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Ejgil durchstreifte oft auf eigene Faust Paris. Seine Nerven waren in Unruhe, das Zusammensein mit Ulla wurde oft unerträglich, er vermochte nicht mehr das Verlangen zu unterdrücken, das ihn zu ihr trieb. Er konnte plötzlich ohne Abschied aufbrechen, wenn sie zusammen waren, fühlte, wenn er ging, das stille Fragen ihrer Augen und sah aus dem Lächeln um ihre Lippen, daß sie sich selbst die Antwort gab, die er zu verheimlichen suchte: Ich weiß, du gehst, weil du mich liebst!

Er wurde von Eifersucht gequält, wenn sie ihren Kreis aus früheren Tagen traf; oft waren es Männer, deren Blicke, wenn sie die ihren suchten, von einer Erinnerung flüsterten, die sie ihm verschwieg. Er erinnerte sich, daß einer dieser Männer in den Jahren, die er in ihrem Hause verlebt hatte, ihr ständiger Gast gewesen war. Er dachte sich damals nichts weiter dabei, jetzt rief er sich Abende ins Gedächtnis zurück, da sie zusammen mit dem anderen fortgegangen war. Wohin? In ein Konzert – ins Theater? – Vielleicht zu ihm! Sein Name war Berenskjöld – er wohnte augenblicklich in Paris, war Schwede und hatte einen Posten bei der Gesandtschaft, wie er wußte, der Typ eines Weltmannes, ein schweigender Charmeur, graumeliert an den Schläfen, von äußerstem Schliff. Er hatte unangemeldet Zutritt bei Ulla. Und wenn er Ejgil ansah, lag in den kleinen feinen Fältchen um seine Augen ein Zug milder Ironie – nur ein einziges Mal – dessen erinnerte Ejgil sich, ein Ausdruck merkwürdiger Reizbarkeit, schlecht beherrschten Zornes!

Sie hatten zusammen in einem großen italienischen Restaurant gegessen, und als sie sich trennten, geschah es, daß Ejgil Berenskjöld aus dem Gleichgewicht gebracht sah.

Er flüsterte Ulla ein unhörbares Wort zu, und Ejgil erfaßte ihre kurze Antwort. »Das ist meine Sache!« verstand er. Als sie mit Ejgil heimfuhr, schwieg sie verschlossen.

Er folgte ihr durch den Korridor des Hotels, in dem sie wohnten, bis sie Ullas Tür erreichten. Einen Augenblick stand sie still da mit der Hand auf dem Türgriff. Er sah das weiße Oval ihres Gesichtes in dem Rahmen des schweren, dunklen Haares leuchten. Und für einen Augenblick sah er einen verschleierten, tränenfeuchten Glanz in ihren Augen. Sie zögerte, auf ihre Lippen trat ein Beben, ein Flüstern, fast wie ein Rufen. Der schwere Pelz war von ihrer nackten Schulter geglitten, Ejgil wurde betäubt von dem heißen Duft ihrer Haut, den er ahnte. Als er aber seine Hand zu ihrem Arm erhob, lächelte sie nur still, die Wimpern bargen ihren Blick ganz, und leise wie eine Liebkosung kam ihre Stimme: »Nicht jetzt! Warte!« –

Er streifte umher auf Boulevards und in Parks, in den Gassen um die Hallen, in den alten Straßen an der Seine. Er haßte Paris, es war ein Labyrinth, wo die, die er suchte, sich beständig verborgen hielt. –

Oft besuchte er die Cafés auf dem Montparnasse. Dort verkehrten verirrte Vagabunden wie er selbst, die er gleichzeitig verachtete und liebte. Es war ein Schwarm träger oder lüsterner Marodeure. Immer dieselben zwei Typen: Aas und Schakal, Schiffbrüchige und Strandräuber. Sie waren eigenartig gekleidet, banale Kopien einer Murgerschen Boheme – mit Sancho-Pansa-Hüten über beuligen Fratzen oder wie Don Quichotte mit Samtbarett und Spitzbart. Die kleinen Dirnen der Straße kamen auf schiefgetretenen Lackschuhen angetrippelt mit allem, was sie auf der Welt besaßen: Zahnbürste und Puderquaste im Seidenbeutel, der an einem kleinen, runzligen Rosenfinger schaukelte.

Havaristen aller Art saßen hier wie Schwamm an der Hausmauer, klebten den ganzen Tag am selben Tisch. Sie zogen schlaff ihren Sirup durch einen Strohhalm ein, stritten sich auf Russisch, Polnisch oder Spanisch und verkauften heimlich in der Toilette des Cafés Kokain an die verkommenen kleinen Kokotten.

Hin und wieder traf Ejgil Landsleute, meistens Touristen mit ihren Damen, die das lichtscheue Paris wie die intime Abteilung eines Wachsfigurenkabinetts besahen, hin und wieder auch Künstler; er mied sie nach Möglichkeit.

Aber eines Tages sah er einen blonden Mädchennacken, unbedingt nordisch, einen blütenhaften, leicht daunigen Hals über einer Bluse, die sicher aus dem Bon Marché stammte. Sie saß allein an einem Tisch mit einer Tasse Tee, hatte sich offenbar selbst einige Scheiben Brot in ihrer Tasche mitgebracht. Das war also heute ihr Mittagessen. Etwas an ihrem Rhythmus kam ihm bekannt vor, er setzte sich in die Nähe und konnte nun ihr Gesicht sehen. Jetzt erkannte er sie gleich. Es war Jenny vom Theater. Er grüßte, begegnete einem forschenden Blick aus den beschatteten Augen. Jetzt erinnerte sie sich offenbar auch seiner, ihre Mundwinkel bebten ganz leicht, als wäre ihr die Begegnung nicht ganz lieb. Er spürte eine eigene, kraftlose Freude, zugleich eine unklare Angst, als er Jenny hier sah.

In geringer Entfernung saß ein schwarzäugiger Herr mit fest geformtem Frauenmund, eine elastische Rückenlinie in dem strammsitzenden Jackett. Er schien ihren Blick fangen zu wollen. Jetzt grüßte er mit einer Verbeugung. Ejgil setzte sich an ihren Tisch. Er hielt es für am richtigsten, seinen Namen zu nennen. Sie hatte die langen Wimpern gesenkt, der Ausdruck wurde schwermütig. Ja, sagte sie, selbstverständlich erinnere sie sich seiner.

Es war, wie er erwartet hatte. Ihr Debüt war ausgeblieben, Frau Harriet erlaubte keiner Novize vorwärtszukommen. So hatte Jenny die Bühne verlassen. Er zuckte unwillkürlich die Achseln. Nun, was tat das? Es gab genug für das schmutzige Fach!

Sie saßen beide schweigend da. Sie interessierte ihn, gleichzeitig fühlte er die Gefahr, die darin lag, wenn er die Bekanntschaft fortsetzte. Nach allem zu urteilen, ging es ihr schlecht, sie war allein, mittellos und daher vollkommen hilflos hier in Paris. Er sah verstimmt auf die verkommenen Typen um sich her, den kleinen Klumpen landflüchtiger Russen, die unrasiert und mit schmutzigem Hemdkragen an ihrem Stammtisch Domino spielten, die kleinen Dirnen, die mit Asphaltschmutzspritzern auf den hohen Knopfstiefeln, todmüde und halb schlafend auf ihren eisernen Stühlen saßen; ihre billigen Parfüms trieben säuerlich vorbei, vermischt mit dem brenzligen Geruch des Kaporaltabaks. Der schmutzige Asphalt draußen und die häßlichen, grauen Kasernen des Boulevards trugen das bleiche Gepräge der Armenvorstadt. Festlich allein glühten die zwei kleinen roten Lampen des Metro-Eingangs durch den Nebel.

»Sie sind allein hier in Paris?« fragte er schließlich.

Sie nickte.

»Kennen niemand?«

»Einzelne.« Er fand, daß sie das ein wenig forciert feststellte. – Hätte sie hier im Café auf dem Montparnasse getroffen.

»Ich kam hierher«, erzählte sie, »gerade vor Ende des Krieges. Am Theater gab es nichts mehr für mich, da suchte ich eine Stellung. Ich hatte immer ins Ausland gewollt. Zu Hause bleiben, wissen Sie – wir sind fünf Schwestern – da reiste ich.«

»Haben Sie – eine Stellung hier in Paris?«

»Jetzt nicht mehr. Ich kam mit einer Familie her, die zur französischen Gesandtschaft in Kopenhagen gehörte. Ich sollte ein paar Kinder pflegen. So kam ich nach Paris.«

»Aber jetzt sind Sie stellungslos?«

Sie nickte, sagte ihm aber nicht den Grund. Er beobachtete sie heimlich. Sie war recht verändert seit der Zeit, als sie sich am Theater getroffen hatten. Gereift, fand er, fester in allen Zügen. Das Haar war im Nacken kurz geschnitten, wie es jetzt Mode war. Das Kindliche war so gut wie ganz aus ihren Zügen gewichen. Sie mußte jetzt auch über zwanzig sein. Der Blick war indessen ganz unverhohlen, offen und von einer eigenartigen, betauten Wärme. Der Mund war schön geformt, zeigte Nerv, aber kaum viel Widerstand.

Sie wohnte, wie er verstand, in einem kleinen Mietszimmer in einer Seitenstraße des Boulevards.

Plötzlich und mit Brutalität in der Stimme fragte er:

»Für wie lange haben Sie Geld?«

Sie wurde etwas blasser, wich seinem Blick aber nicht aus. »Ich kann noch einen Monat durchkommen.«

»Und was dann? Wollen Sie dann heim?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht heim.«

Er betrachtete sie skeptisch. »Allein in Paris – ohne Geld!«

Sie sah ein wenig scheu zur Seite. »Ich suche eine Stellung – in einem Warenhaus, einerlei wo.«

»Hoffnungslos für eine Fremde!« Er zuckte die Achseln. Aber es war ja nicht viel dabei zu machen. Er erinnerte sich undeutlich der Jenny vom Theater, des ängstlichen jungen Pagen, der, gehorsam wie nach der Schulpause, auf die Bühne gesprungen war, ohne zu wissen, daß er in der straffen Knabenkleidung nackt und den Augen der Menge preisgegeben war.

Der schwarzäugige Kavalier am Nachbartisch beobachtete sie beide, jetzt lächelte er Ejgil mit weißen Zähnen unter dem kleinen Schnurrbart zu, schien eine Bekanntschaft einleiten zu wollen.

»Sie kennen ihn, Jenny?«

»Ja – er ist Argentinier.« Sie nannte seinen Namen nicht.

»Sie haben ihn hier getroffen?«

»Nein, in einem Lokal, wo ich zu Mittag aß – damals, als ich noch –! Er setzte sich an meinen Tisch.«

»Hat er versprochen, Ihnen eine Stellung zu verschaffen?«

Sie sah hastig auf. »Er wollte für mich tun, was er konnte. Er hat Beziehungen zu einem Bureau, das Engagements für Kabaretts verschafft. Ich muß selbstverständlich erst perfekt Französisch lernen«, fügte sie hinzu und blickte vor sich hin mit einem Ausdruck, der nicht ganz ohne Hoffnung war.

Er grübelte ein wenig über die Sache. Was sollte er ihr jetzt sagen? Warnen, abraten? – Ganz brutal die Wahrheit sagen! Der Argentinier war eine Schmeißfliege, ohne Zweifel.

Er sah gedankenvoll auf Jenny. Sie war sicher ohne Gnade zum Untergang verurteilt, war schon von ihrer Geburt an dazu bestimmt. Inspizient Preisler hatte gesündigt und fünf Mädchen in die Welt gesetzt. Das ewige Gleichgewicht forderte, daß jedenfalls eines von ihnen unterging. Und Jenny mußte jetzt ihr Glück versuchen. Sie hatte sich nach Paris geträumt, war gereist mit Flügeln, die schon in der Theaterzeit versengt waren, und erwartete, hier im gelobten Paris das Land des Glücks zu finden. Jetzt saß sie, ein armes, zerzaustes Vögelchen, auf dem schmutzigen Bürgersteig des Boulevards. Sie war widerstandslos und hübsch genug, um des Genießens wert zu sein. War zweifellos verfallen – erst dem argentinischen Wüstling, später wohl, nach viel Not und Unglück, einem ganz Teil anderen. In ein paar Jahren – wohl auch eher – würde Jenny hier sitzen wie viele andere von dem traurigen Strich der äußeren Boulevards, todmüde und hungrig nach der vergeblichen Jagd des Tages.

Er fühlte sich einen Augenblick berauscht von diesem feinen, schlanken Mädchenkörper, den er hinter dem dünnen Fähnchen ahnte, er litt bei dem Gedanken, daß gemeine Hände sie berühren, sie brechen, zu Roheit, Gier erziehen, ihre Haut beflecken sollten, bis sie vor Schmutz klebte.

Unwillkürlich suchte er ihre Augen, sie begegneten den seinen frei und demütig zugleich. Welche Wärme hatte doch dieser Blick, der bat und gleichzeitig Versprechungen machte. War ihr wohl zu glauben, war wohl eine Rettung möglich oder eines Versuches wert?

Konnte er ihr wohl Hilfe bieten? Geld? Es müßte wirklich etwas getan werden, die zwanzig Franken, die er bei sich hatte, gewährten nur eine Galgenfrist. Und plötzlich erkannte er, daß er selbst ganz ohne Mittel zu helfen war. Ulla pflegte alles in Restaurants und Hotels zu ordnen. Sie hatte ihm nie eine größere Barsumme gegeben, hielt es wohl für überflüssig, oder hatte möglicherweise – der Gedanke meldete sich – ihren genau durchdachten Grund dazu. Er war nur ihr Page, ganz von ihr abhängig! Hoffnungslos, mit Ulla über seine Bekanntschaft mit Jenny zu reden. Sie würde falsch verstehen, verdächtigen.

Der ganze Gedanke war ihm peinlich. Er ahnte, daß etwas nicht in Ordnung war, daß es eine Unsicherheit im Fundament selbst, Verhältnisse gab, denen er nicht nachforschen, die er kaum mit dem Gedanken berühren durfte, wenn nicht der ganze Bau einstürzen sollte.

Er stand auf und reichte Jenny die Hand zum Abschied. »Glückauf!« Er fühlte selbst, daß der Wunsch falsch klingen mußte. Aber sie ließ es wohl hingehen, es war die übliche Form, wenn Landsleute sich trennten.

Er ging und sah sich nicht um. Mit dem Metro fuhr er nach dem Boulevardrestaurant, wo Ulla Faber ihn hinbestellt hatte. Er überdachte alles hastig noch einmal. Er hatte Jenny nicht viel zu fragen gehabt. Ihm fiel ein, daß jede einzige seiner Fragen wie in einem Verhör gefallen war. So lag die Sache denn auch. Sie war nur wie jene tausend anderen, die er in seiner Gerichtszeit vor der Schranke der Strafkammer hatte stehen sehen: mißglückte, kleine Lebensläufe, die aufgerollt wurden, kleine, zu Schaden gekommene Schädlinge, die durch einen trockenen Erlaß in Verwahrung genommen wurden, zerknitterte und halbverwelkte Blumen, die schonungslos mit dem Kehricht hinausgefegt wurden. Ein gewisser Prozentsatz von der Bevölkerung einer Stadt geht zugrunde. Hoffnungslos! Hinab in die Kloake! Und hatte Jenny mehr Anspruch auf Mitleid als die anderen? Es waren ja Myriaden!

 

* * *


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