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Das Verhör Schwester Sylvias hatte nur geringe Ergebnisse. Als Kammerjunker Sanders und seine Schwester sich entschlossen, den Knaben zu sich zu nehmen, gingen sie die Akten durch, um alle Aufschlüsse, namentlich über seine Herkunft, zu sammeln. Aber das einzige, was der Untersuchungsrichter aus der Arrestantin herausbekommen hatte, war, daß er Ejgil hieß. Ihre Antworten waren ohne Zusammenhang, allmählich versank sie in Stumpfsinn und wurde schließlich als verrückt in öffentliche Fürsorge gebracht.

Über diese Tatsachen hinaus lagen nur Vermutungen vor.

Das Asyl lag auf einer unbebauten Gemeindewiese am äußersten Ende von Nörrebro. Stapelplätze für Bauholz und Blechabfälle umgaben auf allen Seiten die baufällige Holzvilla, die der Rest eines alten Landgutes und im Jahre 1830 von dem Besitzer, Generalmajor von Gadebusch, als Heim für Waisen und verwahrloste kleine Kinder geschenkt war.

Die Bewohner der neuen Häuser, die in den letzten Jahren auf dem Grunde der Gemeindewiese entstanden waren, hatten längst die finstere Villa scheel angesehen, deren Schornsteine sich undeutlich über einem wild gewachsenen Garten abhoben. Sie wußten, daß es ein Asyl war, aber nie sah oder hörte man spielende Kinder. Totenstille herrschte stets über der Stätte, nur hin und wieder ertönte das jaulende Gekläff der großen Hofhunde, die offenbar auf dem Holzplatze eingesperrt waren. Des Nachts hörte man ihr Heulen rings über das öde Terrain.

Aber die Vorsteherin hatte man beobachtet, wenn sie ganz früh am Morgen ausging, mit dichtem Schleier vor dem Gesicht und in langem schwarzen Mantel. In der Hand trug sie stets eine große Tasche aus Wachstuch. Es wurde später bekannt, daß sie die Schlachter in den fernsten Stadtteilen, ja selbst die Buden des Viehmarktes besucht und immer Abfallfleisch, Eingeweide oder große Knochen gekauft hatte.

Auch der patrouillierende Schutzmann hatte die auffallende Stille im Garten des Asyls bemerkt, der durch einen Lagerplatz vom Wege abgeschnitten war. Nur ein Steig führte zwischen zwei Zäunen zu einer geschlossenen Plankenpforte. Aber die Polizei hatte kein Aufsichtsrecht, da das Asyl unter der privaten Pflegschaft von dem Enkel des Gründers, Jagdjunker von Gadebusch, einem reizbaren Sonderling, stand, der in äußerster Zurückgezogenheit lebte. Erst nach seinem plötzlichen Tode fand die Polizei Anlaß zu einer Besichtigung.

Zeugen erhellten im Verhör eine Reihe von Punkten aus Schwester Sylvias Vergangenheit, als sie zuerst Lehrling, später Pflegerin im großen staatlichen Krankenhaus war. Man erinnerte sich ihrer: blond, sicher und lächelnd in der gebleichten Leinentracht, wie ein Hauch von Sonne und Salz, der durch den Karboldunst der Abteilung fuhr. Ihr Arm, der den Kopf der Patienten stützte, war frisch wie ein Büschel Klee. Sie war den jungen Assistenten ein kecker, munterer Kamerad, und wenn der gefürchtete Chefarzt, der berühmte Chirurg Professor Israel, operierte, war Schwester Sylvia die Aufgabe anvertraut, ihm die beiden Zipfel seines langen Bartes mit einer Pinzette im Nacken zusammenzuheften – mit Rücksicht auf sein Dejeuner, wie er sagte.

Sie erhielt die Stellung als Leiterin des Asyls, weil sie von allen wegen ihres reichen, aufopfernden Gemüts gelobt wurde.

Das Asyl war vernachlässigt. Die Pflegemutter war eine korpulente ältere Frau in großgeblümtem Kattun gewesen; sie saß unter einem Apfelbaum und strickte Kinderjäckchen, liebenswürdig und schläfrig, zahnlos schmatzend nach dem Genuß des Gläschens Johannisbeerschnaps, das sie allstündlich genoß.

Aber für Schwester Sylvia war das Asyl der Garten des Paradieses selbst, als sie jetzt im Spätsommer zum erstenmal über die grünen Rasenplätze sah, wo die wilden Blumen munter hervorguckten und die Säuglinge des Asyls, aus ihren Korbwiegen genommen, auf wollenen Decken in der Sonne lagen. Ach, viele von ihnen waren mager und blaß, mit Insektenstichen am ganzen Körper, aber sie zappelten froh und lachend, wenn sie sie in ihren Armen einlullte. Sonnenblumen nickten von den schwarzerdigen Beeten, die reifen, ungeernteten Äpfel beugten die Äste der Bäume herab. Und die größeren Kinder krabbelten im Kies und betrachteten die neue Pflegemutter mit großen, ruhigen Augen.

Verwundert, tief dankbar für Sonne und Sterne, fühlte sie den Garten zwischen ihren Händen sprießen. Das war nicht wie früher das Krankenhaus, wo träge Rekonvaleszenz der einzige Trost des Tages war; hier wuchs das Leben vom Keimblatt zur Blume aus der frischen Erde. Wie eine Welle ging das Jahr: Erst Schneeglöckchen und Krokus, dann das üppige Blühen des Sommers. Und im Winter, wenn der Garten unter Schnee schlief, träumten auch die Kinder in dem großen, warmen Saal, während der Ofen prasselte und alle Schatten sich wie fächelnde Schwingen leise an der Decke wiegten.

Nur in den finsteren Novembernächten spürte sie Unruhe. Dann ertönte das Bellen der Hunde vom Holzplatz lärmend und jammernd draußen in der Nacht, wo der eisige Wind dahinfuhr, wo der Regen dröhnend auf Dachpappe und Bretter schlug. Sie kauerte sich in Grauen zusammen und wußte, daß vor ihrem Garten die Welt böse, roh und hart lag, und daß schlaflose Seelen naß und zaghaft in der rabenschwarzen Nacht umherschlichen.

Ihr schien, sie könnte sie zu sich hereinholen, alle diese friedlosen Geschöpfe, ihnen allen ihre Welt mit Wärme und Sonnenschein öffnen, ihre Arme waren leer, waren arm, wenn sie nicht alle mitkamen. Am Morgen ging sie hinaus und lockte und rief, bis die Hunde an der Öffnung erschienen, die sie durch den Zaun gebrochen hatte. Sie fraßen ihr aus der Hand. Eines Tages kroch ein Hund durch den Zaun. Er war krank und verhungert, und sie ließ ihn dableiben. Er lag auf dem Rasen bei den Kindern, und die Kleinen zausten ihm den Pelz. Es war ein lichtscheuer Hund, der nur die Nacht kannte, aber sie überwand seine Furcht vor der Sonne. Nie hatte sie sich selbst so gegeben wie jetzt. Sie kannte jede Blüte und jede Knospe, jeden Vogel, der im wilden Wein des Giebels baute, jedes Nest mit zwitschernden Jungen. Sie streute Krumen vom Zwieback der kleinen Kinder über den Kies, und die Vögel kamen so nahe, daß sie Bröckchen nahmen, die ihr auf die Schuhe fielen.

Ein sechzehnjähriges Mädchen war ihre einzige Hilfe; es half, wann es Lust hatte, bald mit albernem Eifer, bald sauertöpfisch. Es war neidisch auf Kinder und Tiere und hatte eine Liebschaft mit einem anrüchigen Kerl im Viertel, der abends hinter dem Zaun pfiff. Und Thekla schlich sich hinaus hinter die Stapel des Holzplatzes, wo sie blieb, bis es hell wurde. Schwester Sylvia war zu sanft, um zu schelten. Sie nahm den Kampf allein auf, machte die Wiegen der Kinder zurecht, gab ihnen Milch aus ihren Flaschen und den Tieren ihr Futter. Sie hatte andere Hunde zu sich genommen, die durch das Loch im Zaun schlüpften und in ihrem Garten blieben, halbwilde und halbverkommene Hunde des Holzplatzes.

Jeden Termin mußte sie dem Schutzherrn des Asyls Rechenschaft ablegen. Forstjunker Gadebusch empfing sie in seinem japanischen Boudoir, in einen lila Kimono gekleidet, auf einer rohrgeflochtenen Massagebank ruhend, von einem frisierten Pikkolo bedient. Er machte nur eine Handbewegung: Die Abrechnung, linke Kommodenschublade oben. Aber mit jedem Termin wurde der Zuschuß, den er dem Asyl bewilligte, knapper. »Teure Zeiten,« sagte er, »Zinsverlust. Setzen Sie die Ausgaben herab.«

Als zwei Kinder von den zehn, die die feste Zahl des Asyls ausmachten, in ein Stift für Größere gebracht wurden, erklärte er, daß die Plätze vorläufig nicht besetzt würden: es müsse gespart werden.

Von den Frauen, die ihre Kinder im Asyl besuchten, wußte Schwester Sylvia nur sehr wenig. An zwei von ihnen konnte sie sich später erinnern. Die eine war ein großes, dunkles, ganz junges Mädchen. Sicher Ausländerin. Sie kam und nahm eines der Kinder auf den Arm, wiegte es still und weinte ein bißchen, ehe sie ging. Nur dreimal kam sie, dann war sie vermutlich abgereist. Die andere war kaum mehr als ein Kind, mit blonden Locken, immer atemlos, wenn sie kam; sie brachte Spielzeug für alle Kinder des Asyls mit, kleine, billige Holzdinge, und einmal eine sehr teure Puppe in einem Pariser Kleid, mit der sie selbst spielte, während sie unter dem Apfelbaum saß und ihr Kind auf dem Kissen zu ihren Füßen schlief. Sie war sicher vom Theater. Aber wer sie war – oder die andere – und welches ihre Kinder, ob sie später unter denen waren, die starben, als der Scharlach kam, das hatte Schwester Sylvia vergessen. Stumm, versteinert stand sie vor dem Richter. Wußte es nicht. Es war vergessen – war vorbei. –

Der Garten begann zuzuwachsen. Sie kämpfte gegen das Unkraut, sie jätete und beschnitt, aber die Zweige wuchsen störrisch über die Gänge, Unkraut wurde hereingeweht und säte sich selbst zwischen den Rosen. Für fremde Hilfe waren keine Mittel da, selbst nicht, als sie auf eigene Verantwortung noch einen ledigen Platz im Asyl unbesetzt ließ. Es hieß Milch und Kleidung für die Kinder, Futter für die Tiere zu beschaffen. Sie mühte sich ab vom frühen Morgen, wachte die Nächte hindurch, war geschäftig und pflegte, kämpfte mit dem wilden Wachstum des Gartens. Thekla war keine Hilfe, und eines Tages verschwand sie mit allem Kinderzeug und allem Geld, das sie in der Eile zusammenraffen konnte. Schwester Sylvia wußte, daß Thekla selbst ein Kind gebären sollte, und so schwieg sie. Kurz darauf war der Scharlach ausgebrochen. Thekla hatte ihn aus ihrem Heim irgendwo draußen in einer unflätigen Kaserne mitgebracht.

Wie eine Wildnis lag der Garten jetzt da. Würfe junger Hunde wuchsen auf, die wilden Hunde brachen durch den Zaun in den Garten ein. Huflattich und Winde schlängelten sich über Gänge und Beete, Dornbüsche krochen über die Rasenplätze des Gartens. – Und Schwester Sylvia verstand plötzlich, daß nicht der Erstickungstod kam, sondern neues Leben, das vorwärts drängte, wandernder Samen, lebende Keime, die Platz forderten, wachsen, blühen und befruchtet werden wollten; sie sah, daß Wildgras und Wegerich ebensoviel Anrecht auf Boden und Licht hatten wie Rosen, es war Leben, das leben wollte. Keime, die atmen, Seelen, die geliebt und der unendlichen Güte der Natur teilhaftig werden wollten. Man durfte sie nicht hindern, sie waren wie die friedlosen Tiere, die in den regennassen Nächten jammerten. Die Wildnis hatte recht, sie konnte nicht aufgehalten werden, sie hatte dasselbe Recht auf Liebe wie die zahmen Blumen mit den prangenden Farben und ihrem Duft. Sie ließ sie kommen. Es war Platz für sie alle, hier war ja das Asyl für all die Verdrängten, all die Verfolgten, hier im Garten der Unschuldigen.

Als aber die Epidemie kam und die Kinder krank wurden, pflegte sie sie selbst. Sie war ja in der Pflege erfahren, wagte nicht, Fremde in dieses Haus zu rufen, wo die halbwilden Hunde neben den Wiegen der Kinder schlummerten, wo der Garten Wildnis und Morast war. Die Kinder starben in ihren Armen, eines nach dem anderen hielt sie, bis sie starr und kalt waren. Sie trauerte nicht. Sie wußte, daß Kinder Seelen waren, die aus einer unbekannten, wunderbaren Welt kamen und eine Weile in ihrem Garten blieben. Jetzt zogen sie zurück, wie Zugvögel, von der Sehnsucht getrieben, nach Süden und Sonne entfliegen. Einen flüchtigen Sommer waren sie hier ihre Gäste, fuhren dann fort, keiner wußte mehr etwas von ihnen, keiner fragte nach diesen abgeschiedenen Kindern; über ihre Gräber dort auf dem Rasen breitete sich das Dornengebüsch. Sie waren vergessen hier auf Erden, Gott hatte sie zu sich genommen. –

Sie saß hier noch mit einem Kind in ihren Armen, dem letzten, einem Knaben. Er schlief an ihrer Brust, während sie stundenlang still dasaß und über ihren Garten blickte. Selbst wenn seine Augen geöffnet waren, glich er einem schlummernden Kinde. Jetzt träumte auch er von den Gefilden, wo die anderen hinfuhren. Sie fühlte ihre Seele verebben und verbluten, bald war alles hingegeben, und das Leben war ohne Grund wie zuvor, Leid und Schrecken draußen ungelöst wie zuvor.

So saß sie da und wartete. Heulend und wild jagten die Köter im Garten umher, der Boden war löcherig, Grube an Grube, wie eine Stätte, wo Schakale hausen. Spülwasser war durchgesickert und bildete, schleimig und grün, stinkende Pfützen. Die Bretter des Hauses waren morsch von Schwamm und Feuchtigkeit, Ratten krochen dreist unter Lumpen und Kot in den leeren Stuben hervor, obwohl die Hunde sie jagten; langsam wie Schnee rieselte Gips vom Stroh der Decken herab. Im Kamin lag schwarzes, verkohltes Papier aufgehäuft, alles, was von Namen und Herkunft derer zeugte, die nicht mehr hier auf Erden waren.

Hier wurde sie gefunden, als die Polizei einbrach, todmüde eingeschlafen, das lebende Kind ganz wach in ihrem Arm.

 

* * *


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