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Veronika Sanders saß auf der Erhöhung an ihrem Fenster, das auf die Dossering hinausging. Das Kind spielte zu ihren Füßen. So saß sie stets in der Stunde, ehe ihr Bruder heimkam, untätig, wartend, bis ein neuer Abschnitt des Tages begann und man sich zu Tische setzte. Sie las nie Zeitungen, höchstens ein Feuilleton und die Todesfälle. Alle Neuigkeiten, die sie hörte, brachte der Bruder mit, und sie ließ sie gern in Vergessenheit geraten.

Sie war erst in den Dreißigern; die weißblonden, schweren Flechten lagen turbanartig um die hohe Stirn. Sie war stattlich und groß, glich einer Skulptur aus Marmor mit eingelegten Augen aus dunkelblauer Emaille. Ihre Schönheit war von Männern stets monumental genannt worden; unter den Kavalieren ihres ersten Tanzjahres hieß sie die Venus von Milo – die einzige Antike, die diese flotten Offiziere aus ihrem elterlichen Kreise gekannt hatten.

Ejgil, der Knabe, besah Bilder auf dem Kissen zu ihren Füßen. Obwohl er jetzt fünf Jahre alt war, kleidete Veronika ihn immer noch in Blusen, die nicht verrieten, ob er ein Knabe oder ein Mädchen war; sein Haar hing in langen, blonden Locken über dem Spitzenkragen.

In den Jahren, die unmerkbar vergangen waren, seit ihr Bruder und sie den Knaben zu sich genommen, hatte sie ebensowenig darüber nachgedacht, daß er größer wurde, wie sie in früheren Zeiten erwartet hatte, daß ihren Puppen einfallen sollte zu wachsen.

Der Knabe hob den Kopf. Sie lächelte zerstreut:

»Nun, amüsierst du dich, Ejgil?«

Sie sprach oft französisch mit dem Kinde, sie fühlte, daß der französische Tonfall ihm gut stand, ihn noch mehr zu dem kleinen Fremdling machte, der, aus der Ferne verirrt, in ihr Heim gekommen war.

Ejgil wandte ein Blatt in dem Buche um, es war ein Bilderbuch: japanische Krieger waren im Kampf mit Drachen und Gnomen dargestellt. Er lächelte, um zu zeigen, daß er sich amüsierte. Aber er war enttäuscht. Bilder genügten seiner Phantasie nicht mehr. Wenn der Onkel oder die Tante Bücher lasen, so änderte sich ihr Gesicht, es ging wie eine Geschichte über ihre Züge. Aber Bilder standen still. Schloß er nur seine Augen, so konnte er sie leben sehen: die Pferde im Galopp, die Gnomen flüchtend, sich windend und sterbend. Aber sah er dann wieder auf das Bild im Buche, so war es ganz wie zuvor.

»Ich amüsiere mich gut«, sagte er, aber schließlich fand er doch Mut genug, um zu fragen:

»Sind Bilder immer tot?« Er schloß das Bilderbuch langsam.

Veronika sah beunruhigt auf Ejgil. Wie war das Wort »tot« in die Phantasie des Kindes gekommen? Sie selbst hatte ihm nie etwas vom Sterben erzählt. Möglicherweise das Hausmädchen Eva! Der Tod war zudem etwas, von dem man sehr ungern sprach, am wenigsten zu Kindern, es verstieß gegen allen guten Ton, vom Tode und anderem Häßlichen und Traurigen zu sprechen, ebenso von Gott oder Dingen, die in Gesellschaft zu erwähnen sich nicht schickte. So war sie es von ihrem Heim gewohnt.

Sie entschloß sich jedoch, eine Art Antwort zu geben. Ihr fiel ein, was ihr Bruder einmal flüchtig aus seiner Zeitung erzählt hatte.

»Nein«, sagte sie. »Es gibt Bilder, die lebendig sind und sich bewegen. Das ist etwas, was man ganz vor kurzem erfunden hat. Ein Erfinder in Amerika namens Edison. Man guckt in einen kleinen Kasten und sieht einen Mann laufen oder springen.«

Der Knabe nickte, als wäre er zufrieden. Aber die Tante hatte auf etwas ganz anderes geantwortet, als er gefragt hatte. Das war das Merkwürdige: er selber konnte überall in den Stuben umherlaufen oder spielen, wie er wollte. Aber hier auf den Bildern war man nur ganz kurze Zeit mit dabei, konnte einem Reiter über die Brücke nach seinem Schloß am Flusse folgen; aber dann war auf einmal nichts mehr zu sehen, und der Reiter stand wie zuvor mitten im Sprunge still. – Doch jetzt gab er es auf, weiter zu fragen. Die Erwachsenen wußten also sehr schlecht Bescheid!

Er blickte auf und betrachtete die langen Reihen von Buchrücken in Onkels Bibliothek. Sicher konnten die Bücher, die die Erwachsenen lasen, viel mehr sagen, denn selbst der Onkel saß Abend für Abend da und las viele, viele Stunden, also Dinge, die die Erwachsenen noch nicht wußten, aber kennenlernen wollten!

Veronika blickte nach dem Kinde. Ejgils stets halb abgewandtes Lächeln machte sie unsicher und unruhig. Sie fand es seltsam verborgen. Es war natürlich, daß Kinder lachten, aber dieser Knabe lachte sehr selten. Er begnügte sich mit seinem fast unmerkbaren Lächeln.

Ihr Bruder kam gerade heim. Sie hörte, wie er den Schirm auf dem Vorplatz abstellte ... sie kannte den Schirm: Die losen Stangen rasselten – es war ein alter, unanständiger und undichter Schirm, den er sich im Bureau lieh – das wußte sie –, wenn er seinen eigenen vergessen hatte.

Jetzt trat er ein. Das Kind ging ihm vorsichtig entgegen, aber Veronika fand Ejgils Lächeln jetzt wärmer, als wenn sie selbst heimkam. Warum? Der Bruder küßte das Kind hastig mitten auf die Stirnhaare. Veronika ging ins Eßzimmer und schellte mit einer kleinen Silberglocke, worauf das Hausmädchen, zierlich gekleidet, mit weißgestreifter Haube und die Schürzenbänder auf dem Rücken gekreuzt, das Essen hereintrug. Der ganze Stil war genau, wenn auch in kleinerem Format, wie im Elternhause der beiden Geschwister in der großen Garnisonstadt, wo der Vater kommandierender General gewesen war.

»Ja,« sagte Sanders und nippte mit Wohlbehagen an seinem Wasserglase, als wäre es der Rotwein, den die Schwester trotz ihres täglichen Protestes trinken mußte, weil sie nichts vom Elternhause missen durfte, »ich hatte heute meinen Schirm vergessen. Und es regnete in Strömen.«

Er lächelte und nickte. »Aber natürlich kamen alle Referendare angesprungen und wollten mir die ihren aufdrängen. Um gut mit dem Chef zu stehen!« Aber natürlich nahm er nichts von seinen Untergebenen an. Um der Disziplin willen! Und dies war ja der allgemeine Bureauschirm. Auf den besaß er als Chef das Vorrecht!

Ein wenig scheu begegnete er den Augen seiner Schwester. Er hatte ihr erzählt, daß der Schirm einmal vor vielen Jahren während eines berühmten Prozesses von einer Exzellenz stehengelassen war. Die finstere Geschichte des Mörderschirmes sollte den Seelenfrieden der Schwester und ihr stets so sorgsam behütetes Heim nicht verunreinigen. Es war genug, daß Männer sich mit allen rohen und häßlichen Problemen des Lebens herumschlagen mußten, von seiner Gemeinheit und seinen Lastern besudelt wurden. Frauen hatten ein Anrecht darauf, sich Sinn und Hände rein zu erhalten, während die Männer eben ihre tägliche Ration von der Ekelhaftigkeit und dem Schmutz des Lebens mit in den Kauf nehmen mußten.

Das Kind spielte wie zuvor auf dem Fußboden. Es hatte eine Menge Streifen blanken, bunten Papiers zum Flechten; aber Ejgil flocht keine Lesezeichen. Er legte die Farben zusammen: grün neben gelb, lila neben rot.

Veronika blickte auf und sagte scharf zu dem Kinde:

»Siehst du nicht, Ejgil, wie die Farben sich beißen?«

Sie schüttelte bekümmert den Kopf: Der Knabe hatte keinen Farbensinn, wie sollte es ihm in der Welt ergehen!

Ejgil ließ seine Streifen liegen, gerade jetzt hatte er ein Problem gelöst, über das er lange gegrübelt hatte: wie all diese Farben zusammengehörten, als ob sie verwandt miteinander wären. Man kam von Rot zu Blau über Lila und über Gelb zu Rot zurück. Es war, als wenn man Karussell fuhr!

Veronika hatte das Buch zur Hand genommen, das sie zurzeit las. Es wurde in einer mit Goldfäden gestickten seidenen Hülle verwahrt. Es hieß: »Tagebuch einer Gefallenen« – die Sensation des Jahres.

Sanders kannte das Buch nicht, aber der Titel schreckte ihn ziemlich ab. Die Schwester durfte keinen Einblick in diese Welt erhalten, die er selbst täglich sah.

Beruhigt nahm er jedoch wahr, daß über Veronikas Gesicht nur Sonnenstrahlen glitten. Jetzt legte sie das Buch hin, wohl um milde über diese armen gefallenen Frauen zu urteilen. – Veronika ließ denn auch jetzt in Gedanken diese ganze Reihe von Männern an sich vorüberziehen, von dem ersten, dem jungen Husarenoffizier und Grafen, bis zum Kellner des Tanzlokals, dem schwarzäugigen Italiener, der bald roh und brutal, bald tief melancholisch war. – Das Buch hatte sie tief bewegt. Nur eines erfuhr sie nicht: was die unglückliche, verlorene Ethelka Bauer im Buche gefühlt hatte, wenn all diese Männer –! Sie erhob sich, schellte dem Hausmädchen: »Wollen Sie Ejgil zur Ruhe bringen!«

Sie ging ins Eßzimmer, um Silber zu zählen. Es stand auf dem Büfett, all das alte Familiensilber: Rechauds, Kannen, Zuckerschalen in Rokoko und Bowlen aus englischem Plated, und sie zählte die schweren silbernen Löffel und Gabeln, die, mit Seidenband zusammengebunden, in der Schublade lagen. Nichts fehlte, auch heute nicht. Sie ließ die Finger über das kalte Metall gleiten. Es hatte für ihre Aussteuer sein sollen; die Töchter des Geschlechts hatten stets das Silber geerbt.

Im Büfettspiegel sah sie sich selbst. In dem schmalen Oval des Antlitzes standen die Augen dunkel in der Einfassung der helleren Lider. Sie versuchte zu lächeln, aber das Bild im Spiegel erschien ihr wie eine Fremde. Sie fühlte die Stube zellenhaft und schwer, abgesperrt durch die schweren Gardinen aus rostrotem Damast. Hinter diesen Gardinen hatte sie manches Mal halb verborgen über den kleinen Marktplatz der Garnison geblickt, wenn die Wache aufzog und der Wachkommandant, Leutnant von Lindholm, mit seinem Säbel zum Fenster hinaufgrüßte. –

Nie hatte sie Ejgil bewegen können, richtig mit Bleisoldaten zu spielen. Sicher wurde er auch kein Offizier, sowenig wie ihr Bruder, der doch durch seine Augenschwäche entschuldigt war, aber immerhin dank dem Einfluß der Mutter bei einer Hofdame Kammerjunker geworden war. Wie unendlich weit lag die Zeit zurück – diese zehn langen Jahre, seit sie zwanzig war, bis jetzt. Und wie konnte sie wissen, was aus Ejgil wurde. Welche Anlagen konnten nicht in einem solchen elternlosen Kinde schlummern, wenn auch seine Züge noch so sehr auf Rasse deuteten! –

Sie ging zum Bruder hinein, der in ein neues genealogisches Werk vertieft dasaß. Er faltete Stammtafeln auseinander, rollte eine neue Welt auf. Es waren Aufklärungen über das alte Adelsgeschlecht der Daggert. Es war ihm ein Genuß, diesen Linien zu folgen, auf denen sich immer neue Schößlinge verzweigten und die einem unbekannten und bisher vergessenen, jetzt von den Toten erstandenen Ahnherrn entsprangen. Wie fruchtbar und üppig war das nach der Arbeit des Tages, der nur eine Reihe vernichteter Leben, verkrüppelter, erniedrigter Schicksale, Laster, Verbrechen und Schrecken, Blutschande, Raub, Mord und Unzucht war! Hier fand er nun einen bisher unbekannten Mann namens Bildt: Freibeuter während der Fehde des Grafen, schändete er der Sage nach seine eigene Schwester, ließ seine dritte Frau einmauern, um sein Kebsweib zu heiraten, brannte und plünderte zwei Klöster, wurde später Reichsrat und Herr von acht Haupthöfen – ein Typ großen Stils! Sanders erschien er schon jetzt wie ein guter, alter Freund! Wie traurig war es doch für Klein-Ejgil, daß er ganz ohne Stammbaum, ohne Familie, ja sogar ohne Eltern war!

Die Petroleumlampe leuchtete gedämpft hinter dem gelben Seidenschirm – wie glücklich war er doch, hier zu sitzen und nach der Traurigkeit und dem Grauen des Tages von all diesen Dingen zu lesen, während die Schwester dort in dem niedrigen Sessel träumte, hell, anmutig und fein, wie er sich immer ihr Schicksal gewünscht hatte, unberührt und doch reich durch das Kind, das er in ihre Arme gelegt hatte, damit ihr nichts auf der Welt fehlte!

Ejgil war im Bett. Die Tante hatte seinem Abendgebet beigewohnt, jetzt lag er ruhig und wartete, bis alles im Hause erloschen und still war. Er war nicht müde, er hielt sich ganz wach, indem er an feste, bestimmte Dinge dachte. Endlich war alles um ihn ruhig. Lautlos wickelte er sich aus der Decke und stand auf.

Er kannte das Dunkel und liebte es. Nie hatte er verstehen können, warum die Erwachsenen die Nacht mieden. Wenn es dunkel wurde, zündeten sie Licht an, wenn es Nacht wurde, hüllten sie sich in ihre Decken. Waren sie bange, wenn sie nichts sehen konnten? Sie sprachen leise und sagten weniger, wenn es dunkelte, sie konnten lauschen, als ob sie etwas herumschleichen hörten; die Tante konnte aufstehen und hinausgehen, um zu sehen, ob die Entreetür verschlossen war, und einmal hatte er sie mit einem brennenden Licht herumgehen und unter alle Betten des Hauses gucken sehen. Es war, als erinnerten sie sich, daß im Finstern alles Böse losgelassen ward, und dann wurde die ganze Welt ihnen wie ein großer Wald voll wilder Tiere. Ja, sie fürchteten sich! Ejgil verstand nicht, warum. Er kannte das Dunkel ein und aus, es gab nichts darin, das schwer zu bewältigen war. Erst im Dunkel war man völlig allein, und alles entstand auf eine ganz neue und ganz andere Art als zuvor.

Er konnte den Drücker seiner Tür ohne das geringste Geräusch bewegen. Bloßfüßig ging er auf den langen Korridor hinaus. Ohne die Hände auszustrecken, konnte er jede Ecke spüren, jede harte oder scharfe Kante, ohne etwas anzurühren. Er konnte die Wärme an der Wand fühlen: dahinter lagen Küche und Herd; er konnte mit den Fußspitzen tasten, wo die Schuhe vor Tantes Tür standen, und vermeiden, sie anzurühren und Lärm zu machen. Endlich fühlte er den Teppich des Wohnzimmers weich und warm unter seinem nackten Fuß.

Hier drinnen konnte er, wenn er wollte, alles tun, was am Tage verboten war. Er konnte einen Stuhl zum Kaminumbau rücken und die kleinen Porzellanfiguren eine nach der anderen in die Hände nehmen, mit den Fingerspitzen jeden Zug in den Gesichtern der kleinen Puppen, die Spitzen an den steifen Kleidern der Damen, die Degen und Gehenke der stolzen Offiziere fühlen. Er konnte sie miteinander reden, tanzen oder über die Marmorplatte promenieren lassen, wenn er wollte. Da war alles Silber auf dem Büfett, aber daran konnten seine Finger Spuren hinterlassen, die man am nächsten Tage sah, das konnte er sich nur durch das Dunkel denken; aber da war Tantes Schrein aus Ebenholz und Perlmutter, in dem Fächer, Glasperlen, kleine silberne Scheren und ein Messer mit vielen merkwürdigen Klingen lagen. Aber alles das war doch nichts gegen den Raum selbst: die Wände verschwanden, und es öffnete sich weit zur Welt draußen; alle möglichen Gestalten konnte er sich denken, die von draußen hereinkamen. Menschen und Tiere, Männer, die auf wilden Pferden angeritten kamen, mit einer Koppel Hunde auf den Fersen, alles ohne Laut. So war die Nacht!

Aber am allerschönsten war der Balkon. Den durfte er nie am Tage betreten. Selbst Onkel und Tante fürchteten sich, zu lange draußen zu stehen, sie sagten, dann würde man nur schwindlig und könnte hinunterfallen. Und Ejgil mußte hinter der Glastür bleiben und sich damit begnügen, von dort über die Welt hinauszublicken.

Er lauschte an den beiden Türen, hinter denen man Onkel und Tante atmen hören konnte, während sie schliefen. Jetzt existierten sie nicht mehr, und er war ganz allein – endlich wieder! Leise drückte er die Klinke zur Balkontür nieder, langsam, daß nicht das geringste zu hören war. Jetzt stand sie offen. Das Wetter war so warm, der milde Wind atmete weich und dicht um seine Wangen, schmiegte sich lau um seine nackten Beine, fächelte das lange Haar an seinem Munde vorbei. Er holte sich ein Taburett, und jetzt konnte er hinaufklettern und, gegen die Hausmauer gelehnt, vier Stockwerke über der Erde, auf dem Geländer des Balkons sitzen. Tief, tief unten lag der schmale Fußsteig der Dossering im Licht der Gaslaterne wie die Türschwelle zu einer anderen Welt. Dort begann der Schwarzdammsee, dunkel und unermeßlich breit, mit Laternenschimmer längs den Häusern auf der anderen Seite. Der Himmel dahinter war leuchtend grün, über seinem Haupte war er dunkel und mit schwachen Sternen besät. Vor und über ihm gab es keine Wände, es war weit offen, erst dort erstanden alle Dinge richtig, weil er sie wählen konnte, wie er wollte.

Ein schwaches Rauschen ertönte dort oben und kam immer näher. Er wußte, daß es Zugvögel waren, die jetzt wiederkehrten, da es bald Sommer wurde. Ein kleines Mädchen hatte gesagt, daß auch sie dieses Rauschen mitten in der Nacht gehört hätte. Sie hieß Aase, kam mit ihrer Mutter zu Besuch, und er sollte sie Kusine nennen; sie war klein, dick und dumm; wie alle Kinder glaubte sie alles, was den Erwachsenen zu sagen einfiel, sie sagte, es wären Engel, die sie fliegen hörte. »Es sind Engel!« meinte sie und leckte mit der Zunge nach der Nase, die tropfte. –

Ejgil streckte seine Beine vom Balkongeländer aus, das war, als nähme er ein Bad im Winde. Jetzt konnte er schwer und stark das breite Brausen von den Flügeln vieler Vögel hören. Er wußte, daß es Wildgänse, Enten, ja vielleicht wilde Schwäne waren; er hatte gelernt, die seltenen Vögel zu unterscheiden, die zur Winterszeit zwischen all den flügelschlagenden weißen Möwen auf dem See waren: Rußente und Steißfuß, Strandläufer und eine Eiderente, die im letzten Winter eines Tages verwirrt die segelnden Schwäne umplätschert hatte. Nun zogen sie vorbei, hoch droben über Häusern und Land, hinaus nach den großen Meeren; sie kamen wie in Windstößen mit Schreien oder Schnattern; erst die großen, schweren Vögel und nach ihnen die kleineren mit Zwitschern und Zirpen, immer weiter – ein Weilchen vielleicht war es hier still –, aber dann wieder dieser rauschende Gesang, das Brausen, das dahinzog, das Schnattern und Pfeifen, vorüber, vorüber. –

Er wußte, durch vieles, vieles mußte er erst hindurch – erst sich frei machen, ehe er mitkam und hinausfahren konnte, wohin in der Welt er wollte, hoch über Land und Meer wie die reisenden Vögel.

 

* * *


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