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Abteilungschef Sanders hatte keinen Anteil daran, daß Ejgil zu Strobels gekommen war, deren schlechter Name ihm nicht unbekannt war. Aber das war seinerzeit zwischen Frau Strobel und Veronika vereinbart worden. Denn die Schwester wußte nichts über Rechtsanwalt Strobels Ruf in Gerichtskreisen, den hatte der Bruder ihr sorgfältig verheimlicht, wenn die Verwandtschaft auch nur entfernt war. Aber jetzt meinte er sein Verbrechen an Ejgil wieder gutgemacht zu haben, indem er ihm Schreibarbeit in der Gerichtsschreiberei verschaffte. Dort befand er sich jedenfalls auf der richtigen Seite der Schranke! –

Ejgil saß täglich von drei Uhr ab – nach der Zeit, zu der er vermutlich die Schule besuchte – an seinem Pult in der großen Schreibstube. Die Schreiber hatten ihn freundlich empfangen:

»Du bist ja unser alter Adoptivsohn!« hatte Leutnant Dyrlund, der Doyen und Wortführer des Schreiberkorps gesagt und Ejgil auf den Rücken geklopft. »Und wir freuen uns, dich in unserer Mitte aufnehmen zu können, wenn du auch mit den schlechten Sachen beginnen mußt, wo viel auf der Seite steht. Komm, setz dich her: Du bekommst den Ehrenplatz neben meinem erprobten alten Freund, Kriegsassessor Mölberg.«

Die anderen Schreiber standen im Kreis herum. Dyrlund machte eine weitausladende Handbewegung:

»Auf demselben Platz saß unser kleiner Ejgil vor knapp einem Menschenalter in dem wollenen Mantel von Wachtmeister Gulagers Jüngstem! Du bist gewachsen seitdem, Ejgil! Ich breitete selbst einen Bogen Löschpapier unter dir aus, mein Junge. Jetzt bekommst du ihn als Schreibunterlage!« Er legte einen Bogen Löschpapier auf Ejgils Pult.

Kriegsassessor Mölberg war hinter seiner Verschanzung von aufgestellten Protokollen verborgen; er haßte und fürchtete die Blicke der Kollegen, die ihm die vorteilhaften Sachen mißgönnten, welche er als Ältester des Bureaus bekam: mit vielen abgebrochenen Zeilen und breitem Rande. Man hörte ihn seine Bonbons knabbern und zornig etwas von jungen Schnöseln murmeln, die sich was einbildeten, weil sie die Neffen des Junkers, des unmöglichen Chefs des Bureaus waren, den Mölberg selbst als Volontär angelernt hatte, als er ahnungslos direkt vom Examen ins Bureau kam.

Draußen auf dem Polizeihofe fielen schnelle Axthiebe im Holzschuppen des Gerichts; es tönte wie Köpfen, die schweren Scheite rollten dumpf zum Stapel hin. Vor dem Seitenflügel der Polizei, wo es zum Sittlichkeitskeller hinunterging, stand wie gewöhnlich um diese Zeit die lange Reihe von »Hundertachtzigern«, wie sie nach ihrem Paragraphen im Strafgesetzbuch genannt wurden: von siebzehnjährigen Mädchen, zerzausten Vögelchen in Federboa und mit schiefen Schnürstiefeln unter den wollenen Röcken, bis zu bejahrten Pflastertreterinnen: dickbäuchig, im Ulster und mit Branntweinstimme vorbeigehenden Polizisten Spitznamen nachrufend: »Schöner Madsen!« und »Pfefferbüchse!« Sie zankten sich, Ohrfeigen fielen, sie schwatzten Fachsimpeleien und tauschten Rezepte aus. Jetzt läutete die schnarrende Glocke oben im Gerichtsgebäude, daß alle Korridore hohl husteten: Das bedeutete, daß die Herren Arrestanten, die mit dem Grünen August ins West-Gefängnis wollten, sich beeilen mußten, denn jetzt ging der Transport ab!

Weiße und blaue Tauben flatterten gegen die Scheiben. Vor dem Fenster der fünften Untersuchungskammer hing eine Damenreisetasche. Sie hätte eine neugeborene, in Butterbrotpapier eingepackte Kindesleiche enthalten, wäre von der Hauptbahnhofsgarderobe abgeholt worden, erzählte Leutnant Dyrlund, und gehörte der Kindesmörderin in der Sache Nr. 218; sie hinge zum Auslüften da. –

Strafrichter Buchmann kam auf dem Wege zur Kammer durchs Bureau, seine Glatze war steil und gewölbt wie eine japanische Pagode, der riesige Körper war – jetzt in der Sommerhitze – in weißes Leinen gekleidet, das umfangreich wie Mehlsäcke die mächtigen Beine umschlotterte. Er kam majestätisch angeschritten, seine lange Pfeife paffend, die er nie, selbst nicht im Verhör, losließ. Er grüßte gemütlich die Schreiber, die ihm gesegnete Mahlzeit nach dem Frühstück wünschten, dessen Spuren noch in dem langen, eisgrauen Bart hingen. Alle liebten und bewunderten ihn wegen seines gewaltigen Humors und der braven Gesinnung, selbst die Arrestanten, deren Diebessprache er perfekt wie einer von der Profession sprach.

Er sah Ejgil. »Na, da ist ja ein Neuer!« Er kniff den Knaben ins Ohr: »Nicht vergessen, daß ich meinen Namen mit ›ch‹ und nicht mit ›k‹ schreibe, und daß eine Sache, die ich zu vier Uhr verlange, allerspätestens um drei fertig sein muß!«

Er schritt dröhnend zur Tür. Draußen im Korridor klappten Zellentüren, klapperten Arrestantenpantoffeln, klirrten Handeisen. Das Heinzelmännchen mit dem langen Graubart, das die Gefangenen in den Zellen der fünften Kammer bewachte, kam atemlos durchs Bureau mit einer Flasche Hoffmannstropfen in der Hand: Die Kindesmörderin hatte sich mit ihrem Taschentuch zu erwürgen versucht, war aber daran verhindert worden. Es war eine Unglückskammer! – Vorige Woche trank ein Brillantendieb eine Flasche Terpentin, die ein Malergeselle in der Zelle vergessen hatte, wurde aber ausgepumpt!

Sanders kam herein und sah nach Ejgil.

»Na, mein Junge, kannst du dich zurechtfinden?«

Er war ganz weißhaarig geworden, das Gesicht war eingeschrumpft und ganz runzlig; er hatte es versäumt, sich neue Schneidezähne machen zu lassen, nur ein Stiftzahn saß vorn und schimmerte von Gold. Bevollmächtigter Nöhrmann kam herein und schmiß Schreiber Lausgaard ein Protokoll hin: »Auszug aus der Sache gegen Branntwein-Mads und den Nachtkuckuck. Sofort! In einer Stunde fertig!« Er marschierte ab mit einem Blick voll Geringschätzung auf seinen Abteilungschef.

Lausgaard nahm das Protokoll unter den linken Arm, er hatte nur den einen. Den anderen hatte er durch eine Gewehrexplosion als Jäger auf der Sonntagsjagd verloren, und jetzt guckte zum rechten Ärmel nur ein Holzstumpf mit einem eisernen Haken heraus. Das Bureau nannte ihn »Götz von Berlichingen«. Er war Vater von elf Kindern, von denen mehrere, immer verschiedene, von Zeit zu Zeit den Vater mitten in der Bureauzeit abholten, anläßlich Windpocken, Röteln oder neuer Geburten. Sie faßten ihn am eisernen Haken, wenn sie ihn begleiteten.

Er bot Ejgil an, das Gewicht des Armes zu fühlen. Er stand mit seinem runden, rotwangigen Küstergesicht da und sah einladend aus.

Die Schreiber protegierten Ejgil; endlich wäre er heimgekommen, fanden sie. Ludvigsen mit dem Prachtbart brachte ihm Bücher von der Königlichen Bibliothek, sie waren lateinisch, und Ejgil mußte sie übersetzen; Herr Ludvigsen schrieb jetzt schon seit fünfzehn Jahren, immer noch ohne Unterstützung seitens des Hilfsfonds der Geschichtsfakultät, an seinem großen Werk über die Untaten und die Mystik der Freimaurerei, entschleiert von einem außenstehenden Zuschauer, und er brauchte Zitate aus den lateinischen Papstbullen und anderen Anathemas, von der Zeit der Tempelherren an bis zu Leo Taxil und der Gegenwart. Ejgil half ihm und erhielt zum Dank eine Zigarre aus Ludvigsens oberster Westentasche, gerade unter dem Bart.

Die Bevollmächtigten hatten es auf den jungen Sanders abgesehen, namentlich Herr Nöhrmann: war doch der neue Schreiber der Neffe des Junkers und durch reinen Nepotismus hereinprotegiert, trotz seiner Jugend und der geringen Anciennität unter den Anwärtern. Hoffentlich war das der letzte Streich des Abteilungschefs! Er war sehr abgefallen und sah aus, als ob er Krebs haben könnte. –

Im blauen Tabaknebel verschwammen die traurigen, mitgenommenen Gesichter vor Ejgils Augen. Zu den Terminen kamen die wohlbekannten Geldleiher angeschlichen und schlugen leise, aber bestimmt mit dem Knöchel an die Tür des Abteilungschefs, um sich die gegen Wechsel verpfändete Gage zu sichern, ehe der betreffende Angestellte sie erhoben hatte. Das war in der Zeit der elenden Gagen, der verkommenen Kontorproletarier. Und Ejgil kam sich ebenso elend vor wie die anderen.

Er saß in einem graumelierten Anzug, der einmal Onkel Strobels Alltagszeug gewesen war, den die Tante aber für Ejgil hatte ändern lassen, da Onkel Strobel ja doch kaum mehr auf die Beine kam. Seine Ärmel waren ausgefranst, am Mittelfinger der rechten Hand bildete sich harte Haut vom Federhalter. Meile auf Meile schrieb er bei Glühbirnenlicht, Nächte hindurch über unflätige und schaurige Dinge aus den Kammern.

Allerdings konnten auch muntere Episoden vorkommen, sie wurden von den tüchtigen Kammerpolizisten kolportiert, die stets Sinn für Possen und amüsante Geschichten hatten.

Aber meistens waren es finstere und schmutzige Sachen. Ejgil blickte in den wilden Morast des Lebens, seinen Schwefelpfuhl, seinen stinkenden Abfall; aber die Bosheit imponierte ihm durch ihre königliche Naivität, die brüllende Bestialität durch ihre Unschuld; die Opfer waren oft gemeiner als die Verbrecher, die nur dumm oder roh waren, das Ganze war eine Wildnis von Torheit, ein Chaos von unbezähmbaren Körpern; sie scheuten alle Ordnung, rein chemisch, wie Öl Wasser scheut, es war ein Chor von Gewalttätern, Unzüchtigen, Dieben und verdächtigen Zeugen, die logen, schworen, bekannten oder klagten, alles in derselben Gorillasprache, derselben dumpfen Idiotie, dem ewigen Geheul der Herde, der Horde gegen Nacht und Mond! – Und nur hin und wieder der Schimmer eines bewußten, aufrührerischen Genies, die abgeschliffene Einfalt und heiße Begierde eines untadeligen Gentleman-Verbrechers. –

Die dicken Protokolle glitten durch seine Hände, entleerten Blatt für Blatt ihren Rapport in die Akten, die er schrieb. Geduldig teerte er die zahllosen Zeilen von blutigen und schleimigen Taten, die in juristischem Prozeßstil trockengelegt wurden. So war das Leben: registrierte Torheit!

Eine Beamtenklasse handfester Männer in der täglichen Pflege des Strafrechts schlug mit Knüppeln los auf diesen Klumpen heulender Triebe aus der Tiefe, stampfte sie nieder, legte eiserne Riegel über die Kloake, damit die geordnete Gesellschaft nicht angesteckt, besessen und aufsässig wurde. Hier saß Ejgil also auf seinem bescheidenen Posten und notierte jeden Schlag der Knüppel, die die erhobenen Fäuste trafen, die klammernden Krallen, die sich aus der Tiefe emporreckten, registrierte, schrieb auf in krachdürren Worten, was das letzte Weh verkommener und sterbender Menschenkinder war!

Er sprach darüber eines Tages mit dem Onkel, als er mit einer Akte in dessen Bureau kam.

Abteilungschef Sanders sah geängstigt auf:

»So dachte und fühlte auch ich in den allerersten Jahren hier oben, dann merkte ich es nicht mehr – viele Jahre lang war es nur Routine, ich war abgehärtet. Aber jetzt – jetzt fühle ich es wieder. Ich habe ein Gefühl, als ginge ich täglich über ein Schlachtfeld und träte auf Haufen von Leichen und verwundeten Körpern. Ich halte es nicht mehr aus, nein, ich kann nicht mehr – aber ich komme nicht los, ich muß doch leben, es ist mein Amt, von dem ich lebe – wir sind alle Schakale, wir leben von Leichen –, und wer draußen in der Gesellschaft ist besser als wir? – Alle tragen die Verantwortung für die Gefängnisse, für die Strafzellen der Anstalten, alle! Vom erwachsenen Manne bis zum Säugling: alle!«

Er holte einen alten Regenschirm aus der Ecke:

»Siehst du den, mein Junge? Wir nennen ihn den Mörderschirm! Mit dem ist einmal ein Mann totgestochen, und der Täter nahm sich aus Reue das Leben. Aber wir hier im Bureau gebrauchen ihn bei Regenwetter, um trocken nach Hause zu kommen.

So, siehst du, ist die ganze menschliche Gesellschaft. Wir leben unter einem Schirm, dessen Spitze ein mörderischer Spieß und dunkel von geronnenem Blut ist, aber das vergessen wir, wir wollen das unsrige auf dem trockenen haben und suchen Schutz unter dem Schirm.

Ich habe mit dem Bureau fünfzehn Jahre lang um den Schirm gekämpft, jetzt habe ich ihn mir selber genommen, er steht immer hier drinnen. Das ist übrigens das einzige Avancement, das mir im Ernst während meiner Dienstzeit zum Bewußtsein gekommen ist! Und ich schäme mich nicht einmal, trocken unter einem Mörderschirm heimzugehen!« –

Am schlimmsten war es, wenn sich die großen, berühmten Sachen zu Nachtverhören hinauszogen. Dann mußte Ejgil in dem leeren Bureau bleiben, wo nur eine kleine, grünbeschirmte Lampe über seinem Pult entzündet war. Und unten in der Kammer wurden die Protokolle alle halbe Stunden gewechselt und ihm gebracht, damit er das Verhör im selben Tempo ins reine schreiben konnte, wie die Sache fortschritt, Stunde auf Stunde, oft, bis es hell wurde.

Unten in der Tiefe stand vielleicht unterdessen ein zitterndes Weib, die Knöchel gegen die Schranke gepreßt, von kaltem Schweiß bedeckt, während der Richter das Hämmern des Pulses an ihrem Halse verfolgte: ob das Geständnis nicht bald kam! – Oder die Bande vom Boston-Karl und dem Blitz-Barbier focht mit dem Gericht und seinen Schergen, um einen Juwelenraub zu retten, dessen Schatz vergraben und für bessere Zeiten aufgehoben war. »Wo?« – »Mitten zwischen Nord und Süd, Herr Richter, ganz genau!« – Polizisten kamen verwacht herauf und schüttelten den Kopf. Mindestens noch zwei Stunden! Aber sie werden schon nachgeben, wir werden schon mit ihnen fertig; Richter Buchmann gibt es nicht auf vor Tagesanbruch! Allstündlich riefen die Nachtreporter der Zeitungen an: »Nichts Neues?« – Oder Ejgil fuhr mit in der Droschke, wenn ein Mörder nach Mitternacht hinausgefahren wurde, um mit der Leiche seiner Liebsten konfrontiert zu werden, die, bis zum Gürtel entblößt, mit sieben Messerstichen wie blassen Spalten in der Brust auf dem Tisch des Sektionszimmers lag als Zeugin gegen ihren Freund. Das Licht der Bogenlampe zeigte ihre und des Mörders starren, gipsweißen Masken. – Der Gerichtsarzt demonstrierte mit silberblanken Pinzetten den Verlauf des Mordes. Alles war still, schien erstarrt im Licht der Bogenlampe, das sich grell in den feuchten Augen der Toten spiegelte; es war, als brächen sie, als stürbe sie jede Sekunde von neuem, Auge in Auge mit ihrem Geliebten. –

Oft dachte Ejgil daran fortzulaufen. Die Flucht vor der harten Disziplin sprang in seinen Körper über; er spürte gleichsam einen Reflex von den unruhigen Seelen, die loshämmerten auf die Türen des Gefängnisses, den Deckel des brüllenden Kessels, in dem die Taten brodelten und platzten. Desertieren, ausbrechen.

Er hatte noch in der Brusttasche den Brief, den Herr Favier ihm gegeben hatte. Aber das lockte ihn nicht. Das war nur eine andere Art von Fessel, ein Mahagonipult statt dieses gestrichenen Kieferntisches, an dem Geschlechter von Schreibern gefront hatten; – am Rande saßen noch die Kerben aus der Zeit der Federkielschreiber bis Anno sechzig! – Waren der Similimarmor, das dünne Mahagoni und die oxydierten Eisengitter eines Bankgebäudes wohl ein erträglicheres Zuchthaus? – Er beugte sich über sein Pult und schrieb, Bogen auf Bogen, Meile auf Meile.

Kam er vor Schlafenszeit heim, so empfing Kirsten ihn, sie hatte ihre Brille hingelegt, und sein Blick begegnete ihren runden, herzensguten Augen. Sie schlang die Kinderarme in den halblangen Ärmeln um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund:

»Armes Ejgilchen, so lange mußt du arbeiten!« Sie setzte ihm Butterbrot und Braunbier vor, stand dabei und sah zu, wie er aß.

»Aber morgen ist Sonntag – dann soll Christian mit dem Korb zu Baron Tottenberg und Andreas!«

 

* * *


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