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Ejgil hatte Onkel Strobel Willibald Olsens Gemälde »Die Tischler bringen den Sarg« angeboten, um ein bißchen Abwechslung unter die Witzblätter auf der Tapete zu bringen. Aber Onkel Strobel verbat sich das Aufhängen.

»Das würde mich an Nachlaßsachen erinnern,« sagte er, »und an recht magere dazu. Mit dem Anwaltsgeschäft bin ich fertig, und ich will nur an angenehme Dinge denken.«

Ejgil hängte daher das Bild im Eßzimmer auf. Für ihn war es eine Erinnerung an Willibald Olsen, er vermißte ihn oft – auch seinen Malkasten. Jetzt mußte er sich mit dem Rot- und Blaustift in Tante Strobels Bureau begnügen. –

Er kam übrigens häufig herüber. Frau Strobel gebrauchte ihn zum Abschreiben von Kaufbriefen und Pfandobligationen, oft schickte sie ihn auch in die Stadt zu Klienten und Rechtsanwaltsbureaus. Ejgil war bald in all den sonderbaren Irrsälen des alten Gerichtshauses bekannt. Frau Strobel wußte gut, daß Ejgil die Schule schwänzte, mischte sich aber nicht hinein; jeder Mensch mußte auf eigene Verantwortung handeln, und wenn der Junge selbst meinte, daß er Zeit hätte, für sie in die Stadt zu gehen, so war das doch seine eigene Sache!

Ihr Bureau bestand aus drei Stuben in einer der Wohnungen des Hauses. In der einen empfing sie Privatklienten; dort saß sie an Onkel Strobels Schreibtisch. Seine Meerschaumpfeifen hingen noch an dem Brett über dem vorjährigen Kalender.

In dem zweiten Kontor stand ein großer ovaler Eßzimmertisch. Dort saß Ejgil und schrieb. In dem dritten Zimmer befanden sich eine Waschgelegenheit und sechs Rohrstühle. Hier warteten die Klienten. Frau Strobel kam selbst heraus und rief sie auf wie beim Friseur: »Der nächste Herr, bitte!« Selbst alte Klienten behandelte sie im Vorzimmer formell. Man mußte Diskretion zeigen! Sie trug immer schwellende Blusen und oft einen kleinen Strauß im Gürtel. Das Haar war zu einem Gebraus gekraust; es war mit der Zeit rötlich geworden. Es glich, wie Ejgil fand, einer großen Qualle. Aber die Augen waren freundlich und gut. Sie rauchte den ganzen Tag Mignonzigarren. –

Ejgil machte sich gern mit den Sachen vertraut, und oft kam Tante heraus und erzählte, wie sie in irgendeinem verwickelten und schwierigen Prozeß urteilte.

»Heute habe ich wirklich eine schlimme Sache,« sagte sie, »das ist ein reiner Unglückstag! Eine arme Mutter hat mich unter Tränen aufgesucht. Ihr Mann hat sich von ihr scheiden lassen nach dem dänischen Gesetz drei – sechzehn – fünfzehn, weil er behauptete, daß sie Herren auf der Westerbrostraße nachging. Du bist groß genug, um zu verstehen, was das heißt, Ejgilchen, nicht wahr? Es ist eine blutige Beleidigung und eine Lüge dazu! Aber die Richter, die als Männer selbstverständlich zusammenhalten, entschieden, daß ihr obendrein ihr Kind genommen werden sollte, ein reizender kleiner Junge von neun Jahren, den der Vater, ein Eisenbahnassistent, ihr möglicherweise mit Gewalt wegnimmt. Daß sie mit einem jüngeren Pferdehändler zusammen lebt, ist bewiesenermaßen Unwahrheit. Sie wohnen nur zusammen!«

Und nun wollte Tante Strobel der armen Mutter das Kind retten: es galt nur, den Beweis zu erbringen, daß der Mann in den Stationsstädten, wo der Zug hielt, ein unsittliches Leben führte, und Frau Strobel erwartete deshalb zwei Privatdetektive von Carla Söderbloms Bureau »Wir sehen im Dunklen«.

»Und wenn wir den kleinen Adolf stehlen müßten, haben soll sie ihn, und wenn der Junge sich auch wehrt und um sich tritt wie das letztemal, als ihm die Mutter im Ostpark aufpaßte!« –

»Eine Mutter hat Recht auf ihren Jungen!« sagte sie und küßte Ejgil warm auf den Mund.

Sonst bestand ihre Beschäftigung meistens darin, daß sie Kontrakte für Gastwirtswitwen schrieb, die ihrem Oberkellner die Konzession vermieteten, und dann in ein bißchen geschicktem Handel mit Grundstücken und Pfandbriefen auf fünfte Hypotheken zu sehr niedrigem Kurs. Hausmakler und Kommissionäre kamen und traten den Schlamm der Bauplätze auf ihrer Matte ab.

Frau Strobel rauschte ihnen entgegen: »Nun, etwas Neues, Kleiner?« oder: »Was gibt es Gutes, Freundchen? Wie steht's mit der Villa in Holte?« Und Hausmakler Bilestorp, der Baron war und sich als lyrischer Dichter versucht hatte, sagte, daß der Käufer eine Garantie verlangte.

Frau Strobel wandte sich rasch um:

»Sieh her, Ejgilchen! Unterschreib' dies Stück Papier, mein Junge. So!« Und Ejgil unterschrieb, daß er Expert in Hausschwamm sei, die Villa »Das Schloß« in Holte besichtigt und weder innen noch außen irgendwelche Anzeichen von Schwamm gefunden habe. Tante Strobel schrieb: Forstjunker unter Ejgils Namen.

»Ich bin Optiker«, sagte sie. »Ich sehe alles hell, und die Villa wird schon verkauft werden!«

Sie war so unendlich beschäftigt, hatte für so vieles zu sorgen; dafür ging es aber auch weit schneller als in Strobels Tagen, er hatte immer so viele Formalitäten zu erfüllen und mußte erst in seinen Gesetzbüchern nachschlagen. Frau Strobel wußte schon selber, was recht war, das sagte ihr das Gefühl.

Die Klienten kamen scharenweise, und jeder konnte sie bereitfinden. Sie war in allen Rechtsbureaus gefürchtet, wie sie selbst mit Stolz erklärte. Sie hatte immer zuerst Zutritt, weil sie eine Dame war. Sonst hätte der Bote oder der Bediente an der Tür schon etwas zu hören bekommen! Und sie ließ sich nie etwas von einem Richter gefallen! Nie! Sie hatte einen Beleidigungsprozeß angestrengt gegen den Richter von Vester Birk, der sie »die Dame« geschimpft und sie gebeten hatte, zu schweigen, wenn die Zeugen verhört würden. Sie ließ sich nicht bezichtigen, Zeugen zum Falscheid anzustiften! – Der Prozeß war noch nicht geboren, den sie nicht gewinnen konnte! »Kommen Sie nur! Ich werde die Glücksspielgeschichte im ›Tiefen Keller‹ schon ordnen, Barbier Jürgensen, verlassen Sie sich darauf! Ich werde den Termin selbst wahrnehmen, Richter Dinesen ist mir von einer Kindersache her verpflichtet. – Der nächste Herr, bitte! – Sie, Fräulein? Ihre Dame hat Sie entlassen, weil der Sohn an seinem eigenen Konfirmationstage – – ach, Ejgil, setz' dich einen Augenblick ins Wartezimmer. – Sie kommen gleich daran, meine Damen.«

Die Mühle des Rechtes mahlte, ein jeder verließ sie getröstet und seiner guten Sache sicher. Frau Strobel kam zum Mittagstisch strahlend, wenn auch ein wenig müde nach ihrem Tagewerk. Ihr schien, sie könnte die ganze Welt umarmen. Es war herrlich, Segen auszubreiten unter denen, die Unrecht litten. Und nie prellte sie jemand mit dem Honorar. Eine Besprechung kostete fünf Kronen, jeder gewonnene Prozeß zehn.

Sie stand auch im Gericht und musterte die Vorgeladenen mit ihren netten Augen, gerührt von jedem, der ihr seine Klage anvertraute; stets bereit, sich der Sache eines selbst Erscheinenden, der ohne Rechtsanwalt kam, anzunehmen. »Wer selbst kommt, begeht Selbstmord«, sagte sie zu dem verzagten kleinen Schuldner auf der Bank des Wartezimmers. »Und da ich nun einmal hier bin, werde ich mich für eine Krone Ihrer Sache annehmen.« Selbst den beiden gerissenen Winkeladvokaten Harald Einarm und Petersen mit der Stirn machte sie Klienten abspenstig.

»Du sollst nicht Jura studieren«, sagte sie zu Ejgil. »Das ist nicht nötig. Es gilt nur, ein Herz für die Kleinen und Unterdrückten der Gesellschaft zu haben.

Nur die Männer sind es, die die Gesetze kalt und hart gemacht haben; aber die Gesetze soll man nur bis Wandsbek gelten lassen! Ich bin selbst Mutter und lausche nur dem Schlag meines Herzens. Und das schlägt nie falsch!«

Sie plättete einen zerknüllten Brief mit ihrem elektrischen Plätteisen glatt. Der Brief war vernichtend für den Eisenbahnassistenten – und unter dem Bett einer Büfettdame in einer Stationsstadt gefunden, wenn die Handschrift auch eine andere war. »Aber es gibt doch noch Graphologen hierzulande«, triumphierte Tante Strobel. –

Aase kam zuweilen und setzte sich auf den Eßzimmertisch zu Ejgil. Sie zog sich das Kleid stramm über die Knie und streckte die Lackschuhe aus.

»Du wirst nie älter als zehn Jahre!« neckte sie ihn, »wenn du auch dreizehneinhalb sein sollst! Aber warte nur: ich soll dich von Emmy grüßen, sie hat versprochen, deinen Schnurrbart zum Wachsen zu bringen, jetzt bist du unter der Nase so glatt wie ein Mädchen! Emmy kennt ein Mittel!«

Und als Ejgil eines Vormittags bei der Morgenzeitung im Wohnzimmer saß, überfielen ihn die beiden Mädchen. Aase schlang ihm die langen dünnen Arme von hinten um den Hals. »Wenn du nicht still sitzt,« flüsterte sie, »so erwürge ich dich!« Sie preßte, daß es ihm hinter dem Trommelfell hämmerte.

Emmy näherte sich langsam auf den Zehenspitzen mit einem lauernden Spiel in den schwarzen Augen und breitem, dunkelrotem Munde. Sie trug ein dünnes, seegrünes Seidenkleid, das sich geschmeidig wie eine Schlangenhaut um die Lenden schmiegte, die Brüste wiegten sich melodisch. Ein Schauer durchfuhr den Knaben: Herodias' Tochter!

Aase hielt fest, ihre Arme lagen wie Bügel um seinen Hals, er schnappte nach Luft, hämmerte mit den Fäusten, traf aber nur die leere Luft, stieß mit den Füßen um sich, aber vergebens. Aase stand sicher und gedeckt hinter dem Stuhlrücken: »Komm, Emmy!«

Emmy näherte sich von der Seite in Tanzschritten, auf langen zarten Beinen stolzierend. Ihr Gesicht glitt langsam zu dem seinen herab. Er schrie auf: »Laßt mich los! Bleibt weg von mir!«

Emmy küßte ihn erst auf die Nasenspitze, dann auf den Mund, ihre Lippen schmiegten sich um die seinen. Er schlug um sich. Aase hielt fest. Emmys Lippen schmeckten sich weiter über sein Gesicht. Ihre kleine, spitze Zunge stahl sich in sein Ohr.

»Jetzt laß ihn los, Aase!«

Aase ließ ihn los. »Jetzt bist du erwachsen!« erklärte sie gnädig. Emmy schlenkerte zur Freundin. »Er ist ganz süß!« sagte sie flüchtig.

»Ein Engelskind!« himmelte Aase durch die Nase.

»Er schnappte nach mir!« sagte Emmy. »Richtig! – Mit den Zähnen.«

»Er muß einen Strohwisch hinter das Ohr kriegen«, meinte Aase. »In der Schule haben sie ihn immer einen Esel genannt, wie ich gehört habe.«

Die beiden Mädchen warfen die Köpfe zurück, daß das Kraushaar brauste, und schritten Arm in Arm ans Klavier nebenan. »Er sitzt da und heult!« sagte Aase. »Laß ihn, wenn nicht mehr Dankbarkeit in ihm steckt!«

»Das hätte Theodor sein sollen!« lispelte Emmy, »aber Theodor kann lange warten. Er ist so roh!« Sie setzten sich jede auf ein Tabourett und hämmerten vierhändig » Die lustige Witwe«. –

Ejgil kannte einen Bauplatz, wo es Kletten gab, und am nächsten Tage machte er sich hinter den Mädchen her, ohne daß sie ihn sahen, und setzte ihnen heimlich einen großen Klumpen in ihre Mähne. Dann schlich er sich in seinen Schaukelstuhl zurück, um weiter in Kants »Kritik der reinen Vernunft« zu lesen.

 

* * *


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