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Zweites Kapitel.
Die Lady Emma.

Am 31. März fuhren wir nach London, in trübem, regnerischem Wetter.

So trüb, so grau, so trostlos wie die regenverschleierten Wiesen und Felder aussahen, war mir zumute. Ich tat wenig anderes während der vierstündigen Eisenbahnfahrt als zum Fenster hinauszustarren und vor mich hinzuweinen, so fürchtete ich mich vor der Seereise und so unerträglich war mir der Gedanke, von Archibald getrennt zu werden. Von unserem kurzen Aufenthalt in dem Londoner Hotel mit seinem Einerlei und seinen vielen gleichgültigen Menschen ist wenig zu berichten. Mr. Moore hatte uns vom Bahnhof abgeholt, und während der zwei Tage unseres Londoner Aufenthalts waren wir ständig beisammen. Sein Vater und seine Schwester besuchten uns, um Abschied zu nehmen; Freunde und Bekannte kamen. Wir dagegen machten keine Besuche und verließen das Hotel kaum, weil ich mich körperlich und geistig allzu elend fühlte.

Der 2. April war der für die Ausreise der Lady Emma festgesetzte Tag. Vormittags kamen wir mit der Bahn in Gravesend an und gingen noch auf einige Stunden in ein Hotel. Das Gepäck wurde sofort zum Segelschiffdock gebracht. Mr. Moore und mich ließ mein Vater in dem behaglichen Wohnzimmerchen des kleinen Hotels ganz allein. Wir saßen am Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasselte, und sprachen wenig, denn Archibald wurde der Abschied so schwer wie mir.

Da trat mein Vater ein, begleitet von einem Herrn, den ich nicht kannte.

»Liebe Eveline,« sagte er, »dies ist Herr Dr. Owen, von dem ich Dir erzählte – Herr Dr. Owen – Mr. Moore, der Bräutigam meiner Tochter.«

Allgemeines Händeschütteln ...

Ich muß gestehen, daß ich dieser Bekanntschaft mit großer Neugier und auch mit leisem Zagen entgegengesehen hatte. Denn abgesehen davon, daß Dr. Owen doch auf lange Zeit mein ärztlicher Berater sein sollte, mußte ich mir auch sagen, daß ich an Bord der Lady Emma meistens auf seine Gesellschaft angewiesen sein würde. Ich hatte ihn mir als einen hohen, schlanken Mann mit gelblichem Antlitz vorgestellt, in das die Trauer um den Verlust seiner Lieben tiefe Furchen gegraben hätte. Daher fühlte ich mich sehr angenehm enttäuscht, als statt jener traurigen Gestalt meiner Phantasie eine kleine, dicke Kugel auf ein paar kurzen, aber ebenfalls recht wohlgenährten Beinchen sich uns als Dr. Owen vorstellte. Trotz des geistlichen Schnittes seines schwarzen Anzuges machte dieser Jünger Aeskulaps zuerst einen unbestreitbar komischen Eindruck, den eine mächtige, zu dem feisten Gesicht gar nicht passende Hakennase und zwei struppige, über jedem der großen, abstehenden Ohren emporragende Haarbüschel nicht verringerten. Sonst war sein Kopf kahl und blank wie eine Billardkugel.

Mein Vater lud ihn zu unserm Gabelfrühstück ein. Später untersuchte Dr. Owen mich sorgfältig, fühlte mir den Puls, richtete eine Menge Fragen an mich und erklärte meinem Vater schließlich mit großer Würde und Wichtigkeit:

»Beruhigen und trösten Sie sich über die zeitweise Trennung von Ihrer Tochter, Sir Mortimer; denn ich hoffe, daß die lange Seereise ihr die volle Gesundheit zurückgibt. In meiner Praxis sind mir schon mehrere Fälle gleicher Art vorgekommen, die durch monatelangen Aufenthalt an Bord eines auf weiter Fahrt befindlichen Schiffes vollständig geheilt wurden.«

Bei den Worten des Arztes hellte sich meines Vaters Gesicht auf. Archibald drückte kräftig Herrn Owens Hand und bat ihn, sich meiner unterwegs ganz besonders anzunehmen. Der Schiffsarzt versprach es.

»Ich werde Ihnen Ihre Braut frisch und gesund wiederbringen,« lächelte er. »Die See tut Wunder, Mr. Moore!«

Kurzum, als der Arzt sich verabschiedet hatte, und wir unsere Ansichten über ihn austauschten, stellte es sich heraus, daß er auf uns alle den besten Eindruck gemacht hatte.

»Alles in allem genommen,« sagte mein Vater aufatmend, »glaube ich jetzt, daß unsere Wahl der Lady Emma wirklich eine ganz ausgezeichnete gewesen ist. Die gute Mary wird für Eveline sorgen als wäre sie ihr eigenes Kind. Dr. Owen ist zweifellos ein guter Arzt und er scheint auch ein liebenswürdiger Mensch zu sein. Er weiß wohl auch, daß ich ihm nicht nur mit Worten danken werde, wenn er mir meine Tochter gesund zurückbringt. Kapitän Burke hat mir immer besser gefallen, je mehr ich mit ihm zusammen gewesen bin; ein ehrlicher Mann und einer, der offenbar seinen Beruf von Grund aus versteht. Alle Arrangements, die wir getroffen haben, sind gut und richtig, und ich bin fast ganz beruhigt. Mehr konnten wir nicht tun, als wir getan haben. Du mußt Geduld haben, Eveline, die Monate werden rascher vergehen, als Du jetzt glaubst, und dann wirst Du wieder bei uns sein als ein gesundes Mädel, anstatt – – –«

Und er umarmte und küßte mich.

Dr. Owen war nicht lange fort, als meine gute Mary kam, die behäbige, rundliche Frau Mary, die sichs gar nicht anmerken ließ, wie stolz es sie immer wieder innerlich machte, daß aus dem armen Segelschiffmaaten, den sie geheiratet hatte, ein wohlbestallter Kapitän geworden war.

»Das ist ein trauriger Tag heute, Mrs. Burke,« sagte mein Vater. »Es geht ans Abschiednehmen ...«

Mary machte einen Knix. »Das müssen Sie nicht sagen, Sir Mortimer. Ein glücklicher Tag ist's! Heute fängt unsere kleine Eveline an, wieder ganz gesund zu werden!«

Kleine Eveline! Dabei war ich einen Kopf größer als sie! Unter Lachen und Weinen fiel sie mir um den Hals und führte mich ans Fenster.

»Dort liegt sie, Miß Eveline! Dort liegt unser Schiff, Ihre künftige Ozeanwohnung. Was sagen Sie zu unserer Lady Emma, Miß Eveline?«

Bald fand ich in dem Mastengewirr des Docks das Schiff heraus, das sie mir zeigte.

Es war, wie es in der mir später recht geläufig gewordenen Seemannssprache heißt, eine vollgetakelte hölzerne Bark – eiserne Schiffe waren damals noch sehr selten – von 700 Registertons. Der Schiffskörper war sauber schwarz gestrichen, und von dem neuen Kupferbeschlag ragte noch ein Streifen über die Wasserlinie hinauf, im Sonnenlichte hellglänzend wie ein Goldgürtel. Ihre Untermasten waren weiß, die Toppen und Raaen hellgelb gestrichen, in schöner Gesamtwirkung mit der natürlichen Holzfarbe der frisch geschrapten und geölten Stengen und Gaffeln. Die Raaen waren Vierkant gebraßt und zeigten so in ihrer ganzen Breite das schöne Verhältnis zu der Höhe der Masten. Und wenngleich das Schiff auch voll beladen war, hatten seine Bewegungen doch nichts Schwerfälliges. Im Gegenteil, selbst mir, die ich in nautischen Angelegenheiten vollständig unbewandert war, fiel im Vergleich mit andern in der Nähe verankerten Schiffen sofort die elegante Bauart und das vollendete Ebenmaß seiner Formen auf. Entfaltete die Lady Emma ihre gesamte Segelfläche, so mußte sie einem Albatroß, diesem Prototyp von Kraft, Schönheit und Schnelligkeit gleichen, wenn er mit weit gespreizten Schwingen in sausendem Fluge durch den blauen Aether dahinschießt.

»Wie gefällt sie Ihnen?« fragte Mary.

»Ein entzückendes Schiff!«

»Die Lady Emma macht auch bei günstigem Winde ihre dreihundertundzwölf Meilen in vierundzwanzig Stunden!« sagte Mary stolz. Wir mußten aufbrechen, denn um fünf Uhr wollte Kapitän Burke absegeln. Wir gingen langsam zum Pier, von wo uns ein Boot rasch längsseits der Lady Emma brachte. Hier empfingen uns Kapitän Burke und Dr. Owen bereits an der Fallreepstreppe. Der Kapitän streckte mir beide Hände entgegen:

»Willkommen, Miß Otway! Herzlich willkommen an Bord der Lady Emma!«

Ich betrachtete verwundert das Deck mit all den vielen, für mich vollständig neuen Geräten und Gegenständen, die mir später so vertraut werden sollten. Damals machte das Deck auf mich nur den Eindruck einer langgestreckten, hellen, an mehreren Stellen durch besondere Aufbauten unterbrochenen Fläche, die sich vom Bug bis zum Heckbord hinzog. Wie ich nach und nach erfuhr, war der vorderste Aufbau die Kombüse oder Schiffsküche, neben der ein großes Boot zum provisorischen Schafstall umgewandelt war, während sich darunter ein Schweinekoben befand, dessen Bewohner sich die größte Mühe gaben, das Blöken der Schafe zu überquieken. Nach der Mitte des Deckes zu befand sich eine große, viereckige, mit einem Ueberzuge von geteertem Segeltuch bedeckte Luke, und noch weiter nach dem Heck zu ein länglicher, mit dicken Glasscheiben und Messingstangen überdachter Aufbau, das Oberlicht, das den großen Kajütensalon erhellte. Dicht dahinter erhob sich eine Art von Schrank mit rundem Dach, nämlich die Kajütstreppe, die hinab zur Kajüte und zu den Kabinen für die Schiffsoffiziere und Passagiere führte. Ganz am Heck aber funkelte, mit seinen im Sonnenschein wie Gold glänzenden Messingbeschlägen das Steuerrad und dicht davor das Kompaßhaus mit dem Steuerkompaß.

Die andern plauderten noch am Fallreep. Mich forderte Mrs. Burke auf, mit ihr in die Kajüte hinabzugehen, um mir diese und die Kabine anzusehen, die für mich bestimmt und eingerichtet war.

Die Burkes hatten ihr Bestes getan, um die Kajüte so schmuck wie möglich auszustatten. An der einen Wand war ein Büchergestell mit einer kleinen aber gewählten Bibliothek befestigt, während unter dem Deckfenster zwischen Farnkrautampeln mehrere Goldfischgläser hin- und herpendelten. Hinter dem polierten Besanmaste stand zu meiner größten und freudigsten Ueberraschung in Gurtseilen befestigt ein Pianino, das ich – wie ich später erst erfuhr – der liebevollen Fürsorge Archibalds verdankte. Am mittelsten Decksbalken war in einem blitzenden, messingnen Doppelachsengestell die große Kajütenlampe derart befestigt, daß sie nach allen Richtungen frei schwingen konnte, also nie aus der wagerechten Lage kam. Darunter stand auf einem nagelneuen Teppich ein großer Ausziehtisch mit einer Plüschdecke, der sich aber während der Mahlzeiten in eine Speisetafel mit blitzendem Silber- und Glasgeschirr verwandelte. Auch einen kleinen, ganz neuen Ofen bemerkte ich im vorderen Teile der Kajüte, an die sich nach achtern zu ein schmaler Korridor anschloß, zu dessen beiden Seiten je vier Kojen lagen.

»Kommen Sie her, Miß Evy,« sagte Mrs. Burke zu mir und öffnete eine der weiß lackierten, mit Goldleisten verzierten Türen an der linken oder Backbordseite. »Sehen Sie sich jetzt einmal Ihr künftiges Boudoir an.«

»Oho,« rief mein Vater, der uns inzwischen mit den anderen Herren in die Kajüte gefolgt war, überrascht aus, »diese Kabine ist ja größer, als ich sie jemals an Bord eines der neueren Luxusdampfer für Dich hätte bekommen können!«

Der Kapitän hatte, um für mich eine geräumige und bequeme, kurzum eine förmliche Staatskabine zu schaffen, die Wand zwischen zwei nebeneinanderliegenden Kojen herausnehmen und so aus den beiden kleinen eine große herstellen lassen. Doch nicht genug damit, hatte meine herzensgute Mary sich die größte Mühe gegeben, die innere Ausstattung dieser Doppelkabine derjenigen meines Boudoirs möglichst getreu nachzubilden. Ich war so gerührt über diese Fürsorge, daß ich meine liebevolle zweite Mutter schluchzend umarmte.

Inzwischen war die Scheidestunde immer näher gerückt. Die Burkes gingen auf Deck und mein Vater und Dr. Owen begaben sich in die Kajüte. Archibald und ich waren allein.

Mir brach fast das Herz, als Archie mich wieder und immer wieder an seine Brust drückte, meine Lippen, Stirn und Augen mit Küssen bedeckte und mir immer wieder Liebesworte zuflüsterte.

Plötzlich erklang über uns der schrille, laute Ton der Schiffsglocke, sodaß wir erschreckt auseinanderfuhren, und in demselben Augenblick erschien Kapitän Burke mit seiner Frau wieder in der Kajüte, um meinem Vater und Archibald in größter Hast mitzuteilen, daß die Lady Emma soeben ihre Vertäuungen losgeworfen habe und der Schlepper sich sogleich in Bewegung setzen werde.

Mein Vater zog mich wortlos in seine Arme und küßte mich auf die Stirn.

Als mich danach aber Archibald noch einmal an sein Herz preßte, als ob er mich nie wieder freigeben wolle, schwanden mir die Sinne, und ohnmächtig sank ich um.


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