu Bett zu gehen.

»Wirst Du denn heute zu Bett gehen?« fragte seine Frau.

Er schüttelte den Kopf.

»Mir scheint, Du willst die ganze Nacht Ausguck halten. Du wirst erfrieren, während die Leute hier am warmen Ofen sitzen,« flüsterte sie ihm zitternd zu.

Ein finsterer, verzweifelter Blick traf sie.

»Mach mich nicht rasend mit Deinem Lamentieren, Weib!«

»Darf ich hier bleiben?« fragte ich schüchtern.

»Wie, hier? Bei den Leuten, Miß?«

»Nein, meine arme Evy,« sagte Mrs. Burke, mir zärtlich die Wangen streichelnd. »Hier können Sie nicht bleiben!«

»In meiner Kabine ängstige ich mich zu Tode,« rief ich in Tränen ausbrechend. »Was soll ich anfangen, wenn das Schiff auf einen Eisberg aufläuft?«

»Wenn es erst dazu kommt,« fuhr der Kapitän auf, »so ists wahrhaftig gleichgültig, ob Sie in Ihrer Kabine oder hier, oder an Deck sind.«

Mit ruhigerer Stimme bemühte er sich dann, den niederschmetternden Eindruck seiner Worte zu verwischen, doch ich schluchzte mit abgewandtem Gesicht leise vor mich hin und achtete nicht auf sein Zureden.

Mit sanfter Gewalt führte Mrs. Burke mich schließlich in meine Kabine, drückte mich auf mein Lager nieder und hüllte mich in eine Unzahl von Kissen und Decken. Dann küßte sie mich zärtlich ...

*

Ich habe noch manche entsetzliche Nacht auf dem Wrack zugebracht. Doch keine schien mir so fürchterlich wie diese erste. Das Gurgeln und Klatschen der Wassermassen an den Wänden meiner Kabine verschlang jeden Ton, der aus der Kajüte zu mir herüberklingen konnte. Wie sehnte ich mich nach dem Laut einer Menschenstimme! Doch nur das Heulen des Sturmes und das Rauschen der Wellen schlugen an mein Ohr, und mit nimmermüder Geschäftigkeit malte meine überreizte Phantasie sich alle Schrecknisse eines Schiffsbruches aus, der dem hilflos treibenden Wrack durch solch einen schwimmenden Eisriesen jeden Augenblick drohen konnte.

Zweimal kam Mrs. Burke zu mir herein, um mir Mut zuzusprechen. Nach ihrer Versicherung war unsere augenblickliche Lage nicht ganz so hoffnungslos, wie es anfänglich den Anschein gehabt hatte. Die Pumpen waren in Ordnung, das Schiff wies kein Leck auf, und die Gewalt des Sturmes schien sich zu legen. Auch durch Eisberge waren wir nach Kapitän Burkes Ansicht zurzeit nicht gefährdet, denn obwohl es noch immer stockdunkel war, so konnten erfahrene Seeleute aus der Temperatur doch darauf schließen, daß sich keine größeren Eismassen in der Nähe befanden.

Endlich verlangte die mißhandelte Natur auch bei mir ihr Recht und ich fiel in den bleiernen Schlaf der Erschöpfung, aus dem erst der helle Mittag mich weckte. Ein Blick aus dem Kabinenfenster zeigte mir eine noch immer wild bewegte, aber völlig eisfreie und nicht mehr vom Sturm gepeitschte Wasserfläche. In meiner Waschschüssel lag ein solider Eisklumpen. Dennoch erschien mir die Kälte lange nicht so durchdringend und schneidend wie gestern. Ich schälte mich aus meinen zahllosen Decken und Hüllen und tastete mich, um bei den starken Schwankungen des Schiffes das Gleichgewicht nicht zu verlieren, vorsichtig an den Wänden entlang bis zur Tür.

In der Kajüte fand ich Mrs. Burke, die mir sofort entgegeneilte, um mich an den Frühstückstisch zu führen, der mit Schinken, kaltem Fleisch und allerlei Konserven gedeckt war; auf dem Ofen stand eine Kanne Kaffee.

»Wo sind die Leute?«

»An Deck,« antwortete Mrs. Burke, »sie versuchen einen Notmast aufzurichten. Der Kapitän hofft das Schiff dadurch halten zu können, bis ein vorbeisegelndes Fahrzeug uns Hilfe bringt. Einige von den Leuten freilich meinen, mit der Lady Emma sei nichts mehr anzufangen, und halten es für besser, mit dem großen Boot das Schiff zu verlassen.«

»Ist das Schiff denn ganz und gar entmastet?«

»Ja, es ist fürchterlich zugerichtet. Doch nun langen Sie zu, Miß Eveline und ängstigen Sie sich nicht. Augenblicklich droht uns keine Gefahr, denn das Wetter ist trotz dieses entsetzlichen Rollens ziemlich ruhig, und das Schiff hat kein Leck erhalten.«

Während ihrer letzten Worte hatte auch Mr. Owen die Kajüte betreten. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen trübe und blutunterlaufen. Sein Haar schien von den Aufregungen dieser furchtbaren Nacht gebleicht. Er begrüßte mich und setzte sich schweigend an den Tisch. Augenscheinlich hatte er bereits gefrühstückt, mußte also mit Mrs. Burke und ihrem Gatten schon zusammengetroffen sein.

Aus seinem niedergeschlagenen und gedrückten Wesen schloß ich, daß der Kapitän ihn zur Rede gestellt haben müsse, und da Mr. Owen mir während der langen Fahrt manche Freundlichkeit erwiesen hatte, so tat er mir trotz seines unrühmlichen Betragens von Herzen leid. Ich bot ihm freundlich guten Morgen und fragte ihn, ob er schon an Deck gewesen sei.

Mein Entgegenkommen ermutigte ihn sichtlich: er erhob sich, ging einige Schritte auf mich zu und sagte:

»Ich schulde Ihnen eine Erklärung für mein gestriges Benehmen. Bitte, beurteilen Sie mich milde – nicht unmännliche Feigheit war der Grund, daß ich mich so vergaß, sondern vielmehr das dringende Bedürfnis nach belebender Wärme. Können Sie mir verzeihen?«

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Mr. Owen,« erwiderte ich. »Außerdem ist unsere Lage jetzt auch wohl viel zu ernst, um über dergleichen Dinge zu rechten.«

»Der Kapitän hat mich abgekanzelt wie einen Schuljungen,« fuhr Owen – zu Mrs. Burke gewendet – fort. »Ich bin aber weder Schiffsoffizier noch Matrose, sondern lediglich Passagier und beanspruche daher auch alle Rechte eines solchen.«

»Auch den Passagieren ist der Mißbrauch geistiger Getränke untersagt,« erwiderte Mrs. Burke. »Kein Kapitän duldet übermäßiges Trinken an Bord, namentlich in solcher Gefahr wie gestern abend.«

Um der unerquicklichen Auseinandersetzung ein Ende zu machen, äußerte ich den Wunsch, an Deck zu gehen, was Mrs. Burke mir aber auszureden versuchte.

»Die Schwankungen des Schiffes sind so heftig, daß Sie auf den glatten Decksplanken leicht ausgleiten können,« sagte sie; ich merkte aber, daß ihr in Wirklichkeit nur vor dem entmutigenden Eindruck bange war, den die Verwüstung oben auf uns ausüben mußte. Ich erklärte, allein zu gehen, wenn sie unten bleiben wolle, worauf sie sich seufzend entschloß, mich zu begleiten.

Eng aneinander geklammert und mit der freien Hand uns vorsichtig stützend und festhaltend, krochen wir Stufe für Stufe die Kajütenstiege empor, bis wir vom Treppenhals aus das Deck übersehen konnten.

Unwillkürlich stieß ich einen Schrei des Entsetzens aus. So schlimm hatte ich mir die Wirkungen des Sturmes doch nicht vorgestellt. Ein paar zersplitterte, mit Eis und Reif überzogene Holzstümpfe waren die einzigen Ueberbleibsel der beiden hinteren Masten. Nur vom Fockmast standen noch etwa fünfzehn Fuß. An der Steuerbordseite wies die Reeling klaffende Lücken auf, und jede Sturzsee, die sich über das Deck ergoß, schwemmte einen Teil des umherliegenden Tauwerks über Bord. Auf dem Achterdeck pendelte der Kiel einer zerstörten Pinasse zwischen den Davits hin und her. Das große Langboot war noch fest vertaut und unversehrt, aber von den übrigen Booten war überhaupt keine Spur mehr zu sehen. Der Klüverbaum fehlte, und die Kombüse war zum größten Teil fortgerissen. All das zersplitterte Trümmerwerk trug einen glitzernden, in sattem Stahlblau schimmernden Eispanzer.

Ein fahler, gelber Dunst lag über der weiten, schwer wogenden Wasserwüste: nur fern am Horizont glänzte eine schmale, senkrechte Fläche in bläulichem Weiß. Noch vor wenigen Tagen hätte ich sie für ein nahendes Segel gehalten, jetzt aber wußte ich – jene magisch leuchtende Masse war kein rettendes Schiff, sondern verderbendrohendes Eis.


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