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Zwölftes Kapitel.
Schwere Stunden.

Noch immer jagte der Wind schwarze Wolkenfetzen über den Himmel, doch sprachen gewisse Anzeichen dafür, daß wir eine sternenklare Nacht bekommen würden. Beinahe übermütig tänzelte das Wrack über die rollenden Wogen. Nur ab und zu überflutete eine Sturzsee die Deckplanken. Und dann gefror der schäumende Gischt in der scharfen Kälte sofort zu Eis.

Als ich in die Kajüte zurückkehrte, fand ich Miß Otway zusammengekauert neben dem Ofen sitzen. Aengstlich fragte sie mich, ob Eis in der Nähe sei, was ich in beruhigendem Tone verneinte.

»Eis fürchte ich mehr als Sturm und Wellen,« fuhr sie fort. »Als ich zum erstenmal diese Kajüte betrat, durchrann mich ein unbeschreibliches Kältegefühl, obwohl das Wetter warm und sonnig war; an dieses verhängnisvolle Omen habe ich in den qualvollen Stunden der Verlassenheit fortwährend denken müssen. Am Tage vor jener Sturmnacht, die unser Schiff zum Wrack machte, sah ich auch mit eigenen Augen einen turmhohen Eisberg, und seitdem komme ich aus der Angst nicht mehr heraus. Wenn wir jetzt auf solch einen Eisberg gerieten, Mr. Selby!«

»Wozu immer an das Schlimmste denken!« erwiderte ich in leichtem Ton und erhob mich, um den Kessel aufs Feuer zu setzen. »Vorläufig haben wir nichts zu befürchten. Das Schiff ist heil, mit Lebensmitteln sind wir reichlich versehen – warum den Kopf hängen lassen? Kommt Zeit, kommt Rat! Braten Sie uns lieber ein Stück Speck zum Abendbrot, Miß Otway, ich werde den Tisch decken!«

Nach dem Abendessen holte ich das Loggbuch und einige Seekarten aus der Kabine des Kapitäns, um festzustellen, wo wir uns wohl ungefähr befinden könnten. Was ich aus den letzten Eintragungen und den Angaben der Karte schließen mußte, war niederschmetternd. Falls unser Wrack beständig südwärts getrieben worden war, woran ich kaum zweifelte, konnten wir uns höchstens fünfundzwanzig bis dreißig Meilen von den Südorkneyinseln befinden, und liefen Gefahr, an diesen öden, unwirtlichen Felsen, dem verlassensten Teil von Gottes Erdboden, elend zu scheitern.

Aber noch waren wir nicht so weit. Waren wir wirklich so weit südwärts getrieben? Konnte nicht schon der nächste Tag uns Rettung bringen? Konnte uns nicht ein Schiff begegnen? So räumte ich meine Bücher und Karten wieder fort und plauderte noch eine Weile mit Miß Otway. Ich erzählte ihr von meinem Leben, das sich seit meinem dreizehnten Jahre vierzehn Sommer und Winter hindurch auf den verschiedenartigsten Seefahrzeugen abgespielt hatte. Sie lauschte meinem Bericht mit großem Interesse, und ich hatte die Genugtuung, sie durch die Schilderung meiner Erlebnisse eine Weile von ihren trüben Gedanken abzulenken.

Als ich nach einem Rundgang an Deck in die Kajüte zurückkehrte, fiel mein Auge auf das wohlgefüllte Bücherbrett von dem die besten Namen der englischen Literatur herableuchteten. Unter anderen Romanen fand ich dort auch meinen lieben alten Peter Simpel, aus dem ich Miß Otway einige Stellen vorlas. Zu meiner großen Freude lachte sie mehrmals herzlich auf, und ich benutzte den günstigen Augenblick, um sie darauf aufmerksam zu machen, wie gut wir es hier in unserer behaglichen Kajüte hätten, und wie schrecklich dagegen die Leiden wirklicher Schiffbrüchiger wären.

»Hat man schon einmal von Menschen gehört, die durch einen Eisberg Schiffbruch gelitten haben und dennoch gerettet wurden?« fragte sie.

Ich bejahte und erzählte ihr Beispiele, von denen ich gehört hatte. Ein paar russische Seeleute waren auf einer Eisscholle treibend aufgefischt worden; ein vollzählig bemannter Walfischfänger war an einem Eisberg gestrandet und mit diesem in offenes Wasser getrieben, wo ein vorüberfahrender Segler die Mannschaft aus ihrem kalten Gefängnis befreite.

»Wie lange mußten sie auf dem Eisberg aushalten?«

»Mehrere Monate.«

»Hatten sie viel zu leiden?«

»Durchaus nicht,« log ich darauf los, um meine Gefährtin zu ermutigen. »Es fehlte ihnen weder an Holz noch an Lebensmitteln, sodaß Hunger und Frost ihnen nichts anhaben konnten. Die Langeweile verkürzten sie sich mit Rauchen, Singen und Schnitzarbeiten aus Walroßzähnen, wobei manch Garn gesponnen wurde und manch selbsterfundenes Spiel ihnen die bangen Gedanken verscheuchen half, bis die Rettung kam. Und so wollen wir's auch machen, Miß Otway, nur nicht den Kopf hängen lassen und den Mut verlieren! Wenn Sie erst wieder an Land sind, werden Sie sich wahrscheinlich selber wundern, warum Sie eigentlich so verzagt und mutlos waren.«

»Ja, wenn ich erst wieder an Land bin,« nickte sie mit trübem Lächeln. »Aber wissen Sie nicht, daß die Philosophie wohl über vergangene und zukünftige Leiden triumphiert, daß aber gegenwärtige Leiden über die Philosophie triumphieren?«

Da dies für meinen Verstand zu hoch war, ließ ich den Gegenstand fallen und begab mich wieder an Deck, um noch einen Kessel voll Eis zu holen. Nachtschwarze Finsternis, aus der unsere Signallaterne hell herausleuchtete, lag noch immer über der rollenden See, und ein scharfer Wind trieb das Wrack rasch vorwärts. Ich lehnte mich über die Steuerbordreeling und bohrte meine Augen mit verzweifelter Anstrengung in die Finsternis. Doch kein noch so geringes Anzeichen verriet die Nähe von Eis oder Land, und halb erfroren suchte ich endlich wieder die Kajüte auf, um uns vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Kaffee zu kochen.

Bald nach acht Uhr zog Miß Otway sich in ihre Kabine zurück. Ich beschloß, die Nacht in der Kajüte zuzubringen, holte mir aus der Kammer des Kapitäns noch ein paar warme Kleidungsstücke und streckte mich, eingemummt wie ein Eskimo, auf das Ruhebett. Eine große Ratte, die aus ihrem Loch nach dem Ofen huschte, wie um sich zu erwärmen, weckte mich aus meinem Halbschlummer. Geräuschlos richtete ich mich auf, zog mein Klappmesser, dessen Klinge haarscharf war, aus der Tasche und spaltete mit einem wohlgezielten Wurf dem Störenfried den Schädel.

Befriedigt warf ich das tote Tier in den Kohleneimer, um es am nächsten Tage zu beseitigen; es war mir, als hätte ich jetzt Miß Otway an den abscheulichen Geschöpfen gerächt, die durch ihren widerwärtigen Anblick dem armen Mädchen die Qual der Einsamkeit noch mehr verschärft hatten. Jedesmal, wenn ich mir die Leiden der Verlassenen ausmalte, überkam mich wieder das Gefühl staunender Bewunderung vor so viel Mut und Seelenstärke. Weit geringere Ursachen hatten schon oft kräftige Männer zum Selbstmord oder Wahnsinn getrieben; ein schwaches Weib aber, ein zartes und verwöhntes Kind des Reichtums, hatte jene entsetzliche Zeit überstanden, ohne an Geist und Körper Schaden zu erleiden.

Während ich meinen Gedanken nachhing, hörte ich mich plötzlich bei Namen rufen. Ueberrascht, fast entsetzt, blickte ich auf – vor mir stand Miß Otway, von Kopf bis Fuß in Pelze gehüllt.

»Gedenken Sie die ganze Nacht hier sitzen zu bleiben?« fragte sie.

»Ja,« gab ich zur Antwort, »nur ab und zu will ich ein wenig schlummern.«

»Lassen Sie mich dann wachen,« bat sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist vollständig überflüssig,« erwiderte ich. »Es gibt jetzt nichts zu wachen und auf nichts aufzupassen.«

»Kann nicht ein Schiff unser Licht sehen und sich uns nähern?«

»Bei diesem Wetter wäre vor Tagesanbruch jede Hilfeleistung ausgeschlossen.«

»Aber bedenken Sie doch nur, wenn ein vorübersegelndes Schiff uns anruft und keine Antwort bekommt, so versäumen wir vielleicht die einzige Rettungsgelegenheit.«

»Das kann uns auch passieren, wenn wir die ganze Nacht durchwachen, denn Wind und Wetter lassen den Schall eines Rufes nicht bis zu uns hinunter dringen. Um bei diesem Wetter die Annäherung eines Schiffes wahrzunehmen, müßten wir uns dauernd an Deck aufhalten, und das wäre sicherer Tod. Vertrauen Sie meiner Wachsamkeit, Miß Otway, und gehen Sie zu Bett. Sie haben tagelang nicht ordentlich geschlafen und müssen Kräfte sammeln, um dieses Wrack verlassen und gesund zu den Ihrigen zurückkehren zu können.«

Ermutigend drückte ich ihre eiskalte Hand, zeigte ihr, um sie auf andere Gedanken zu bringen, die getötete Ratte, vor der sie laut aufschreiend zurückwich, und brachte sie nach langem Zureden endlich dazu, sich niederzulegen und mir die Nachtwache allein zu überlassen.

Langsam verstrich eine Stunde nach der anderen; ab und zu schlummerte ich ein Weilchen, versäumte aber auch nicht, von Zeit zu Zeit an Deck zu gehen, um Ausguck zu halten; jedesmal jedoch bot sich mir das gleiche trostlose Bild. Gegen Morgen mußte ich ein paar Stunden fest geschlafen haben, denn als ich erwachte, wies der Zeiger der Kajütenuhr auf neun. Doch herrschte noch immer völlige Dunkelheit. Fröstelnd bis ins Mark erhob ich mich, zündete Feuer im Ofen an und begab mich wieder auf meinen Beobachtungsposten. Der Wind war umgesprungen und wehte jetzt aus Nordwest, ein klarer Sternenhimmel spannte sich von Horizont zu Horizont über die ruhig dahinrollenden schwarzen Wogen. Die Laterne am Maststumpf war dem Verlöschen nahe und verbreitete nur noch ein trübes, ungewisses Licht. Doch bald mußte ja der Morgen dämmern und mir Gewißheit bringen, ob mein suchendes Auge sich täuschte oder ob jener unregelmäßig gezackte Streifen dort im Süden wirklich kein bloßes Wolkengebilde war.

Sobald eine Welle das Wrack emporhob, tauchte der Schattenstreifen auf, um mit jeder Senkung des Schiffskörpers wieder zu verschwinden. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß wir uns einem Eisberg näherten, denn schon längst hatte ich mich darüber gewundert, den Ozean in diesen Breiten so völlig eisfrei zu finden. Da genauere Beobachtungen erst nach Tagesanbruch möglich waren, begab ich mich einstweilen in die Kajüte zurück, um die Lampe anzuzünden und den Frühstückstisch zu decken.

Unterdessen war auch Miß Otway aufgestanden.

»Ist noch immer kein Schiff in Sicht?« war ihre erste Frage. Ich schüttelte den Kopf.

»Wann waren Sie zuletzt an Deck?«

»Ich komme eben von oben.«

»Wie steht's mit uns?«

»Das läßt sich erst bei Tageslicht feststellen.« Meine ausweichende Antwort machte sie stutzig.

»Ist Eis in der Nähe?« erkundigte sie sich ängstlich.

»Im Süden scheint so etwas wie ein Eisberg aufzutauchen,« gab ich in gleichmütigem Tone zur Antwort. »Das wäre in diesen Breiten ja etwas ganz Natürliches. Aber was werden wir heute frühstücken? Wollen Sie nicht so gut sein, uns eine Tasse Kaffee zu kochen, während ich unter unseren Vorräten Umschau halte?«

Und scheinbar sorglos ein lustiges Seemannslied vor mich hinpfeifend, zündete ich eine Handlaterne an, unterzog die Fächer und Bretter der Speisekammer einer gründlichen Musterung und brachte schließlich eine Blechdose mit eingemachten Heringen, eine Büchse Sardinen und eine geräucherte Wurst auf den Tisch.

»Ich werde nach und nach ein Verzeichnis aller für Sie bestimmten Lebensmittel aufstellen,« sagte ich zu Miß Otway. »Falls wir von einem anderen Schiff gerettet werden sollten, müssen wir diese Vorräte mitnehmen, denn an die derbe und einförmige Kost eines Walfischfängers würden Sie sich schwer gewöhnen können.«

Während der Mahlzeit sah ich Miß Otways Augen beständig zwischen den Kajütenfenstern an Backbord vorne und hinten hin- und herwandern, als ob dort im nächsten Augenblick die gefürchteten Eismassen auftauchen müßten.

Mit bläulichem Schimmer brach der Tag an, und als wir nach dem Frühstück beide an Deck eilten, lag der Glanz eines strahlenden, sonnigen Wintermorgens auf der wogenden See, in deren dunkles Blau sich hier und da ein durchsichtiges, leuchtendes Grün mischte. Goldige Wölkchen umflatterten wie ein Schleier die Sonne.

Und – Meilen und Meilen weit dehnten sich im Süden Eisberge aus! Dem unbewaffneten Auge verschmolzen sie zu einer ungeheuren kompakten Eismasse. Durch das Fernrohr konnte ich deutlich die glitzernden Zinnen und Türme, die Straßen und Wege der Gigantenstadt aus Kristall und Alabaster unterscheiden.

Wenige Meilen nur trennten uns noch von dem Eise!

Mit weitgeöffneten Augen starrte Miß Otway auf das blendende Geflimmer, und immer wieder entrang sich ihren blassen Lippen die angstvolle Frage: »Sehen Sie kein Schiff?«

So angestrengt ich aber auch weit und breit umherspähte, bis meine schmerzenden Augen mir den Dienst versagten – kein rettendes Segel ließ sich blicken. Dafür aber zeigte sich im Südosten am Horizont ein leichter bläulicher Schatten, in dem ich sofort eine Felsenklippe der Südorkneyinseln vermutete. Um meiner Sache gewiß zu sein, fragte ich meine Gefährtin, ob auch sie den Schatten bemerke. Mit bloßem Auge konnte sie nichts entdecken, als ich ihr aber das Fernrohr reichte, rief sie lebhaft aus:

»Ja, ja, jetzt sehe ich ihn!«

»Es ist Land,« sagte ich bedeutungsvoll.

»Unbewohntes Land?« stammelte sie angstvoll.

»Das will ich nicht sagen; ich glaube, ab und zu sendet ein vorübersegelndes Schiff dort ein Boot an Land.«

»Zu welchem Zweck?«

»Das weiß ich nicht, darüber brauchen wir uns auch nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich will lieber dafür sorgen, daß man uns bemerkt, falls ein Schiff dort drüben kreuzt.«

Damit holte ich die erloschene Laterne nieder und hißte die rote Flagge. Da das klare Wetter heute endlich einmal eine Observation ermöglichte, so holte ich den Sextanten aus der Kajüte, wartete den Zeitpunkt ab, in dem die Sonne den Meridian kreuzte, und erhielt eine gute Mittagshöhe. Hieraus ergab meine Berechnung die Breite von 60 Grad 10 Minuten Süd. Auch die Länge konnte ich auf 45 Grad West von Greenwich feststellen.

Ein Blick auf die Karte zeigte mir nun, was jener bläuliche Schatten im Süden zu bedeuten hatte. Es war kein Vorgebirge, wie ich vermutet hatte, sondern wahrscheinlich ein 4500 Fuß hoher Berggipfel im Innern der Krönungsinsel.

»Sehen Sie,« sagte ich zu Miß Otway, die neben mir stand und alle meine Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, »auf diesem Punkte befindet sich das Wrack augenblicklich.«

Sie beugte sich über die Karte und seufzte tief.

»Wie trostlos! Wie weit sind wir von Kap Horn verschlagen! Die nächsten bewohnten Gegenden sind die Falklandinseln, und auch von diesen trennen uns noch Hunderte von Meilen!«

»Sie ängstigen sich ganz unnötig,« redete ich ihr zu. »Sechzig Grad südlicher Breite sind gar nichts so Ungeheuerliches. Die Walfischfänger wagen sich oft noch viel tiefer hinab« – allerdings nicht hier, setzte ich in Gedanken hinzu. – »Sehen Sie, Miß Otway,« fuhr ich fort, indem ich eine Reisebeschreibung vom Bücherbrett nahm und aufschlug, »hier haben Sie eine Schilderung jener Inselgruppe, der wir uns jetzt nähern; Menschen haben sie entdeckt, benannt, zum Teil sogar erforscht – warum sollte uns unmöglich sein, was jenen gelungen ist?« Und ich las ihr die Stelle des Werkes vor, die von der Umschiffung der Südorkneyinseln im Jahre 1823 handelte.

Miß Otway lächelte trübe. »Jenes Schiff hatte Masten und Segel und war ausreichend bemannt,« erwiderte sie.

Ich las:

»Wir setzten Boote aus, um die Küste zu erforschen. Unsere Schiffe kreuzten mittlerweile in der Bucht, denn es war uns unmöglich, dort vor Anker zu gehen, weil die im Sommer abschmelzenden und zerbröckelnden Eisberge den Meereseinschnitt so mit Treibeis angefüllt hatten, daß wir oft nur durch vorsichtiges Manövrieren einem heftigen Zusammenprall entgingen.«

»Das ist es eben,« warf Miß Otway ein, »ihr Schiff war lenkbar!«

»Die Küste,« las ich weiter, »machte einen noch unwirtlicheren Eindruck als die der Süd-Shetlandinseln, denn sie ist reich an wild zerklüfteten Bergspitzen, deren höchste an klaren Tagen vielleicht fünfzehn Seemeilen weit sichtbar sein mag. Wir nannten sie Nobles Peak.«

»Ist das der bläuliche Schatten, den wir vorhin sahen?« fragte Miß Otway.

»Möglich,« erwiderte ich.

»Sehen Sie doch nach, ob die Insel bewohnt ist!«

»Sie ist unbewohnt. Aber wir brauchen deshalb nicht zu verzagen, noch sind wir ja nicht gestrandet, und will's Gott, so kommt es auch gar nicht dazu. Daß wir nach Süden treiben, steht freilich außer allem Zweifel, doch scheint mir unser Kurs stark in westlicher Richtung abzuweichen. Ich will einmal sehen, was in diesem Buch über die antarktischen Meeresströmungen gesagt ist.«

Und einige Seiten umblätternd, las ich weiter:

»Zehn Meilen südlich von Kap Horn wendet sich der Meeresstrom mit einer Geschwindigkeit von einer halben Meile in der Stunde nach Ost-Nord-Ost.«

»Das wäre sehr günstig für uns,« bemerkte ich, »denn sobald der Wind umspringt, führt die Strömung uns rasch aus dem Bereich der Eisgrenze.«

Doch ich hatte keine Zeit, mich noch länger mit Mutmaßungen aufzuhalten. Die kurze Tageshelle mußte benutzt werden. Daher legte ich das Buch fort, sah nach dem Ofenfeuer und machte mich an die Instandsetzung der Pumpe. Der Wasserstand im Schiffsraum erwies sich als ebenso unbedeutend wie am Tage vorher; ich ließ deshalb den Pumpenschwengel bald wieder sinken und griff zum Fernrohr, um noch einmal aufmerksam nach dem flimmernden Eiswall hinüberzuspähen.

Den blauen Schatten von Nobles Peak konnte ich jetzt schon mit bloßem Auge unterscheiden. Auch die Eismassen rückten immer näher und nahmen die abenteuerlichsten Formen und Gestalten an. Vögel waren noch nicht zu sehen, doch zeigte mir ein zufälliger Seitenblick ein anderes, untrügliches Merkmal unserer Annäherung an die Küste, nämlich eine Algenkolonie, die sich auf den Meereswellen wiegte.

Trotz gespanntester Aufmerksamkeit konnte ich aber noch immer nicht ermitteln, ob das Wrack nach Süden oder Südwesten trieb, denn das Tiefseelot, aus dessen Abweichung vom Schiffskörper ich die Bewegungsrichtung hätte erkennen können, war nicht zu finden. Nach Verlauf einer Stunde jedoch konnte ich mir auf Grund verschiedener Beobachtungen nicht länger verhehlen, daß wir geradewegs auf die Eismassen zu trieben, als würde das Wrack von unsichtbaren Händen dorthin gesteuert.

Hätte ich auch nur einen einzigen Gehilfen gehabt, so wäre es uns mit vereinten Kräften vielleicht gelungen, durch Errichtung eines Notmastes und Befestigung eines Klüverbaumes eine gewisse Herrschaft über das Schiff zu gewinnen und es ohne schwere Havarie zwischen den Eisbergen hindurch zu bugsieren. Jetzt aber mußte ich uns hilflos dem Untergange entgegentreiben sehen. Mit verschränkten Armen und zusammengebissenen Zähnen starrte ich in ohnmächtiger Wut zu den drohenden Eisriesen hinüber. So fand mich Miß Otway, die in der Kajüte einen Imbiß für uns bereitet hatte. Ein Blick in mein Gesicht belehrte sie, daß auch ich alle Hoffnung aufgegeben hatte, und mit leisem Aufschrei taumelte sie zurück, als habe ein Schlag sie getroffen.

Der Anblick des armen Mädchens erinnerte mich wieder an meine Mannespflicht, und ich bemühte mich, meiner Verzagtheit Herr zu werden. Auch sie faßte sich rasch; zwar bedeckte Totenblässe ihr Gesicht, und ihre Lippen bebten, in ihre Augen aber trat ein Zug von Entschlossenheit, und mit fester Stimme sagte sie:

»Wir stehen in Gottes Hand, Mr. Selby. Es ist nur schrecklich, auf diese Weise sterben zu müssen.«

»Wenn Sie so aussehen, Miß Otway, dann gefallen Sie mir,« erwiderte ich, »aber nicht, wenn Sie so sprechen. Die Eisberge drüben erscheinen uns von hier aus als kompakte Masse, sind aber in Wirklichkeit durch Meeresarme von beträchtlicher Breite getrennt. Warum sollte nicht ein glücklicher Zufall uns unversehrt durch solch einen Kanal führen?«

»Ja, aber wohin?«

»Wohin? Jenseits des Eiswalles kann offenes Wasser liegen, vielleicht sogar ein Schiff!«

»Nein, Land!« unterbrach sie mich verzweiflungsvoll, »Land – an dem wir scheitern und zerschellen müssen!«

»Noch sind wir ja nicht so weit,« sagte ich. »Wir müssen abwarten und den Mut nicht sinken lassen, vielleicht ist die Rettung näher als wir denken!«

Schweigend und bedrückt setzten wir uns zu Tisch. Miß Otway rührte keinen Bissen an; auch ich stürzte nur hastig den dampfenden Kakao hinunter und begab mich dann wieder an Deck.

Bald nach zwei Uhr ging die Sonne unter. Der Himmel glich einem Flammenmeer, dessen Purpurwellen die fernen Eisriesen mit rosigem Schimmer überfluteten. Noch ehe das Abendrot ganz verblich und die Dämmerung hereinbrach, hißte ich wieder die brennende Laterne, denn noch immer wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben, es könnte vielleicht doch ein Schiff hinter jenen Eiswällen kreuzen.

Auf den sonnigen Tag folgte eine schöne klare Nacht. Gegen acht Uhr hatten wir uns dem nördlichsten Ausläufer der Eisberge bis auf etwa fünf Meilen genähert. Schweren Herzens blickte ich in die rollenden Wogen; wenn eine dieser Wellen uns mit voller Gewalt gegen jene weiß schimmernden Ungetüme schleuderte, waren wir verloren.

Plötzlich sah ich jenseits der Eisgrenze ein Licht aufflammen. Anfänglich traute ich meinen Augen nicht, dann – als es nach sekundenlanger Pause aufs neue jäh emporschoß, hielt ich es für die Flammengarben eines tätigen Vulkans auf den Süd-Orkneys, der uns jetzt durch Abweichung unseres Wracks von der bisherigen Richtung erst sichtbar wurde. Hals über Kopf stürzte ich in die Kajüte, um eine Handlaterne zu holen. So aufmerksam ich aber auch den Kompaß beleuchtete und untersuchte – unsere Richtung hatte sich offenbar nicht verändert.

»Was gibt's?« fragte Miß Otway, die mir an Deck gefolgt war.

»Sehen Sie doch – dort! Was mag das sein?« rief ich, auf die von neuem aufstrahlende Lichterscheinung deutend.

Jetzt wölbte sich über dem dunklen Horizont ein leuchtender Bogen, vor dessen feurig rotem Glanze die hellsten Sterne erblichen. Gelbe, zuckende Blitze sprühten von seinem Saume nach allen Himmelsrichtungen aus. Nach einigen Minuten verschwand das majestätische Schauspiel, wurde aber gleich darauf durch ein noch überraschenderes abgelöst. Breite Lichtbänder wogten, anmutig bewegt, über das Firmament und lösten sich plötzlich in fächerförmige Strahlenbündel auf, die in allen Regenbogenfarben schillerten.

In atemlosem Schweigen versunken, blickten wir in die blendende Licht- und Farbenfülle. Endlich schwand das wunderbare Naturspiel langsam dahin.

»Das war das Polarlicht,« sagte ich tief aufatmend. »Nach allem, was ich darüber gehört und gelesen habe, kann es nichts anderes gewesen sein.«

Miß Otway antwortete nicht. Sie stand lauschend da.

»Hören Sie den Donner?« fragte sie.

Ich horchte. Es war kein Donner, sondern das Krachen berstender, von der Brandung zernagter Eismassen.

Trotz dieser gefährlichen Nachbarschaft schöpfte ich neuen Mut, denn die nun plötzlich eintretende Windstille ließ mich auf einen Witterungsumschlag hoffen, der uns nordwärts und damit aus dem Bereich des Eises führen konnte. Bis neun Uhr blieb ich an Deck, um das Wetter zu beobachten. Dann ging ich in die Kajüte hinab, braute mir ein Glas Grog und rauchte aus dem Tabaksvorrat des Kapitäns eine Pfeife. An Schlafengehen dachte keines von uns; wir saßen neben dem Ofen und sprachen wie schon so oft über unsere Lage.

So blieben wir eine Weile im Gespräch bei einander. Eben wollte ich das erst halb geleerte Grogglas an die Lippen führen, als ein eigentümlich zischendes Geräusch mein Ohr traf und mich mit erhobener Hand wie versteinert stehen bleiben ließ! Ich horchte ... Und sprang die Kajütentreppe empor.


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