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Zehntes Kapitel.
Das Wrack.

Im dichten Schneegestöber trieb das Boot dahin. Von Minute zu Minute wurde die furchtbare Kälte unerträglicher – mir war, als erstarre mir das Mark in den Knochen. Ich zog den Oelrock meines unglücklichen toten Kameraden an, um wenigstens etwas mehr Schutz zu haben. Dann schöpfte ich mit unendlicher Mühe – meine Glieder waren fast bewegungsunfähig – stundenlang das immer neu eindringende Wasser aus dem Boot.

Es schneite ununterbrochen bis zum Abend. Erst mit Anbruch der Dunkelheit klärte das Wetter sich ein wenig auf, so daß ich auf einige Entfernung hin die See überblicken konnte. Aber so angestrengt ich auch spähte und in die Finsternis starrte, es war weit und breit keine Spur von dem Schiffe zu entdecken. In Verzweiflung warf ich mich endlich wieder auf die Ruderbank hin, dumpf vor mich hinbrütend ...

Jahre und Jahre lang schien mir die Nacht zu dauern. Nach unbeschreiblichen Qualen sah ich endlich den Morgen dämmern. Meine Glieder waren jeder Bewegung unfähig; nur noch mechanisch folgte mein Körper den Schwankungen des Bootes. Ich hatte das Gefühl, als sei ich von Glas und müsse bei jeder rauhen Berührung zersplittern.

Gespenstisch blickte das Antlitz des Toten zu mir auf. Um seinen Körper gurgelte und spritzte das einleckende Wasser, gefror allmählich zu Eis und spießte die Leiche wie mit kristallenen Nägeln an den Boden des Bootes. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen und versuchte, den Toten über Bord zu werfen. Aber meine Arme waren kraftlos und wie gelähmt. So gab ich es denn auf.

Da plötzlich – ich schrie gellend auf. Als eine Welle das Boot hoch emporschleuderte, hatte ich, gerade voraus in unbestimmten Umrissen einen dunklen Schatten gesehen, der sich regelmäßig hob und senkte. Mit brennenden Augen starrte ich hin. Immer bestimmter tauchten die plumpen Formen des rätselhaften Gegenstandes aus den Fluten empor, und jetzt erkannte ich mit einem Freudenschrei – der ungefüge Körper, der mir dort langsam und schwerfällig entgegenschwankte, war kein Trugbild, sondern – ein Schiff – ein Wrack ... das von uns so lange vergeblich gesuchte Wrack der Lady Emma!

Die Gewißheit durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag und verlieh meinen Gliedern plötzlich Bewegungsfähigkeit und ungeahnte Kräfte. Was ich vorhin vergeblich versucht hatte, das gelang mir jetzt mit Leichtigkeit: ich konnte mit starkem Schwunge den schweren Körper meines toten Gefährten über Bord schleudern und die beiden festgefrorenen Reserveruder unter den Bänken losmachen.

Eine schwere Welle warf mich beinahe über Bord, als ich aufrecht dastand und versuchte, die schweren Ruder einzusetzen; mehrere Male war das Boot nahe am Kentern. Endlich gelang es mir, das harte Eis von den Ruderpflöcken wegzustoßen, und mit der Kraft der Verzweiflung ruderte ich vorwärts. Immer näher kam ich dem Wrack. Nun war ich in nächster Nähe. Ich riß mir die Oelkleider vom Leib, um im Notfall schwimmen zu können.

Da – mein Boot prallte mit dumpfem Krach gegen den Bug der Lady Emma an. Blitzschnell schlang ich meine Fangleine um die Ankerkette und schwang mich mit einem gewaltigen Satz an Deck. Unmittelbar darauf stieg das Wrack mit jähem Ruck wieder aus den Fluten empor, und ich rollte mit solcher Geschwindigkeit über die glattgefrorenen Deckplanken, daß ich unfehlbar den Hals gebrochen hätte oder auf der anderen Seite des Schiffes durch die Lücken der Reeling wieder ins Wasser gestürzt wäre, wenn nicht im letzten Augenblick der zersplitterte Maststumpf mir einen Halt geboten hätte. Auf allen Vieren kroch ich vorsichtig weiter.

Ich war halb wahnsinnig vor Hunger, Durst und Kälte und dachte nur an ein warmes Eckchen, einen Bissen Brot und einen heißen Trunk. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Die Kajütentür war geschlossen und fest eingefroren – sie mußte längere Zeit nicht geöffnet worden sein. Mit meinem Taschenmesser löste und kratzte ich das Eis aus den Fugen, öffnete den Eingang und stieg die Treppe hinab, nachdem ich die Tür hinter mir wieder angelehnt hatte.

Nach der schneidenden Kälte draußen und dem eintönigen Rauschen der Wellen an den Bootswänden durchströmte die verhältnismäßige Wärme und Stille hier unten mich mit unnennbarem Wohlgefühl. In der Kajüte herrschte unbestimmte Dämmerung, denn auf der Lichtöffnung an der Decke lastete eine dicke Schneeschicht. Als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte ich, daß ich mich in einer kleinen, behaglich eingerichteten Wohnkabine befand.

In einem Holzgestell, das den Besanmast umschloß, bemerkte ich einige Weinkaraffen. Sofort setzte ich eine an die Lippen und löschte meinen Durst in vollen Zügen, ohne daß meine ausgedörrte Zunge zu unterscheiden vermochte, was ich eigentlich trank. Dann sah ich mich nach etwas Eßbarem um und fand nach kurzem Suchen die Speisekammer, die mit Käse, Schiffszwieback, Fleischkonserven und Marmeladen reichlich versehen war. Mit Wolfshunger fiel ich über die Vorräte her und unterbrach mich beim Kauen und Schlingen nur, um die zweite Weinkaraffe zu leeren.

Als ich gegessen und getrunken hatte, fühlte ich mich wunderbar erfrischt und gekräftigt. Nun brauchte ich noch trockene Kleider, nach denen ich sofort auf die Suche ging. Die Totenstille um mich her, in die als einziger Laut das gedämpfte Rauschen der See klang, machte mich ganz sicher in der Annahme, daß die drei auf der Lady Emma Zurückgebliebenen wohl schon von einem vorüberfahrenden Schiffe gerettet sein mußten. Auch die Schlafkabine, in die ich beim Durchsuchen meiner Umgebung zunächst geriet, war leer. Einige nautische Instrumente auf dem Tische, sowie die beiden Kojen und eine Anzahl an Pflöcken hängender männlicher und weiblicher Kleidungsstücke verrieten mir, daß diese Kabine dem Kapitän und seiner Frau gehört haben mußte.

Aus dem Wäsche- und Kleidervorrat wählte ich mir nun aus, was ich brauchte.

Kaum war ich trocken und warm angezogen, als mich eine unwiderstehliche Müdigkeit überfiel. Ich hätte auf der Stelle umsinken und einschlafen mögen, wenn mein Verstand mir nicht gesagt hätte, daß es absolut notwendig sei, mich erst von dem Zustande des Schiffes zu überzeugen, ehe ich mir Ruhe gönnte.

Der Gedanke, ich könnte aus meinem Schlummer in einem sinkenden Wrack und einer halb mit Wasser gefüllten Kajüte erwachen, ließ mir das Blut in den Adern erstarren, und mit energischem Ruck die lähmende Schlaftrunkenheit abschüttelnd, stieg ich wieder an Deck, um mich oben genauer umzusehen.

Fern auf den Wellen trieb schon das Boot, das mich hierhergetragen; doch nur einen flüchtigen Blick schenkte ich der Stätte meiner kaum überstandenen Leiden und Qualen. Meine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Lady Emma.

Vorsichtig vermied ich die stark beschädigte Steuerbordseite der Reeling mit ihren klaffenden Spalten und gähnenden Lücken, durch die ich bei dem geringsten Fehltritt wieder in die eisige Flut stürzen konnte, und tastete mich an der noch unversehrten Hälfte der Schanzkleidung entlang bis zum Vorderdeck. Auch dies bot ein Bild der Zerstörung und Verwüstung. Die Pumpen waren eingefroren, die Boote fortgerissen und der Großmast und der Besanmast wegrasiert. Nur vom Fockmast stand noch ein zwölf Fuß hoher Stumpf. Aber die Steuervorrichtung schien in Ordnung, und die Kombüse war leidlich gut erhalten. Als Seemann fühlte ich zudem an den elastischen Bewegungen der Lady Emma, daß der Wasserstand im Schiffsraum keine besorgniserregende Höhe erreicht haben könne, und beruhigt durch diese Wahrnehmung setzte ich meinen Rundgang fort.

Als ich jedoch durch die halb offene Kombüsentür einen Blick in den dahinter liegenden Raum warf, fuhr ich erschrocken zurück, denn dort auf dem Fußboden lag, lang ausgestreckt, der Leichnam einer Frau.

Die Tote war einfach gekleidet und schien etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt. Sie hatte ein breites, gewöhnliches Gesicht und eine starke, behäbige Figur. Höchst wahrscheinlich war sie die Frau des Kapitäns; wo aber war er und wo die junge Dame, die außerdem noch auf der Lady Emma weilen sollte? Lagen sie auch erfroren in anderen Teilen des Schiffes?

So schnell ich konnte, eilte ich zum Vorderkastell und rief hinunter. Doch kein Laut antwortete mir. Rasch stieg ich hinab und sah mich um. Ein paar Hängematten, Korkwesten und andere seemännische Habseligkeiten lagen umher oder schwammen in dem leise plätschernden Wasser, das in unbedeutender Höhe den Fußboden bedeckte und wahrscheinlich von oben durch die offene Luke in den Schiffsraum gedrungen war; ich schloß daher die Falltür, als ich das Vorderkastell wieder verließ. Nachdem ich noch einen vergeblich forschenden Blick über die See gesandt hatte, suchte ich das Achterdeck und die Kajüte wieder auf, denn der Wind blies eisig und durchschauerte mich bis ins Mark. Jetzt widerstand ich auch dem immer stärker werdenden Schlafbedürfnis nicht länger; erschöpft streckte ich mich auf ein gepolstertes Ruhebett und war nach einer Minute fest eingeschlafen.

Als ich wieder die Augen aufschlug, hatte ich die bestimmte Empfindung, daß ich nicht allein sei. Rasch richtete ich mich auf und blickte gerade in das Gesicht eines jungen Mädchens, dessen Blicke mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf mir ruhten.

Ich starrte sie an.

»Sind Sie – sind Sie – die junge Dame?« stammelte ich.

Da sank sie auf die Knie nieder und sagte schluchzend:

»Gerettet! Ich bin ganz allein hier! Tagelang bin ich schon allein! Wo ist Ihr Schiff? Wo sind Ihre Kameraden? Bringen Sie mich an Deck und auf Ihr Schiff ...«

Der Ton unbeschreiblicher Todesangst, der in ihrer Stimme zitterte, griff mir ans Herz. Ich hob die noch immer vor mir Kniende auf und drückte sie auf das Ruhebett neben mir.

»Wo ist der Kapitän?« fragte ich.

»Ertrunken.«

»Wann?«

»Schon vor langer Zeit! Vor sieben oder acht Tagen vielleicht. Ich habe jedes Zeitbewußtsein verloren, seitdem ich hier allein bin. Aber warum gehen wir nicht an Deck? Geht die See so hoch, daß Ihr Boot das Wrack nicht verlassen kann?«

»Mein liebes, armes Fräulein,« erwiderte ich mit einem vergeblichen Versuch, in dem trüben Licht und unter der dichten Vermummung von Schals und Tüchern ihre Gesichtszüge deutlich zu erkennen, »wenn ich mit Ihnen das Wrack verlassen könnte, ich täte es sofort, aber ich bin ein ebenso hilflos Verschlagener wie Sie. Wir brauchen aber nicht zu verzweifeln. Ich hoffe uns beide zu retten. Das Schiff ist stark und seetüchtig und vermag den Wellen noch lange Zeit Widerstand zu leisten. Wer ist die Tote in der Kombüse?«

»Die Frau des Kapitäns.«

»Woran ist sie gestorben?«

»Sie wollte ihrem Manne helfen, eine Laterne am Bugspriet zu befestigen. Er glitt dabei aus und fiel über Bord. Als ich an Deck kam, um die Beiden zu suchen, fand ich Mrs. Burke mit gebrochenem Bein am Boden liegen. Sie konnte sich nicht rühren, und ich war zu schwach, sie in die Kajüte zu schaffen; es gelang mir nur, sie bis in die Kombüse zu schleppen, damit sie wenigstens nicht unter freiem Himmel liegen blieb. Die ganze Nacht wich ich nicht von ihrer Seite und rief unaufhörlich ihren Namen, doch sie hörte mich nicht und verschied, ohne daß ich ihr helfen konnte. Als ich sah, daß sie ausgelitten hatte, kroch ich in die Kajüte und bin seitdem nur dreimal an Deck gewesen, um nach einem Schiff auszuspähen. Doch es schneite ununterbrochen, und ich sah nichts als wirbelnde Flocken. Es war zum Wahnsinnigwerden ...«

In tiefem Mitleid blickte ich sie an. Es schien mir ein Wunder, daß dieses zarte junge Weib in der fürchterlichen tagelangen Einsamkeit auf dem treibenden Wrack, in der schneidenden Kälte und der endlosen, nur von kargen Zwielichtstunden unterbrochenen Finsternis der Polarnacht nicht wirklich den Verstand verloren hatte.

»Sie haben wenigstens nicht hungern müssen?« fragte ich.

Sie deutete auf die Speisekammer. »Wenn es Tag wurde, holte ich mir von dort etwas zu essen und zu trinken und nahm auch einen kleinen Vorrat mit in meine Kabine. Aber wo ist Ihr Schiff? Wo sind Ihre Kameraden? Lassen Sie uns doch an Deck gehen, damit ich Ihr Boot und Ihre Leute sehe.«

Die Aermste hatte noch nicht verstanden! Ich durfte sie nicht mehr länger in Ungewißheit lassen. Rasch erzählte ich ihr meine Leidensgeschichte, von der Aufnahme der Schiffbrüchigen an Bord des Planter bis zu dem Augenblick, als sie mich hier in der Kajüte schlafend fand. Sie lauschte schweigend und schien den Sinn meiner Worte nur langsam zu fassen; als sie aber endlich begriff, daß ich nicht als der rettende Engel gekommen war, für den sie mich gehalten hatte, schlug sie mit markerschütterndem Aufschrei die Hände vors Gesicht und brach in unaufhaltsames Schluchzen aus.


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