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Einundzwanzigstes Kapitel.
Der Mörser-Apparat.

Der Mann auf dem Wrack antwortete sofort, als er die Frage des Steuermannes: »Wer – ist – die – Frau?« Wort für Wort an sein Ohr hatte schallen hören. Mir aber kamen die Sekunden, die zwischen Frage und Antwort lagen, wie Ewigkeiten vor. Da – klar und scharf tönte es herüber:

»Miß – Otway.«

Ich schrie gellend auf in einem fassungslosen Paroxismus von Glück, lachend und weinend zu gleicher Zeit. Ich konnte kaum sprechen. Stammelnd nur konnte ich Bland bitten, hinüberzuschreien, daß ich da sei.

Wieder brüllte der Steuermann durch den Trichter seiner Hände:

»Mr. – Moore – ist – da!«

Als er das gerufen hatte, beugte sich die Gestalt an der Reeling in jäher Ueberraschung vorwärts. Sekundenlang blieb sie so, regungslos ...

»Eveline, meine Eveline – –« murmelte ich vor mich hin.

Dann streckte die Gestalt die Hände nach mir aus. Eine Welt von Sehnsucht und eine Welt von Schmerzen lag in der Bewegung. Ich riß die Mütze vom Kopf und schwenkte sie jubelnd hin und her; sie sollte doch wissen, wer von den Leuten im Boot ich war. Aber rufen konnte ich nicht – ich hätte nicht rufen können, wenn Blands starke Stimme mein gewesen wäre. Die Kehle war mir wie zugeschnürt. Dort oben auf dem Wrack stand das Mädchen, das mein alles auf der Welt war. Da stand sie, die ich all' diese Monate hindurch tot glauben mußte. Da war sie in Eis und Elend und Entbehrung.

»Ich will an Land,« schrie ich. »Rudert mich ans Land, ich kann die Felsen erklettern. Bodkin soll helfen, zusammen machen wir's! Ich muß auf das Wrack!!«

Wieder riß mich der Steuermann auf die Bank zurück. Ich war beinahe über Bord getaumelt in meiner sinnlosen Aufregung.

»Es geht nicht, Mr. Moore,« sagte er, mir zuredend wie einem Kind, »nur noch ein wenig Geduld, ein paar Stunden nur. Denken Sie daran: Morgen segelt der Albatroß heimwärts mit Ihrer Braut an Bord. Die Felswand kann kein Mensch erklimmen!«

»Bodkin!« rief ich. »Geht es nicht mit Strickleitern, mit Steigeisen?«

Der Bootsmann betrachtete kopfschüttelnd die senkrecht abstürzenden Felsen.

»Da kommen wir nicht hinauf!« sagte er bestimmt. »Von der Felsenseite ist das Wrack nicht zu erreichen!«

»Wie retten wir dann die beiden?«

»Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen, Mr. Moore!« sagte der Steuermann. »In irgend einer Form werden wir die Rettung ausführen. Wie, weiß ich noch nicht.«

»Warum zeigte der Mann da drüben immer auf die Stelle dort?« fragte ich, nach der Richtung deutend, wo die vorspringende Felsecke einen vor Wind und Brandung geschützten Winkel bildete.

»Er fürchtete, die Brandung könnte uns abtreiben.«

Der Steuermann hatte fortwährend das Wrack und seine Lage in dem Felsen betrachtet.

»Es wird das beste sein, wir rudern jetzt zurück zum Albatroß,« entschied er schließlich. »Kapitän Cliffe muß entscheiden, auf welche Weise der Versuch gemacht werden soll, dem Wrack beizukommen. Denn gefährliche Arbeit wird's werden.«

Ehe wir abfuhren, schrie er zum Wrack hinüber:

»Wir müssen jetzt zurück. Aengstigt euch nicht! Wir sind gekommen, um euch zu retten. Wir verlassen euch nicht. Hört ihr?«

»Ja, ja!« tönte es schwach durch die tosende Brandung zurück.

»Wir kommen bald wieder!«

»Ja, ja ...«

Während das Boot zurückruderte, verwandte ich keinen Blick von der Lady Emma. Eveline stand noch immer regungslos an der Reeling.

Dunkel, düster, wie aus schwarzem Glas gegossen, lag das Wrack auf der blendend weißen Felsklippe; noch immer stieg ein dünner Rauchfaden vom Achterdeck empor, und wie eine grelle Flamme hob sich die flatternde rote Fahne von dem eisglänzenden Hintergrunde ab.

Ich konnte an nichts denken als an das Wrack und die beiden Menschen auf ihm. Wer war der Mann auf der Lady Emma? Kapitän Burke war es nicht. Die Gesichtszüge hatte ich freilich nicht unterscheiden können, aber Burkes Stimme hätte ich sicher erkannt. Wo war dann der Kapitän? Wo war seine Frau? Zwei Schiffbrüchige nur seien an Bord, hatte der Mann herübergerufen. Und vor allem – wie kam der fremde Mann an Bord der Lady Emma??

In ganz kurzer Zeit hatten wir den Albatroß erreicht. Bland, der Bootsmann und ich gingen an Bord, während wir die Mannschaft im Boot zurückließen, um Zeit zu sparen. Kapitän Cliffe erwartete uns mit Ungeduld.

»Keine Landungsstelle dort?« rief er uns entgegen.

»Doch,« sagte der Steuermann, »aber es hatte keinen Zweck, zu landen. Die verwünschten Felsen könnten nicht mal Gemsen erklettern.«

»Wer sind die Menschen auf dem Wrack?«

»Miß Otway ist dort. Wer der Mann ist, wissen wir nicht.«

Da stürzte Cliffe jubelnd auf mich zu und schüttelte mir die Hände, als wollte er mir die Arme ausreißen.

»Hab ich's nicht immer gesagt? Hab ich's nicht immer gesagt, Mr. Moore!« rief er ein über das andere Mal. »Mann, ich gratuliere Ihnen. Sie glücklicher Mensch – aber ich hab's ja immer gesagt, daß alles klappen wird!«

Dann schrie er Hurra! und faßte mich bei den Schultern und wirbelte mich herum vor lauter Freude.

»Aber es sollten doch drei Personen auf dem Wrack sein!« sagte er auf einmal.

»Kapitän Burke und seine Frau sind nicht auf dem Wrack,« antwortete ich.

In fassungslosem Erstaunen starrte Cliffe mich an. »Wer ist der Mann dort?« rief er.

Ich zuckte die Achseln.

»Na, das werden wir bald wissen,« sagte der Kapitän. »Jetzt heißt es handeln. Bland, was schlagen Sie vor? Sie waren ja an Ort und Stelle und können's am besten beurteilen.«

»Auf das Wrack selbst kommen wir bestimmt nicht,« erklärte der Steuermann. »Auf der einen Seite sind die Felsen unpassierbar und auf der anderen können wir nicht landen. Da gibt es nur ein Mittel. Wir müssen den Mörser mit ins Boot nehmen und eine Leine auf das Wrack hinüberschießen. Im Vorbeifahren hab' ich einen großen Treibeisblock gesehen, an dem wir das Boot verankern können. Dann brauchen wir einen Rettungssack oder so etwas.«

»Haben wir nicht,« sagte Cliffe. »Wir müssen ein Faß nehmen.«

»Der Steuermann nickte. »Das geht auch. Und dann glaube ich, ist es besser, wenn wir gleich mit zwei Booten fahren. Fünf Mann müssen wir haben und für den Apparat genügt ein Boot nicht.«

In weniger als einer halben Stunde waren wir fertig und ruderten ab, das eine Boot mit dem Mörser-Apparat schleppend.

Als wir uns dem Wrack bis auf Rufweite genähert hatten, brüllte Steuermann Bland hinüber, daß wir mit einem Mörser eine Leine hinüberschießen wollten.

Der Mann auf dem Wrack antwortete mit einer sonderbaren Armbewegung und Bland sagte sofort:

»Aha, er ist ein Seemann. Das hilft schon; er wird wenigstens wissen, was er zu tun hat.«

Ich hatte nur Augen für Eveline. Sobald ich sie auf dem Achterdeck der Lady Emma auftauchen sah, grüßte und winkte ich zu ihr hinüber und sah zu meiner Freude, daß auch sie mich erkannte und meine Grüße in gleicher Weise erwiderte.

In klaren Umrissen hob ihre schlanke Gestalt sich von dem hellen Hintergrunde ab. Aber ihr Gesicht konnte ich auch jetzt noch nicht deutlich erkennen, denn unsere Boote lagen mehrere hundert Fuß von der Küste entfernt. Näher herankommen konnten wir der Brandung wegen nicht.

Bland hatte die Boote nach einer riesigen Masse von Treibeis gesteuert, das genau dem Wrack gegenüber schwamm. Auf der Leeseite des riesigen Blocks plätscherte das Wasser ruhig und friedlich. Dort fuhren die Boote hin, und ein paar Seeleute sprangen auf das Eis hinüber, um das Boot in einer Eisspalte zu verankern.

Zuerst wurde dann der Mörser aufgestellt und geladen. Bland selbst rollte mit unendlicher Sorgfalt die dünne Leine auf, die hinübergeschleudert werden sollte, damit sie sich ja nicht verwickelte. Unterdessen sah ich, wie der Mann an Bord irgend etwas zu Eveline sagte, die sofort auf den Kajüteneingang des Wracks zueilte und unter Deck verschwand. Nun waren alle unsere Vorbereitungen getroffen. Ich fieberte vor Aufregung; aber dem Steuermann und den Matrosen ging es ebenso.

»Fertig!« brüllte Bland hinüber.

Der Mann antwortete wieder mit der gleichen bejahenden Armbewegung.

»Feuer!« kommandierte der Steuermann.

Bodkin, der das Geschütz bediente, riß an der Abzugleine – ein donnernder Knall – und in langsam sich streckenden Ringeln sauste die Leine durch die Luft. Der Schuß war gut gezielt ...

»Er hat sie – er hat sie!« schrieen die Matrosen.

Der Mann hatte die Leine ergriffen und am Maststumpf befestigt.

»Nun vorwärts, Jungens!« rief Bland, »wir haben noch ein schweres Stück Arbeit vor uns. Hoffentlich kann der da drüben das schwere Seil einziehen, ehe uns die Haspel einfriert. Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte.«

»Wenn's um Tod und Leben geht, hat jeder Riesenkräfte und wenn er erst aus dem Krankenhause käme,« brummte einer der Matrosen.

»Steckt aus, Jungens, – helft ihm!!!« rief Bland »Macht ihm die Sache so leicht wie möglich. Herrgott – wenn der arme Teufel nur mit dem Seil fertig wird!«

Der Schiffbrüchige holte mit rascher sicherer Bewegung Hand über Hand die Wurfleine ein, an deren Ende von unseren Leuten im Boot eine Jolle ohne Ende befestigt war, ein Block, durch den ein langes dünnes Tau läuft, dessen beide Enden zusammengespleißt sind.

Auch diese Jolle mußte der Mann auf dem Wrack zu sich hinüberholen. Vorläufig schien es ihm keine Schwierigkeit zu machen. Aber die Arbeit wurde immer schwerer, je mehr von dem dicken gewichtigen Seil er hinüberzog.

Mit atemloser Spannung beobachteten wir ihn; fast war es zuviel für einen Mann. Wenn seine Kräfte versagten, ehe er den Block in der Hand hielt, dann war alle unsere Arbeit vergebens. Und – dann wurde die Rettung unmöglich.

Daß kein menschliches Wesen jene spiegelglatten Eisschroffen zu erklettern vermocht hätte, sah ich jetzt deutlich genug.

Ruhig und stetig steckten unsere Leute so viel Seil aus, als der Mann auf dem Wrack mit gleichmäßiger Geduld und Ausdauer einholte.

»Das Fräulein hilft ihm!« rief plötzlich einer der Matrosen aus.

Wahrhaftig! Durch das Fernrohr sah ich ganz deutlich, wie Eveline hinter ihrem Leidensgefährten stand und aus Leibeskräften mitziehen half ... Wortlos starrte ich hin.

Langsam, unendlich langsam glitt das Rettungsseil nach dem Wrack hin. Endlich atmete der Steuermann mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf.

»Fertig!« schrie er. »Er hat das Seil drüben.«

Ein lautes Hurra unserer Leute schallte zu dem Wrack hinüber.

»Der da drüben weiß, was er zu tun hat!« sagte Bland zufrieden.

Der Mann auf dem Wrack war unterdessen hinter dem Schanzkleid verschwunden. Er hatte den Block an dem Maststumpf befestigt und tauchte dann wieder auf, mit der Hand winkend. Neben ihm stand regungslos Eveline.

»Steckt jetzt das starke Leitungstau an die Leine der Jolle und holt es hinüber,« befahl der Steuermann. Rasch wurde der Befehl ausgeführt, und da die kräftigen Arme der Seeleute am anderen Tell der Jolle helfend mitziehen konnten, war das Ende des Leitungstaues in wenigen Minuten an Bord des Wracks. Der Schiffbrüchige befestigte es etwa eineinhalb Fuß über dem Block am Maststumpf, dann winkte er mit der Mütze als Zeichen, daß alles in Ordnung sei.

»Hol steil,« kommandierte der Steuermann. Bald war mit Hilfe einer Handtalje der im Wasser befindliche Teil des Leittaues so straff gezogen, daß das Seil sich jetzt in leichter Krümmung vom Boot zum Fockmaststumpf des Wracks spannte und das Wasser nicht mehr berührte.

»Halt, Jungens! Ihr reißt mir ja das Wrack herunter,« scherzte der Steuermann, der vor Freude über das Gelingen der schwierigen Arbeit nur so strahlte. »Bringt unsere Rettungsboje in Gang!«

Das große Faß, das wir als Rettungsboje mitgenommen hatten, war in halber Höhe durchsägt und hatte über seinem offenen Ende einen Taubügel, in dessen Mitte ein ringförmiges Auge eingebunden war. Durch dieses Auge war das Leittau gezogen, und an ihm fortlaufend konnte nun das Faß durch die Leine der Jolle zum Wrack hin und wieder zurück nach dem Boote gezogen werden.

Mit raschem Griff hoben unsere Leute das Faß über Bord.

»Hol über!« schrie der Steuermann.

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit glitt der schwere Behälter das Tau entlang. Wir sahen, wie der Mann drüben sich über die Reeling beugte, das Faß vollends an sich heranzog und sofort hineinsprang.

Bland wurde dunkelrot vor Zorn.

»Wenn der Bursche rüberkommt, schlag' ich ihn tot!« brüllte er. »Kann er nicht zuerst für die Dame sorgen, der Feigling! Na warte – komm' du nur!«

Auch die Matrosen murrten. Aber wir alle hatten dem Mann Unrecht getan. Nach wenigen Augenblicken sprang er wieder aus dem Faß. Er hatte offenbar nur prüfen wollen, ob der Apparat fest und sicher sei. Ein paar Sekunden lang stand er an der Reeling und sah zu uns herüber.

»Ach–tung! Die – Dame!« rief er dann mit mächtiger Stimme.

Er schlang seine Arme um Eveline und hob sie in das Faß. Unsere Leute begannen, das Tau einzuholen, und langsam bewegte sich das Faß auf uns zu. Immer schneller rutschte der Apparat am Tau entlang ...

»Zwei von euch helfen der Dame beim Aussteigen,« befahl Bland. »Mr. Moore, Sie bleiben sitzen und rühren sich nicht, bis die Dame im Boot ist.«

Jetzt streifte das Faß die Wasserfläche – jetzt ergriffen es kräftige Arme und zogen es vollends ans Boot heran ... jetzt wurde Eveline über den Bootsrand gehoben und lag lachend und weinend in meinen Armen.


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