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Achtzehntes Kapitel.
Der Albatroß beginnt seine Reise.

Alle Vorbereitungen wickelten sich so glatt ab, daß wir am Abend des 26. Dezember segelfertig waren. Als wir uns einschifften, drängte sich eine große Menschenmenge am Kai. Trotz aller Zurückhaltung waren Einzelheiten unseres Unternehmens in die Oeffentlichkeit gedrungen; die Zeitungen hatten lange Artikel über die Rettungsexpedition gebracht, die der Albatroß unternehmen sollte, und ganz Buenos Aires erzählte sich die romantische Geschichte der jungen Engländerin und des Schiffsbruchs der Lady Emma.

Kapitän Cliffe und ich wurden am Kai von Hunderten von Menschen umringt, die ihre Taschentücher schwenkten und uns Glück auf den Weg wünschten. Damen stießen und drängten sich, um mich besser sehen zu können, Männer stritten sich über die Eisverhältnisse in den Orkneys und die Aussichten der Expedition. Als wir endlich in die kleine Jolle des Albatroß stiegen, die am Kai auf uns wartete, gab uns ein brausendes Hurra das Geleit.

In dem Augenblicke, als wir den Albatroß betraten, rief der pockennarbige Steuermann mit schallender Kommandostimme Befehle über Deck, und unter eintönigem Singsang begann das Ankerspill sich zu drehen. Kapitän Cliffe und ich schritten ungeduldig auf und ab.

»Sehen Sie,« sagte er, auf eine kleine Messingkanone deutend, die auf dem Quarterdeck stand, »diesen Lärmmacher habe ich erst heute an Deck schaffen lassen. Wir werden fortwährend Signalschüsse feuern, wenn wir im Bereiche der Krönungsinsel sind, damit unsere Schiffbrüchigen auf uns aufmerksam werden. Bei der furchtbaren Kälte da unten werden sie sich selten genug an Deck ihres Wracks aufhalten können, aber sobald sie unsere Schüsse hören, werden sie Feuersignale geben, die wir sehen können, wenn das Wrack auch noch so versteckt liegt.«

Neben der Kanone stand ein riesiger Mörser.

»Wozu brauchen wir den?«

»Auf die Idee bin ich stolz,« sagte der Kapitän. »Wenn das Wrack so zwischen Eismassen eingebettet sein sollte, daß es mit Booten nicht erreichbar ist, können wir mit diesem Mörser eine Leine an Bord schleudern und so eine Verbindung herstellen. An der Leine können wir dann Seile und Strickleitern auf das Wrack schaffen.«

»Gut!« rief ich aus.

Da meldete der Steuermann, der Albatroß sei segelfertig. Ein kurzes Kommando des Kapitäns – die Mannschaft enterte auf, die Segel wurden gesetzt und langsam glitt der Albatroß zum Hafen hinaus. Vielstimmige Rufe erschallten vom Kai ...

Zum erstenmal seit vielen Wochen kam Ruhe über mich, als ich die Schiffsbewegung unter meinen Füßen spürte. Das war mein Schiff! Ich war der Herr an Bord! Jeden Winkel der Orkneys wollte ich absuchen! Gewißheit wollte ich haben! Träumend starrte ich ins Meer hinaus ...

*

Als ich am nächsten Morgen an Deck kam, segelte der Albatroß in frischer Brise flott dahin, seitwärts geneigt, das schäumende Wasser mit scharfem Zischen durchschneidend.

»Guten Morgen, Kapitän,« rief ich. »Feines Segelwetter heute!«

»Besser könnten wir's uns nicht wünschen, Mr. Moore!«

»Wieviel Knoten machen wir?«

»Neun!« sagte er triumphierend. »Eine famose Leistung!«

Da rief der Schiffsjunge zum Frühstück. Es war meine erste Mahlzeit an Bord des Albatroß, und noch heute kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn ich mir Kapitän Cliffes zwerghaftes Figürchen hinter dem großen Eßtisch der Kajüte vorstelle.

Er mußte aufstehen, um die Zuckerdose auf dem Tisch erreichen zu können. Als er das verräterische Zucken meiner Mundwinkel bemerkte, begann er in gutmütiger Selbstironie die Mißhelligkeiten zu schildern, die er seiner Gnomengestalt zu verdanken hatte. Er war der Jüngste von zahlreichen Geschwistern, und seine Mutter, eine imposante Erscheinung, schien ihren eigenen stattlichen Wuchs nur ihren älteren Kindern vererbt zu haben, denn ihr Erstgeborener hatte die achtunggebietende Größe von sechs Fuß erreicht, während für Kapitän Cliffe nur ein paar Zoll übrig geblieben waren. So konnte es ihm passieren, daß man ihn bei einem offiziellen Festmahl, als ein Hoch auf die Königin ausgebracht wurde, entrüstet aufforderte, sich doch zu erheben, während er längst aufgestanden war!

Aber bald wandte sich unser Gespräch ernsteren Dingen zu. Kapitän Cliffe erzählte, daß er beim Anmustern der Mannschaft besonderes Glück gehabt habe. Vor allem der Bootsmann, ein erfahrener alter Walfischfänger, sei ein tüchtiger Seemann.

»Er sieht aber recht alt aus!« sagte ich.

»Er ist erst in den Vierzigern! Das harte Leben an Bord der Walfischfänger läßt die Leute äußerlich früh altern. Aber beweglich genug ist er. Denken Sie, der komische Kauz ist ein passionierter Springer. Ich sah ihn mit eigenen Augen mühelos mit elegantem Schlußsprung über ein Pferd hinwegsetzen! Wenn es zu einer gefährlichen Kletterpartie über das Eis kommt, dann, glaube ich, wird dieser Mann uns gute Dienste leisten. Vor allem aber hat er die Südpolarregionen auf Walfischfängern befahren. Er kennt namentlich die Gegend der Orkneys.«

»Lassen Sie ihn doch rufen,« bat ich. »Ich möchte ihn fragen, was er von unseren Aussichten denkt.«

Sofort schickte Cliffe den Schiffsjungen, der eben den Tisch abräumte, nach oben, und gleich darauf polterte Bootsmann Bodkin die Kajütenstiege herab. Er schien von irgend einer schweren Arbeit zu kommen, denn die Aermel seines derben Wollhemdes waren bis zum Ellenbogen aufgekrempelt, und auf der nackten Brust perlten helle Schweißtropfen.

»Ich habe diesem Herrn erzählt, daß Sie sieben Jahre Walfischfänger gewesen sind,« begann Kapitän Cliffe.

Der Bootsmann bejahte mit militärischem Gruß.

»Kennen Sie die Süd-Orkneys?«

»Jawohl, Sir, bin mehrmals dort gewesen.«

»Nehmen Sie Platz,« sagte ich. »Junge, gib Mr. Bodkin ein Glas Sherry. Wissen Sie, daß wir jetzt nach den Süd-Orkneys segeln?«

»Gewiß, ich hab' ja dorthin angemustert.«

»Ist Ihnen auch bekannt, was wir dort wollen?«

»Ein Wrack suchen, soviel ich weiß.«

»Jawohl, und zwar ein Wrack, auf dem sich drei Personen befinden.«

»Dann hoff' ich, daß wir sie nicht mehr finden.«

»Was?« fuhr Kapitän Cliffe zornig auf.

»Um ihrer selbst willen,« sagte Bodkin, das Glas Wein auf einen Zug leerend, »denn nich mal 'n Hund möcht' man dorthin wünschen. Ich bin dreimal dagewesen und kenn' die verfluchten Inseln ganz genau. Sie sind vor Eis kaum zu sehen, höchstens guckt hier und da mal 'ne schwarze Felsnase durch, wo das Eis keinen Halt dran fand.«

Ich konnte es kaum ertragen, ihn so sprechen zu hören.

»Ist eine Landung denn ganz unmöglich?« fragte ich mit zitternder Stimme.

»Das gerade nicht, zumal bei dieser Jahreszeit. Im Winter freilich – Donnerwetter, war das eine Kälte damals!«

»Ihr Schiff machte also gar keinen Landungsversuch?«

»Doch. Als ich das letzte Mal da war, setzten wir ein Boot aus; da es in der Brandung aber beinahe kenterte, kehrte es unverrichteter Sache wieder um.«

»Ist viel Eis in der Nähe der Inseln?«

»Ungeheuer viel. Den größten Eisberg, der mir überhaupt zu Gesicht gekommen ist, hab' ich da gesehen.«

»Ist wohl anzunehmen, daß ein Wrack, wenn es etwa dreißig bis vierzig Fuß über der Brandung auf einem Abhang gestrandet ist, sich monatelang dort halten kann?« fragte ich.

Bodkin kratzte sich bedenklich hinter den Ohren.

»Nee, das glaub' ich nicht,« sagte er kopfschüttelnd; »es würd' wohl bald zu Brei gequetscht werden.«

»Wodurch sollte es denn dort zerquetscht werden?« rief Kapitän Cliffe ärgerlich dazwischen.

»Durch die zusammenstoßenden Eisberge,« erwiderte der Bootsmann.

»Na, Ihre Weisheit scheint auch nicht weit her zu sein,« bemerkte Cliffe geringschätzig. »Wissen Sie denn nicht, daß zu dieser Jahreszeit die Eisberge sich von der Hauptmasse loslösen und nordwärts getrieben werden?«

Bodkin warf seinem Vorgesetzten einen unwilligen Blick zu.

»Ich denk', ich soll hier meine Meinung sagen,« entgegnete er; »und ich weiß ganz genau, daß die Eisberge sich nichts vorschreiben lassen und immer da auftauchen, wo man sie am wenigsten vermutet.«

»Aber das Wrack liegt ja auf einer Insel,« warf ich ein.

»Deswegen können die Eisberge es doch einschließen,« beharrte der Bootsmann, »und selbst wenn die ihm nichts tun, kann es von den abschmelzenden und losbröckelnden Eisklumpen, die von den Felsen 'runterstürzen, zerschmettert werden.«

»Sie geben mir also gar keine Hoffnung, daß wir das Wrack unversehrt und die Schiffbrüchigen noch lebend auffinden?«

Bodkin erhob sich und drehte unbeholfen seine Mütze in den Händen.

»Das will ich gerade nich sagen,« meinte er nach einer Weile. »Auf See ist ja alles möglich. Wenn nur die Unglückszahl nicht wär'.«

»Was für eine Unglückszahl?« fragte ich verständnislos.

»Wir sind dreizehn an Bord,« erwiderte Bodkin mit Nachdruck.

»Es ist gut, Bodkin,« sagte der Kapitän.

Mit einer linkischen Verbeugung trollte der Bootsmann sich hinaus. Meine hoffnungsvolle Laune war mit einem Schlag verschwunden. Der Mann kannte die Orkneys aus langer Erfahrung: wenn er so pessimistisch war, mußte er seine guten Gründe dafür haben. Noch einmal berechneten Kapitän Cliffe und ich alle Möglichkeiten. Der Kapitän blieb dabei, daß unsere Aussichten gut wären.

Ich aber sah schwarz. Ein Gefühl böser Ahnung war über mich gekommen. Nie in meinem Leben war ich abergläubisch gewesen. Jetzt aber waren durch dieses entsetzliche Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung meine Nerven derartig überreizt, daß eine wesenlose gleichgültige Zahl einen niederschmetternden Eindruck auf mich machen konnte. Die Dreizehn! Das böse Omen! Ich schämte mich meines Aberglaubens, aber ich konnte ihn nicht abschütteln. Ich erwog ernsthaft, Kapitän Cliffe zu bitten, irgend einen Hafen anzulaufen, um entweder noch einen Matrosen anzuheuern oder einen Mann der Besatzung zu entlassen, damit wir die Unglückszahl los wurden. Stundenlang brütete ich über dem Gedanken. Ich sah den allen Bootsmann mit seinem wetterzerfressenen Gesicht vor mir stehen, hörte wieder seine Beschreibung der furchtbaren Eiswüste, der vernichtenden Gewalt der Eisberge.

Den ganzen Tag hindurch dauerte meine gedrückte Stimmung an. Immer wieder überlegte ich mir, daß es das Vernünftigste war, zu hoffen, so lange noch Hoffnung bestand – immer wieder sagte ich mir, daß jeder Aberglaube Verrücktheit und Unsinn ist. Und dennoch konnte ich den dummen Gedanken an die Dreizehn nicht los werden ... Endlich ging ich wieder an Deck, kurz vor Sonnenuntergang. Als es anfing dunkel zu werden, sah ich zufällig auf das Vorderdeck hin, wo die Mannschaft plaudernd und rauchend beisammenstand. Ich sah, wie ein Matrose aus der zum Mannschaftslogis führenden Luke auftauchte und seine Kameraden sich sofort lachend und schwatzend um ihn drängten. Er hielt irgend etwas im Arm. Auch Kapitän Cliffe war aufmerksam geworden, und als die Leute immer lauter lachten, rief er ihnen gemütlich zu:

»Na, Jungens, was ist denn los?«

»Ein blinder Passagier,« antwortete der Bootsmann.

»Was?«

Der Bootsmann steckte irgend etwas in die Tasche und kam dann auf uns zu.

»Kapitän, da is 'was Lebendiges, das nich auf der Musterrolle steht!« Und grinsend zog er ein zappelndes winziges Kätzchen aus der Tasche hervor ...

»Die soll uns Glück bringen!« lachte er.

»Wo haben Sie denn das Luderchen gefunden?« fragte der Kapitän.

»In einer Hängematte im Logis.«

»Wer hat sie denn an Bord gebracht?«

»Niemand.«

»Da haben wir also einen richtigen blinden Passagier,« lachte der Kapitän und streichelte das Tierchen.

Triumphierend trug der Bootsmann das schwarze Klümpchen davon.

Kapitän Cliffe aber grinste über das ganze Gesicht, als er zu mir sagte:

»Na, Mr. Moore, wenn Sie schon unbedingt abergläubisch sein müssen, dann ist Ihnen ja jetzt geholfen. Die Katz' ist Nummer Vierzehn!«

Ich lachte verlegen.

»Ich glaub', ich alter Esel werde auch noch abergläubisch. Passen Sie auf, Mr. Moore, die zappelnde Nummer vierzehn bringt uns Glück. Wenn wir mit Ihrer geretteten Braut heimwärts segeln, müssen Sie das Tierchen mit nach England nehmen und dem kleinen Glücksbringer Zeit seines Erdenwandelns das Gnadenbrot gewähren ...«

Da wurden wir mit einem Male ernst und schüttelten uns die Hände.

»Lassen Sie die Ahnungen und die Befürchtungen und das Hangen und Bangen,« sagte der kleine Mann bedächtig. »Wir haben ein gutes Schiff und wir sind Männer. Wenn Ihre Braut noch zu retten ist, werden wir sie retten. Glück auf, Mr. Moore!«

»Glück auf!« sagte ich mit blitzenden Augen.


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