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Sie tanzten zusammen in den großen Restaurants in der Nähe des Bois de Boulogne: Château de Madrid, Armenonville und Hermitage.

Ulla Faber hatte sich, berauscht von ihrem Glück, in den Tanz gestürzt, der jetzt über den Erdball ging. Sie sah, daß die Welt schließlich aus ihrem Winterschlaf erwacht war, die vier Kriegsjahre waren nur ein Sturm von Schrecken gewesen, den sie hinter den dichten Vorhängen zu vergessen gesucht hatte. Schließlich waren alle Toten vollkommen tot, und alle Wunden waren geheilt, wie auch Gras über die Minenkrater der Front gewachsen und jeder Invalide in ein mildes Hospital gebracht war. Die alte Zeit war erwacht und lebensfroh jung wieder. Die Klasse, zu der sie gehörte, war nicht durch Krieg, Revolution und extremen Sozialismus getötet. Der graziöse Geist des achtzehnten Jahrhunderts, der bis zum Kriege in der geistesaristokratischen, radikalen Oberklasse weitergelebt hatte, er herrschte noch, unterhalten von einem Amerika, das bei seiner Mission zur Errettung Frankreichs Anmut, Geist und Geschmack gelernt hatte. Seine Söhne brachten ihr scharfes Tempo mit auf das Parkett der Salons, Tango und Menuett begegneten sich, der Mississippi vereinigte sich mit der Seine, Yukon und Hudson schenkten ihre unberührte Kraft dem latinischen Genius.

Ihr schien, daß der Krieg nie gewesen war. Hier in den großen Marmorvestibülen der mächtigen Hotels, in den vornehmen Tanzpalästen, wo eine sorglose, wilde Musik unter Palmenkronen oder Lampions wiegte, hier war eine unantastbare Welt, wie sie stets gewesen – in Ninive, in Rom und in Versailles –, international, reich und raffiniert, tief leidenschaftlich hinter dem frivolen Stil. Sie hatte diese vier Jahre durch ihre Gesundheit, ihren Willen und ihr Verlangen nach einem einzigen in der Welt überwunden. Was tat es, wenn Millionen junger Männer niedergemäht wurden! Das Schicksal gab ihr recht. Sie selbst war nicht berührt, der, den sie besitzen wollte, war bewahrt, gehörte ihr ganz!

Sie tanzten meistens in den großen Restaurants, deren Boden so blank wie Eis in dem violetten Licht der japanischen Lampen dalag. Rosa oder golden glühten die vielen Säle hinter der Rampe, wo man tanzte. Die beiden Orchester wechselten ab, bald europäisch spielerische, kapriziöse Musik und bald die Kriegstrommel einer Negertruppe, Banjo, Saxophon und hektisches Heulen aus Kehlen wie aus der Tiefe des Urwalds.

Um sie her saßen an den weißen Tischtüchern die Damen der reichen Welt mit ihren Kavalieren. Die schwarzen Damenkleider, die Kriegsmode, waren gerade in diesem Frühjahr den leichten Stoffen und den feinen, hellen Farben gewichen. Sie tanzten in ihren dünnen Kleidern, die sich dicht um Brust und Hüften schmiegten, als wären sie nackt und nur in Farben gehüllt.

Ulla hatte sich von dem Tisch erhoben, an dem sie lange dicht an der Rampe gesessen hatten.

»Komm, laß uns tanzen!«

Sie trug ein weinrotes Kleid, um Hüften und Lenden lag ein Flechtwerk aus goldenen Blättern. Schultern, Brust und Arme waren nackt, heiß leuchtend wie verblichenes Rosa. Das Haar brauste um den Scheitel, purpurrot in dem gedämpften Oberlicht, scharf abgeschnitten über dem lichtgesättigten, weißen Nacken.

»Komm, Ejgil!« Ihre Wange berührte fast die seine. Er spürte den süßen Hauch ihres Mundes, das weiche Gleiten ihres Körpers unter der Seide! Berauscht folgte er dem Rhythmus ihres Tanzes, ihres herrschsüchtigen Verlangens, ihrer Launen, ihrer wilden Zärtlichkeit, wenn sie sich ihnen für einen Augenblick hingab und sich von ihm führen ließ. Und langsam spürte er, wie sie in seinen Armen willenlos wurde, er trug sie, besaß sie, wußte schwindelnd, daß sie sein war.

Die Musik hielt inne. Er führte sie an ihren Platz. Ihre Augen hingen an den seinen, sie waren tränenfeucht, Zärtlichkeit und Angst atmeten ihm entgegen.

»Noch nicht«, flüsterte sie. »Wir bleiben noch etwas hier, nicht wahr?«

Sie saßen lange schweigend da, selbst als der Tanz wieder begann, zu bewegt, um zu sprechen.

Eine Dame war an ihrem Tische stehengeblieben. Sie nannte Ulla beim Vornamen. Ulla erhob sich, sie faßten sich bei den Händen, lachten und unterhielten sich auf Französisch. –

Ulla ließ sich von der anderen durch das Restaurant führen. Er verstand, daß es eine Freundin von früher war – wohl aus der Vorkriegszeit. Ulla hatte ihn nicht vorgestellt. Das verstimmte ihn plötzlich.

Er stand auf und schlenderte zum Restaurant hinaus, die Unterhaltung zwischen den beiden schien sich in die Länge zu ziehen.

Eine Stimme rief ihm ein paar Worte auf Englisch zu.

Etwas unsicher wandte er sich um. An einer Cocktail-Bar etwas weiter hin saß ein junger Mann, ungefähr in seinem Alter. Ejgil hatte ihn noch nie gesehen.

» Halloh! Come and have a drink!«

Unwillkürlich nahm Ejgil auf dem hohen Rohrstuhl vor dem Schenktisch Platz.

» Name your poison?« Als Ejgil mit der Antwort zögerte, ging der junge Kavalier in Französisch über.

»Ich dachte, Sie seien vielleicht Amerikaner! Ich bin vielen Amerikanern während des Krieges begegnet. Ich heiße Chana Caradek,« sagte er, »ich bin Pariser.« Ejgil fand jedoch seine Aussprache etwas zu rollend für einen Pariser. Der Typ war osteuropäisch, die Nase kurz, die Augen schmal, steinkohlenschwarz. Das Haar war seidenartig glatt, seltsam frisiert: die Stirn fast bis zum Scheitel rasiert, die Haarkrone steil und wellig, terrassenförmig geschnitten.

»Was für ein Landsmann sind Sie?« fragte Chana Caradek und verschrieb das Rezept für einen Cocktail.

»Skandinavier.« Ejgil murmelte seinen Namen.

Caradek schob Ejgil das Glas hin. »Versuchen Sie. Ich stehe ein für das Getränk!«

Das Jazz-Orchester hatte wieder einen kreischenden, hektischen Takt begonnen, einen Ton voller Süße, tränenerstickt und lachlustig, kitzelnd und schwül. Ejgil wandte sich unruhig um.

Caradek pfiff die Melodie: »Das ist › The happy little Minstrel‹.« Er sang leise den Text: » Kiss me, my honey! Come – come! Sie sind ganz verrückt nach dieser Melodie«, sagte er gereizt. » All the old girls! Zuletzt wollen sie den Nigger haben, der den Refrain da oben im Orchester brüllt. Als Tanzkavalier, wie? Schwarzes Fleisch! Strammes Parfüm! Aber das kitzelt sie in der Nase! Die Schwarzen sind unsere nächsten Rivalen, das sollen Sie sehen!«

Ejgil wandte sich auf dem Rohrstuhl um. Ulla stand noch im Gespräch mit der Dame, die Monsieur Chana Caradek verlassen hatte. Es war eine langgliedrige, stattliche Person, nackt fast bis zum Gürtel, von Brillanten glänzend und mit brandroter Perücke; sie glich einer Seeanemone mit ihrer Flut von Wimperhaaren. Jetzt wandte sie Ejgil ihr Profil zu, und er bemerkte zwei lange schwarze Augenspalten und eine blutrote, kleine Saugscheibe, ihren Mund.

»Wir haben Zeit«, sagte Caradek, »für unseren Cocktail. Meine hat sich Ihrer bemächtigt, und die läßt nicht so leicht los, was sie einmal hat! Sie haben sich vor dem Kriege getroffen – in Nizza, glaube ich. Sie kam ganz aus dem Häuschen, als sie Ihre sah. Ah, voilà – Ully – oder Ulla! Stimmt das nicht? Ulla – la, la, la!« Er nippte an seinem Glase.

»Meine«, sagte er, »ist nicht immer ganz leicht. Sie bildet sich ein, daß sie wie eine Pawlowa tanzt, aber die Wahrheit ist: sie ist schwer wie ein Heuschober. Man braucht eine Mistgabel, um sie umzudrehen. Und dabei schwitzt sie wie eine Kuhmagd!«

Er schüttelte bekümmert den Kopf, etwas Puder fiel von seinen Wangen auf den Atlasaufschlag seiner Abendjacke. Er blies ihn fort und warf einen Seitenblick nach der Spiegelwand der Barecke, strich sich durch die Wellen des Haares und lächelte seinem eigenen Bilde zu.

»Aber das ist noch nicht alles!« seufzte er. »Sie hat angefangen zu spielen. Sowohl jetzt im Winter in Aix-les-Bains wie auf einem nicht programmäßigen kleinen Abstecher nach Monaco. Obwohl ich sagte: ›Lassen Sie es, Madame!‹ Aber nein! Verlor vierzigtausend in fünf Tagen. C'est épatant! Nicht wahr? Ich bin selbst sparsam. Ich muß mir meine Garderobe selbst halten. Sie wissen, was das kostet! Allein das Unterzeug! Fast unmöglich, auch nur einen Sou beiseitezulegen. Und wenn sie dann noch spielt! Sie ist sicher sehr reich – oder vielmehr der Mann! – Aber was weiß man in diesen Zeiten!«

Er wandte die Augen und leerte seinen Cocktail.

»Wieviel bezahlt Ihre Ihnen?« fragte er.

Ejgil schwieg, er hatte ein Gefühl, als würde ihm ein Eislaken auf die Haut gelegt.

»Nun,« sagte Mr. Caradek, »Sie haben vielleicht keine festen Bezüge. Aber ich rate Ihnen doch, das sobald wie möglich in Ordnung zu bringen! Sie wissen nicht, was man alles erleben kann! Und dabei die Konkurrenz! Meine vorige wurde mir in Scheveningen von einem Griechen weggeschnappt, der frech in Shimmy unterrichtete, aber selbst wie ein Schneider tanzte. Jetzt bin ich klüger geworden. Ich habe einen festen Kontrakt. Garantiert dreitausend Franken monatlich und den Aufenthalt im Hotel. Und nur die Verpflichtung, zu tanzen.« Er verzog den Mund. »Alles andere ist extra. Und wenn es Krach gibt, so hab' ich Briefe genug für einen Skandal!« Er zog die pinselfein rasierten Brauen zusammen, um drohend auszusehen. »Und das würde nicht billig für sie sein!«

Ejgil saß schweigend da. Er sah plötzlich, daß alle Tänzer hier drinnen ganz junge Leute waren, schlanke Pagenkörper in straffen, schwarzen, atlasverbrämten Jacken, welligen Frisuren, die sich wie seidene Hauben um die ovalen gepuderten, schönen Gesichter schlossen. Alle tanzten wie junge Meister, geschmeidig, zärtlich und diskret. Und ihre Damen waren, alle wie eine, reichgekleidete, tief dekolletierte reife Frauen, wie Knaben frisiert, mit rasierten Nacken und einem nackten Rand um die Ohren, weiß wie der Bauch eines Olms, der die längste Zeit seines Lebens im Dunkeln verbracht hat. Bei anderen Frauen, schlanken, rabenschwarzen Typen, sah dieser Streifen unter dem Knabenhaar aus wie die Nackenflecken einer Schlange.

Das Orchester wiederholte den Walzer: » My honey, come! Kiss me, my honey!«

Mr. Caradek drehte den Kopf in dem hohen Kragen, ein ungepuderter, knallroter Adamsapfel schoß schamlos hervor. Er gurgelte noch einen Schluck Cocktail hinunter.

»Wieviel bezahlt sie Ihnen denn? – Ganz überschläglich!« forschte er. Sein Blick glitt katzenartig auf Ejgils Finger, wo er einen Ring, ein Geschenk Ullas, trug.

Ejgil schwieg, der andere musterte ihn fest. » Well «, sagte er langsam. » I see!« Er zuckte die Achseln bedauernd; aber sein Blick zeigte offenbare Verachtung.

»Ich verstehe«, wiederholte er. Er lächelte höflich. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, Monsieur!« Er verbeugte sich graziös. »Aber Sie sehen: ich glaubte, Sie seien einer der Unsrigen!« Er wippte geschmeidig mit dem Bein von dem Rohrstuhl herab.

In diesem Augenblick kam seine Dame, mit Ullas Arm in dem ihren, zu ihnen herüber.

Ejgil betrachtete die beiden Frauen: M. Caradeks Freundin klebte wie ein geschwollener, roter Vampir an Ulla. Und plötzlich sah er, daß Ullas Antlitz verheert war, daß die Linien um ihren Mund schmerzlich, gefurcht und hart, die Augen unter der Tusche müde, trübe und passé waren.

Ulla nickte ihm zu, lächelte und wollte ihn vorstellen. Aber er sah ihr Lächeln verschwinden, die Lippen wurden blaß, der Blick in Angst schwebend. Er ahnte, daß das die Spiegelung eines Ausdrucks war, den sie auf seinem eigenen Gesicht geprägt sah. Er wußte in diesem Augenblick, daß er hier war, was alle diese jungen Leute waren: professionelle Tänzer für eine Schar reicher Käuferinnen, bezahlte Kavaliere für die Verblühten, die früher beim Tanze Mauerblümchen waren, eine Art Mignons, die ihre Gunst, ihre Jugend, Anmut oder Liebe ältlichen, lebenslustigen Frauen verkauften. Similiprinzen, männliche Kokotten!

Er war wie sie: Jahrelang in Ullas Haus – als Sohn? Als Gast? Oder was? – Jetzt auf der Reise! Als was? Und schließlich hier beim Tanz, als sie bebend berauscht in seinen Arm gelehnt lag – da war er nur eines: der gekaufte Tänzer!

Er erblickte sich selbst in den Spiegeln um das Büfett. – Sah er nicht ganz wie die anderen aus: pagenhaft schlank, das Haar in üppige Wellen gelegt, die geschwungene Rückenlinie von der engen, schwarzen Jacke markiert! Genau wie die anderen: ausgesprochen feminin! Sahen alle diese Frauen hier mit ihrem Knabenhaar und der eingepreßten Brust wie verkleidete Männer aus, war ihr Blick ausgesprochen maskulin, erfahren abschätzend und wägend wie ein verwöhnter Käufer, so waren dafür ihre Kavaliere – und er selbst auch! – weichlich, verzogen, mit arbeitsscheuen, seidenweichen Händen. Wie Frauen! Wie Kokotten!

Die Erbitterung kam explosiv in ihm zum Durchbruch. Jetzt war es genug mit der Verzärtelung, mit den weichen Kissen, mit Traum und Dämmerung des Venusberges. Er erinnerte sich des Tages – seines Tauftages! –, da er in einem Zornanfall weggelaufen war und sich das Haar ganz kurz hatte scheren lassen. – Er hatte genug damals von der Rolle des verzärtelten, femininen Knaben! –

Er erinnerte sich der letzten Stunde im Theater, als er die erste Kraft der Bühne in schwarzem Trikot vom Gürtel abwärts ihre Weichteile von der Hüfte bis zur Ferse verliebt und berauscht in dem großen Spiegel des Foyers spiegeln sah. Narcissus! War er besser? Ein schmachtender Darsteller, der sich seinen Charme, jede Geste, jede Replik – ja zuletzt wohl seine Gunst bezahlen ließ!

Er erinnerte sich seiner Angst, als er im Aufwachsen in dem Spiegelscherben, den Kirsten ihm geschenkt hatte, sah, wie seine Züge Festigkeit erhielten. – Narcissus! Ihn ekelte das Gesicht dort im Spiegel: eine Maske aus gefärbtem Wachs, wie die Amorette über der Tür eines verdächtigen Hauses! –

Er begegnete Ullas Augen, wußte, daß sie im selben Augenblick in seinen Augen alles sah, was er dachte, was er fühlte, wie er selbst erkannte: die Stätte, wo sie sich befanden –, die Paare rings – den Markt, wohin sie ihn geführt –, die Freundin, die sie soeben mit Jubel begrüßt hatte! Einen verblühten, schiffbrüchigen Polypen!

Er sah, wie sie weiß, schwach wurde – fast umsank, unwillkürlich hob er den Arm, um sie zu stützen, aber sie duldete seine Berührung nicht.

Sie flüsterte ruhig, aber mit zusammengebissenen Zähnen: »Komm, laß uns heimgehen.« –

Sie saßen sich gegenüber in ihrem Wohnzimmer im Hotel. Sie hatte selbst das Gespräch so geführt, wie es, das sah sie, am leichtesten für ihn zu ertragen war; seine zerquälte Stummheit jammerte sie beinahe mehr als die unsagbare Entbehrung, die, wie sie fühlte, von jetzt an ihr Los wurde.

Längst hatte sie alles verstanden, und er wußte, daß sie verstanden hatte. Betrübt und schlaff zugleich sah er ihr Gesicht, das sie auf die geballten Fäuste stützte: eine gealterte, sorgenvolle, verheerte Frau – die hatte er geliebt – bis heute! Er wurde von Unruhe gejagt, wäre am liebsten fortgelaufen. Aber er mußte ganz hindurch, sie verdiente es um ihn, daß er aufrichtig war, daß er nicht aus falsch verstandener Schonung auswich.

Sie sah auf. In ihren Augen war das alte Strahlen:

»Du verläßt mich, nicht wahr?«

Er schwieg. Auf diese Frage mußte ihr Stummheit die Antwort sein.

Ihre Stimme bebte in unbeherrschter Qual:

»Ich verliere dich – für immer!«

Sie dachte: Für die Frau, die den Mut hat, zu gestehen, daß sie es ist, die den Verlust erlitten – für sie ist alles im Ernst verloren. Sie hätte zu Ejgil sagen sollen: »Du hast mich verloren!« – Jetzt zeigte sie sich ihm in ihrer ganzen Schwäche – zeigte, daß sie zu ihm getrieben wurde, in Entbehrung, in Qual –, ließ ihn fühlen: daß sie ihn jagte. Und ein Mann, der sich von einer Frau gejagt sieht: er flieht!

Aber jetzt war es gesagt. – Und was nun?

Ihr Blick wurde still, weich, sie sah ihn an, behutsam und mild, fühlte plötzlich, daß er ja doch nur ein Knabe war – ein aufgeriebener, verzweifelter Knabe, der zu ihr als zu seiner Mutter kam, um Trost und Linderung zu finden.

»Ejgil, du weißt, daß ich dir helfen will – daß alles zwischen uns sein kann wie früher –, und wenn du willst – daß du frei bist, gehen kannst, wohin du willst! Aber warum? Hattest du es nicht gut bei mir? Hatten wir nicht hundert Freuden gemeinsam – daheim, wenn wir studierten; dann die Kunst, oder wenn wir der Musik lauschten – und nur dadurch, daß wir zusammen waren? Und jetzt, als wir reisten? Der Tag im Garten der Villa d'Este, als wir von der Terrasse unter den Zypressen in die Campagna sahen! Waren das nicht schöne Tage? Und müssen sie ganz vorbei sein?«

Er fühlte es in sich kämpfen, Kräfte und Wille, die unerbittlich vorwärts drängten: Ja, die Tage waren vorbei!

»Ulla!« sagte er schonend. »Ich kann nicht bleiben, jetzt nicht mehr – es war schon längst ganz vorbei. Ich wußte es nur nicht. Dies müßige Leben! – Es waren nur Kapricen, wenn wir mit Kunst und Wissenschaft, mit uns selbst, mit allem spielten. Ulla,« er berührte demütig ihre Hand, »ich muß fort, in andere Verhältnisse. Finde einen Plan für mich – wähle mir ein Fach.«

Sie blickte erstaunt auf: »Eine Spezialität? Du, der das Spezialstudium verachtet, das den, der es pflegt, zum Toren in allen anderen Dingen der Welt macht und nur zu zweifelhaftem Nutzen ist!«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Ejgil. »Aber ein Fach ist notwendig, wenn ich eine unabhängige Stellung in der Welt finden will. Ich muß wohl arbeiten, ehe ich Platz bekomme, mich frei zu fühlen. Daher muß ich durch das Fach hindurch. Die Frage ist nur, welches. Es ist recht gleichgültig, welches ich wähle. Ich eigne mich wohl für jedes ebenso gut und ebenso schlecht. Werde leicht und schnell lernen, was erforderlich ist; in kürzester Zeit und ohne größeres Ungemach kann ich wohl noch die verlangten Prüfungen bestehen. Ich finde sicher auch die Mittel zu meinem Unterhalt, bis das Studium vorbei ist. Ich weiß, daß ich für ein ganz Teil Dinge zu gebrauchen bin.«

»Und ich darf dir nicht helfen – gar nicht?«

Er ging darüber hinweg: »Laß mich selbst versuchen. Es wird schon gehen – es wird sicher gehen! Wenn nicht, dann – Wir scheiden ja nicht, Ulla – nie ganz. Treffen uns oft auf jeden Fall.«

»Du hast deine Freiheit«, sagte Ulla still. »Und willst du, so kannst du auf meine Hilfe zählen.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie suchte forschend seinen Blick, ihre Stimme wurde zögernd und tonlos:

»Es ist eine andere – nicht wahr?«

Er sah verwundert auf. Plötzlich war es ihm klar. Er sah ein, daß sie recht hatte:

»Ja,« sagte er, »es ist eine andere.«

Entzückt dachte er: Eine andere! Plötzlich wußte er, daß er sie sehen, sie schnell aufsuchen, mit ihr reden mußte, ehe es zu spät war! Ein Stich ging ihm durchs Herz: Ehe es zu spät war!

Er erhob sich entschlossen, sagte, daß er jetzt ausginge. Aus? Nein – er käme wieder – käme sehr bald wieder! Es wäre ja noch nicht spät, sie könnten nachher weiter über die Sache sprechen.

Sie legte ihre Hand behutsam auf die seine: »Ejgil, wenn du willst – so bringe sie mit.«

Er riß seine Hand mit einem Ruck los in plötzlichem Protest, fühlte, daß ihr Angebot der endgültige Bankerott ihres Verhältnisses – möglicherweise eine Falle war! Er erhob sich, jetzt ganz beherrscht, seines Weges sicher, sagte ihr sein Lebewohl, fast zerstreut, vergeßlich für das, was vorbei war!

Ulla blieb allein auf ihrem gewohnten Platz in der Sofaecke an dem großen Kachelkamin sitzen. Durch die Balkontür konnte sie einen Flügel von der breiten Silhouette des Louvre sehen und jenseits des Tuileriengartens: die Kaserne an der Seine, den fernen Lampenschimmer, der wie ein Lichtbogen gelb und bleich über den Kuppeln auf dem linken Ufer ausgespannt war.

Sie wandte den Blick ab, im Grunde war sie der Stadt müde. Der Salon hier im Halblicht der blassen Seidenvorhänge und mit den roten Damastmöbeln verstimmte sie durch seinen preziös banalen französischen Geschmack. Sie fühlte, daß sie diesen kalten, weißlackiert-goldenen Louis-Seize-Stil haßte. Wie trivial war doch diese glatte Luxuswelt, in der sie stilvoll und rationalistisch zugleich gelebt hatte. Das war ihre Zeit gewesen trotz der radikalen Kultur jeder Art: ein neues Rokoko, geistreiche und elegante Männer, die verfeinerten und zynisch frivolen Frauen der Beaumonde. Wo waren sie jetzt alle – alle die ihren?

In einem war sie sicher: Der Krieg hatte nur sehr, sehr wenig verändert, trotz des Todes von Millionen, der Umwälzung und der schiffbrüchigen Wirtschaft. Es gab einen sorglosen Oberklassenkreis von Jungen jetzt wie früher, aber es war nicht ihre Zeit! Der Tanz ging dreister, weit ausgelassener über die Welt als früher. Tanzte man doch über Gräber. Und der Ton der Zeit war ein neuer, ausgesprochen und eifrig, sehr musikalisch, aber nicht gerade tiefsinnig. Die Intelligenz des neuen Geschlechtes mochte wohl durch den Krieg verlorengegangen sein. Im übrigen hatten Geist und Schönheit auch zu ihrer eigenen Zeit kaum viel bedeutet, der Unterschied war also nicht groß. Nur sie selbst war eine andere. Sie war nicht mehr jung! –

Ejgil! – Ob ihm wohl anderes zugestoßen war, als daß er von einer jüngeren angezogen wurde? Er hatte stets unter Frauen oder unter alten Leuten gelebt – wie ein unmündiger Knabe, der sich in der Frauenstube aufhält und bald von einer Geliebten träumt.

Wenn er nun wiederkäme –! Sie könnte seinen Kopf zwischen ihre Hände nehmen und ihn auf die Stirn küssen wie einen Sohn – auch wenn er nicht allein käme! Und ob die, die er jetzt draußen in Paris suchte – wer sie auch sein mochte –, ob sie wohl die letzte Frau in seinem Leben wurde? Sein Weg ging sicher durch eine Allee von Frauen wie eine Wanderung unter Palmen!

Sie war hiergeblieben, saß da und dachte an die Jahre, die vorbei waren. Wie verschmähtes Spielzeug lagen alle Geschenke, die sie ihm gemacht hatte, da: Bilder, die sie beide geliebt, Bücher, deren Geist und Wissenschaft sie gemeinsam erforscht hatten, Musik, die sie auf denselben Rhythmus gestimmt hatte. Wie zerbrochenes, weggeworfenes Spielzeug lag das nun zu ihren Füßen, kindische Versuche, verworfenes Wissen, ungelöste Probleme. Für sie wurde die Zeit, die kam, nur ein schwermütiges Warten – die lange Dämmerung des Lebens.

Versteinert starrte sie auf ihr Bild im Spiegel am Kamin: Es war eine Maske, nicht ihr Antlitz, das sie darinnen sah – die pinselscharfen Brauen, das kurze, dunkelrote Haar, der bittere Zug um den Mund –, eine machtlose Medusa!

Und langsam verstand sie, warum er ohne Kummer, fast erschreckt durch ihre Nähe, geflohen war – und warum sie ihn kraftlos gehen ließ:

Er sehnte sich nach einer Mutter, die er einmal verloren hatte – er fand in ihr eine Geliebte, verheert und doch fordernd – und fühlte sich verraten. –

Ejgil war aus dem Aufzug des Hotels mitten auf die Straße gelaufen. Er sah sich um: Rue continental – drüben wie ein Schlund im Licht der Concordeplatz, der jetzt leer und öde war. Er mußte Menschen sehen und mehr Licht. Er lief.

Die Opera-Avenue – der Boulevard! Die vierfache Prozession der Automobile in Blitzfahrt über den Asphalt, der jetzt nach dem Regen spiegelblank und schwarz wie Pech war. Die Lichtreklame entsprang gleich Eisblumengärten am Himmel. Endlich! Allein und frei, mitten in Paris!

Er grübelte einen Augenblick, ein wenig unsicher: War er aus dem Käfig entwischt? Oder erst im Ernst in die Falle gegangen? –

Er dachte an seinen toten Onkel: Baron von Tottenberg! Verließ er nicht selbst eine herrliche Traumzeit in der Gletscherspalte mit der Aussicht auf das schöne Alpenglühen über dem Schnee? Oder war es nur die Ruhe des Kältetodes, aus der er jetzt erwacht war?

Er lachte und schritt aus, drängte sich mit den Ellbogen durch das Gewimmel. – Auf alle Fälle war er vorläufig vollkommen frei, losgelassen in Paris und wollte nun Jenny finden, die, wohl müde und verzweifelt, auf dem Bürgersteig der Rotonde wartete. Jetzt kam er!

Er lief wie ein Knabe, vollkommen ausgelassen. An der Haltestelle des Omnibusses blieb er stehen. Er liebte dies Donnergetöse, das die engen Straßen durchdröhnte. Er schob sich durch das Gedränge und wollte eine Platznummer von dem Ständer der Haltestelle reißen; ein dicker Franzose, mit einem Bauch, der sich wie ein Vorgebirge majestätisch über dem offenen Überzieher wölbte, gab ihm einen Puff und schnappte ihm die Nummer aus den Fingern.

»Verzeihung, Monsieur, die Nummer gehört mir!«

Sie starrten sich in die Augen. Jeder hielt die Hälfte der Nummer in der Hand. Der Spitzbart des Franzosen wippte an dem riesigen Kinn wie der Schwanzstachel eines Rochen.

Der Omnibus kam mit Getöse. Der Führer rief die Nummern auf. Ejgil sprang auf die Plattform. »Nummer sechzehnhundertdreißig.« »Hier!« Der französische Herr sprang gleichzeitig zu, sie hingen beide auf dem untersten Trittbrett, mit einer Hand an das Geländer der Plattform geklammert. Ejgil spürte, wie sich der Riesenbauch des Kolosses gegen seine Brust preßte – ein Alpdruck!

»Hängen Sie sich den Bauch an den Rücken«, schlug er gereizt vor.

Der Franzose kreischte hysterisch auf.

»Raubmörder, Schwein, dreckiger Flegel!« schrie er mit Fistelstimme.

»Mastodont!« Ejgil wurde wütend. »Riesenelefant, Anachronismus! Fahren Sie nach dem Jardin des Plantes und stellen Sie sich unter den vorsintflutlichen Tieren auf!«

Sie zankten sich während der ganzen Fahrt. Ejgil fühlte mit Stolz, daß er jetzt zum erstenmal in seinem Leben einen erwachsenen Mann ausschalt.

Wie ein Erdbeben stürmte der Omnibus über den Boulevard mit einem Donnern, als wenn tausend Tonnen Blechabfall aus den Wolken herunterpolterten. Ejgil mußte schreien, um von seinem Gegner gehört zu werden, und er hatte ein Gefühl, als hätte er einen Donnerkeil gepackt und leitete das ganze Erdbeben.

 

* * *


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