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Frau Faber hatte über Ejgil mit dem in England geborenen Regisseur und Theatermaler Cecil Grant gesprochen, der jetzt bald seit einem Jahre an das einzige künstlerisch strebende Theater der Stadt geknüpft war.

Sie hatte ihn schon vor zehn Jahren in Italien gekannt, als er in Florenz seine Pläne von einer modernen Bühne unter der Balkendecke eines alten fürstlichen Palastes versuchte. Später hatten sie sich in London und in Paris getroffen. Sein Genie und sein Charme hatten sie eine Zeitlang gefesselt, und obwohl die Jahre sie trennten, waren sie doch noch sehr eng befreundet. Cecil Grant versprach mit einem Handkuß als Huldigung für die Freundin, sich Ejgil Sanders' anzunehmen. Er stand gedankenvoll da und glättete sein Haar, das mit den Jahren stahlgrau geworden war. Er trug es lang wie früher, jetzt glich es einem zerhauenen Stahlhelm. In seinem losen Kittel, der um die etwas beleibte Figur hing, fand sie ihn weniger englisch als in alten Zeiten; damals war er elastisch und athletisch gewesen, ein typischer Westeuropäer mit einem Profil wie David Garrick. Jetzt fand sie, daß seine Hände bei weitem nicht mehr so lebendig wie früher waren, ihnen fehlte der virtuose Nerv. Aber die Augen waren jung und stark und hatten denselben munteren Fanatismus, der sie damals mitgerissen hatte.

Sie dachte daran, daß das doch kaum zehn Jahre her war. Wie blutjung, unreif und eifrig mußte sie damals doch gewesen sein, und doch war sie fünfundzwanzig Jahre alt, als sie sich trafen. Sie fühlte, daß sie selbst in diesen Jahren gewachsen war, daß sie fast ihre Mittagshöhe erreicht hatte, fühlte sich gut aufgelegt und stark trotz aller bitteren oder reichen Erfahrung. Er hingegen war weniger männlich in seinem Gepräge geworden – ungeschwächt sicher! – nur absoluter in seinen Träumen – allein für seine Kunst lebend – vergeßlich für die Frauen, die er doch einmal geliebt hatte. –

Zerstreut hatte er ihre Schilderung des jungen Protegés angehört, mit dem sie ihn bekannt zu machen wünschte.

»Er ist sein ganzes Leben lang auf Irrwegen gewandelt«, sagte sie. »Was er braucht, ist, daß seine Welt abgerundet und geformt wird. Ob er Künstler ist, weiß ich nicht. Prüfen Sie ihn. Auf jeden Fall weiß ich keine Welt, die wie die Ihre allseitigen Inhalt und doch feste Begrenzung hat.« Sie lachte: »Schließen Sie ihn in Ihren weitberühmten Rundhorizont ein!«

Cecil Grant seufzte. Er hatte schon ein paar Schüler – beide mäßig; aber er konnte ja immer jemand brauchen, um die großen Flächen eines Hintergrundes zu grundieren. »Ich kann ihn ja lehren, einen Nachthimmel schwarz wie Tinte zu teeren und einen Morgenhimmel rosa zu malen! Lassen Sie ihn nur kommen.«

Ejgil hatte ein paar Tage im Fremdenzimmer bei Frau Funch-Petterson gewohnt. Ulla Faber sprach mit der Freundin über ihre Pläne für Ejgils Zukunft und meinte, es wäre am besten, wenn man einen anderen Aufenthalt für ihn fände. Sie fand es auch nicht zweckmäßig, wenn er in seinem letzten Heim bei Strobels bliebe.

Aber zu ihrer Überraschung fuhr Harriet erzürnt auf. »Von mir fortziehen? Warum?« Frau Harriets Kinderaugen wurden erwachsen und wachsam. »Und warum darf er nicht bleiben? Sag' mir das! Mich stört er nicht. Im Gegenteil. Er geht jeden Morgen, noch ehe ich aufgewacht bin! Er hat mir noch nicht einmal die Ehre erwiesen, mit mir am Tisch zu essen.«

Frau Faber lächelte: »Nun ja, wenn du meinst – bis auf weiteres jedenfalls. Ich meinte nur, du wärest am liebsten frei.«

Frau Harriet wurde heftig: »Und weshalb? Ist er nicht zu mir gekommen? Aber gleich – ganz wie gewöhnlich – hast du meine Pläne durchkreuzt und versucht, mich zu verdrängen. Aber es wird dir nicht glücken. Das sollst du sehen!«

Sie hatte sich erhoben.

»Was weißt du, was er vielleicht für mich bedeutet!«

Ulla Faber ließ sie aussprechen. Sie kannte die Freundin und hatte diese Haltung erwartet.

»Du meinst also, du fühlst für ihn – wie für deinen Sohn?«

»Natürlich! Er ist mein Sohn. Was sonst? Das glaubst du vielleicht nicht.« Sie suchte spähend die Augen der Freundin.

Ulla nickte: »Ja, wer weiß. Das ist so gleichgültig, finde ich. Vollkommen gleichgültig. Fünfzehn Jahre lang hast du dein Kind aus deinem Bewußtsein verdrängt, und ich sehe kein Band zwischen ihm und dir; so weit sind wir doch wohl gekommen, daß einer Anknüpfung, die nur biologisch ist, alles Interesse fehlt. Wir forschen nicht mehr nach dem Geschlecht, wir fragen nicht nach der Herkunft. Nur das, was wir als das unsrige fühlen, hat Bedeutung, nur die Menschen, Männer oder Kinder, mit denen wir gelebt haben, sind unser. Alles andere erfolgt in Reagenzgläsern – in dem großen Laboratorium des Lebens – und geht uns nicht viel an.«

Harriet saß mit dicht unter der Brust gekreuzten Armen da. Ihr Blick wurde drohend. »Schön! Du wirst sehen. Ich werde mir mein Recht schon verschaffen. Und wenn ich es allen im Theater sagen – es Publikum und Presse zurufen müßte: daß ich einen Sohn habe!« Ihre Augen bekamen hektische Glut. »Und wenn ich meine Schande in die ganze Welt hinausschreien soll!«

Und wirklich – eines Tages bei der Probe sagte sie es geradeheraus. Sie hatte Pause, und wie gewöhnlich saß sie da, ihre große Kunststickerei auf einen Rahmen gespannt im Schoß. Sie liebte es, so ehrbar und häuslich dazusitzen, während die Kameraden Unsinn machten oder in dem langen Korridor mit dem abgegriffenen Kieferntisch, auf dem Kostüme und Requisiten herumlagen, flirteten. Seit Jahren war diese Stickerei wohlbekannt: sieben Schwertlilien und drei Kolibris. Man sagte, daß Frau Harriet für jede neue Rolle einen Stich nähte und für jede Wiederholung einen wieder auftrennte.

Die Wendeltreppe des Malersaales herab kam ein dunkelhaariger, junger Knabe; er trug einen in allen Regenbogenfarben gesprenkelten Kittel. Selbst auf den Händen und mitten auf der Stirn waren Spritzer von mennigroter Farbe. Er eilte mit hastigem Gruß vorbei.

Frau Harriet sah von der Stickerei auf, ihre Stimme war verschleiert, aber völlig deutlich.

»Das ist mein Sohn!« Sie lächelte nicht, sie begegnete fest den unbestimmten Blicken, die sich ihr entgegenwandten: »Wußtet ihr das nicht – daß ich einen Sohn habe?«

Die Kameraden saßen schweigend da. Frau Harriet war als Favoritin des Theaters gefürchtet, man kannte ihre launenhaften Einfälle, aber diesmal klang es wie Ernst. Niemand hatte daran gezweifelt, daß ihre Vergangenheit geradeso frivol war wie die Lebensformen, die ihr jetzt beliebten. Aber selbst, wenn sie am offenherzigsten vor Kollegen und der Presse, fast als Reklame, mit ihren wechselnden Scharen der ausgesuchtesten Männer prahlte, behielt sie immer noch ihre Miene bürgerlichen Anstands; sie war wegen ihrer außerordentlichen Naivität berüchtigt.

Aber Frau Mandix, die Kostümiere des Theaters, die frei von der Leber wegreden durfte, weil sie stets in der Woche vor dem Gagentag zu einem Darlehen bereit war, löste die Stimmung aus. Sie lachte, daß sich das dicke, graue Zigeunerhaar um ihre Wangen ringelte: »Das kann Harriet uns gerade einreden!« Sie sah sich im Kreise um. »Hätte Harriet ihre Pflicht getan, als es noch möglich war, so müßte ihr Sohn wenigstens dreißig sein.«

Alle lachten. Frau Harriet machte ein paar Extrastiche mit ihrem Seidenfaden und schwieg. Im Innersten war sie aber doch zufrieden. Sie hatte gesagt, was sie wollte – und wie sie gewünscht, hatte man ihr nicht geglaubt.

Dazu konnte sie von jetzt an gefahrlos mit dem Gedanken spielen, daß sie einen großen, hübschen, gut gewachsenen Knaben hatte – ihren Sohn! Es war etwas, das, wie sie gut wußte, nicht im Ernst galt, aber der Gedanke gefiel ihr als etwas Zärtliches, Intimes und zugleich Tragisches. Ein Geheimnis, das sie einsam und von allen verraten tragen mußte!

Ejgil arbeitete täglich im Malersaal des Theaters. Von Cecil Grants drei Lehrlingen war er der jüngste.

Er lernte den langschäftigen Pinsel über ungeheure Flächen führen. Die Technik war einfach. Es galt nur das Ausfüllen von Quadraten einer Leinwand, man war selber nur der verlängerte Arm Cecil Grants.

Herrlich und ganz neu für ihn war nach all diesen Jahren in engen Gassen und finsteren Stuben das Oberlicht des Saales.

Es strömte durch die riesige Scheibe gewaltig und weiß, es wirbelte zum Raum hinaus wie Schneegestöber, zeitweise konnte das Licht vollkommen sichtbar werden, man konnte es greifen, fast durch seine Hand schlüpfen lassen wie Scharen von Silberfischen in einem Gebirgsstrom. In diesem Tageslicht klangen alle Farben wie Fanfaren, alles wurde zu Visionen.

Die beiden anderen Lehrlinge trieben sich verdrossen herum, zwei genaue Kopien Cecil Grants und daher gleich wie zwei Affen. Sie kleideten sich wie der Meister in sackartige Mäntel, ließen sich das Haar wachsen, trugen kurze Backenbärte und rauchten Nasenwärmer. Sie zogen den Pinselquast hinter sich her, mürrisch wie Trolle ihren Schwanzbüschel durch die Kuhfladen auf einer Alm.

Ejgil mied sie nach Möglichkeit. Er hatte nie die Freundschaft von gleichaltrigen Knaben oder von Männern gesucht, deren Gerede von Weibern und Tabak, Boxkämpfen und der Dummheit des Ausstellungskomitees ihn verstimmte. Er haßte es, die Hand eines Mannes intim auf seinem Arm oder vertraulich um seine Schulter zu fühlen.

Er fürchtete Frauen und wurde doch zugleich von ihnen angezogen. Er wußte, daß nur sie geben, daß er nur ihnen geben konnte. Er fühlte ein eigenes zärtliches Mitleid mit diesen schmiegsamen Wesen – ihren weichen Augen und schlanken, widerstandslosen Gliedern, und eine von ihnen sollte einmal, das dachte er in müden Augenblicken, seinen Kopf in ihre weichen, behutsamen Hände nehmen – wie niemand, niemand zuvor in der Welt es getan!

Er hatte sich schließlich anderswo in der Stadt ein Zimmer gemietet. Es war mehrmals vorgekommen, daß Frau Harriet im Garten gesessen, wenn er heimkehrte, ihm Platz auf der Bank neben sich angeboten, in demselben leichten Tone gesprochen hatte, den sie stets über alle Neuigkeiten von der Welt der Bühne anschlug.

Aber immer ahnte er in ihren Augen ein Zögern, fast ein Fragen, das oft zu einer Forderung wurde. Es war, als wartete sie auf eine Gelegenheit, alle Umschweife wegzuwerfen, auf ein Recht zu pochen, das sie, wie sie sich mit jedem Tag eigensinniger einbildete, auf ihn besaß. – Als was? Das Recht einer Mutter auf das Zusammenleben mit ihrem Sohn –? Der Gedanke war beinahe abscheuerregend. Und dennoch! – Sehr möglich, daß sie einsam, von ihrer Kunst, vom Leben und von der Liebe enttäuscht war – vielleicht eine Linderung für ihr Gemüt in allerlei Phantomen suchte, an Illusionen gewohnt, nach dem griff, was sich ihr eben bot. Sie tat ihm beinahe leid, aber er mied sie dennoch. Er schuldete ihr nichts. Und was ging sie ihn denn an – selbst wenn sie war, was er nicht glaubte – nie geglaubt hatte –!

Auch die Bühne mied er, wenn Probe war. Er wußte, dort war sie, und ihre Dreistigkeit war hier ungehindert, hier war sie alle Arten Rollen gewöhnt, gaukelte vor sich selber und ihren Kameraden. Immer wieder war er dem blassen Schmachten ihrer Augen begegnet, wenn er in Eile das Foyer passierte, wo sie saß, den erstickten Seufzer spürte, den sie ihn hören ließ: Hier saß sie nun allein, eine kinderlose Mutter, und sah ihren Sohn kalt und wie einen Fremden vorübergehen. –

Aber Ejgil wußte, daß es für sie nur eine Szene war, die sie sich gönnte, und daß sie als Würze sein unsicheres Zögern genoß, sich an der tiefen Entbehrung sättigte, die sie sicher in seinen Augen las. Ihr Blick hing demütig an dem seinen und flüsterte von ihrer Qual. Aber nie ein direktes Wort – so war die Rolle: stummes Spiel, ohne eine einzige Replik!

Er lebte jetzt meistens im Malersaal. Das war seine Welt. Oft dachte er, er sei hier hereingeflüchtet, genau wie er in seiner Schulzeit geschwänzt hatte, und genösse die verbotene freie Zeit auf einem Bauplatz hoch in der Luft, auf einem Gerüst bei den Zimmergesellen. Es war derselbe knabenhafte, ausgelassene und etwas ängstliche Trotz, wie wenn er in der Schule durchgebrannt war. Man war zwar etwas schüchtern, fand es aber doch tüchtig, daß man ausgerissen war – und war stets bereit, es das nächste Mal wieder zu tun.

Wenn er das Foyer der Schauspieler, einen länglichen Raum mit Samtbänken und einem Wandspiegel, passierte, machte er, daß er vorbeikam. Er erblickte einen Schimmer von Frau Harriets zartem, demütig über die Stickerei gebeugten Kinderrücken, sie hob langsam den Kopf, sah ihn, ihr Blick wurde zögernd, schien im selben Augenblick tränenfeucht, die Lippen preßten sich zusammen, als erstickte sie ein Schluchzen.

Die anderen Schauspieler warteten im Korridor. Die neue erste Kraft des Theaters, Ronald Birger, sah unablässig auf Harriet, hektisch und ungeduldig, er war zurzeit Favorit. Etwas abseits saßen die drei Schülerinnen des Theaters. Zwei von ihnen flüsterten wie zwei Vögelchen auf einem Zweig, beide schmachteten Ronald Birger an, wie es sich für alle Backfische gehörte; Postkarten mit seinem Bilde hingen über vielen Tausenden weißlackierter Mädchenbetten.

Aber die dritte Schülerin saß für sich, ein kleines, stilles Mädchen mit hellblondem, in Zöpfen um die Stirn gelegten Haar und stillen, dunklen Augen. Es war wohl ihre erste Probe. Er wußte, daß sie hier im Theater aufgewachsen war als Tochter des Inspizienten – und Darstellers einer Unzahl von Dienerrollen –, des alten Preisler; sie hatte von klein auf hinter den Kulissen verkehrt, wenn sie ihren Vater abgeholt hatte, jetzt war sie ins Heiligtum eingelassen worden, ihre Augen leuchteten, als höben sie sich aus einem Gesangbuch und nicht aus dem Rollenheft in ihrem Schoß – mit nur einem Satz: »Das Essen ist angerichtet!« Sie hieß Jenny.

Ejgil kam nicht oft zu Strobels, der Onkel war, wie Kirsten sagte, nicht mehr bei vollem Verstande, und Kirsten selbst besuchte in den Vormittagsstunden eine Kochschule und lernte außerdem bei den Nonnen Französisch. Sie sagte, sie wollte Katholikin werden und möglicherweise ins Kloster gehen, wenn sie ganz bekehrt wäre. Tante Strobel war den ganzen Tag in Geschäften unterwegs – war doch Ejgils Angelegenheit aus der Welt geschafft, und auch die anderen Sachen gingen Gott sei Dank gut vorwärts! Die Klienten standen geradezu Queue in ihrem Bureau. – Theodor saß immer noch in der Nyborger Anstalt.

Dagegen besuchte Ejgil Onkel Sanders, der sich in einem Pensionat für ältere Leute eingemietet hatte.

Sanders erhob sich bei Ejgils Kommen beschwerlich aus seinem Lehnstuhl. Er war in einen alten fasrigen Schlafrock gehüllt, der kleine eingefallene Kopf wackelte auf einem langen, runzligen Halse, er glich einer alten, bemoosten Schildkröte. Er schlürfte hin und wieder ein wenig Fliedertee, um ein Leiden in der Kehle zu dämpfen, wo eine Geschwulst saß, von der der Arzt nicht sagen konnte, ob es etwas anderes als ein bißchen Katarrh wäre; aber er hatte Schluckbeschwerden.

Er freute sich, als Ejgil kam: »Ich höre, daß es dir gut geht und daß du Maler am Theater geworden bist. Ja, die Kunst ist ein Beruf, aber zugleich eine Freude für die Betreffenden!«

In der Stube befanden sich neben den zerschlissenen Plüschmöbeln des drittklassigen Pensionats die antiken Sachen aus dem alten Heim. Aber auf dem papierenen Lampenschirm saß Fliegenschmutz, und die gehäkelten Deckchen auf Chaiselongue und Stühlen waren unsauber geworden. Es roch nach einem Waschtisch hinter einer grünen Gardine; aber Ejgil wußte, daß der Dunst der Bureaus und der Strafkammern die Nase des Onkels mit den Jahren abgestumpft hatte. Über dem Schreibtisch hing ein Bild von Willibald: Badende, mennigrot gegen das grasgrüne Meer; es sei gut, daß die sehr gläubige Pensionatswirtin nicht die Bedeutung des Bildes erfaßt und entdeckt hätte, daß es eine nackte Frau wäre, seufzte Onkel Sanders; es hing hier zwischen zwei Aposteln von Thorwaldsen aus Gips auf kleinen Mahagonikonsolen. Aber das Bild hatte doch Glück gebracht, denn Sanders hatte es ja gekauft, um Willibald das Reisegeld zu verschaffen! –

Leider, sagte der Onkel, wären seine Einnahmen kürzlich heruntergegangen. Er hätte eine Extraeinnahme für Revision verloren, jahrelang hätte Bevollmächtigter Nöhrmann darauf gelauert, jetzt habe er im Ministerium gesagt, daß Sanders alt wäre und entlastet werden müßte. Und Nöhrmann hätte den Posten bekommen.

»Aber der arme Nöhrmann ist selbst leider sehr abgefallen«, sagte Onkel Sanders schadenfroh. »Er ist säuerlich und mager geworden, weil er so viele Jahre gewartet hat, daß ich mich freiwillig zurückzöge. Aber das tue ich nicht, ich bleibe im Amt bis zu meinem Tode! Und du sollst sehen, mein Junge, daß ich Nöhrmann noch mit auf den Westerkirchhof folge. Übrigens«, er nickte wehmütig, »tut es mir leid um den Mann. Er hat vier Kinder, und seine Frau ist hysterisch, seine ganze Gage geht darauf für Schlaftropfen und Klinik.«

Er schwieg, und Ejgil sah wieder die grauen Bureaus mit Leutnant Dyrlund und Götz von Berlichingen – die fürchterlichen Kammern mit ihrer Unerbittlichkeit und ihrem Jammer, er hörte wieder das schnelle Klopfen von den hautlosen Knöcheln der Verdammten gegen die Bretterwand der Zelle. Er hatte ein Gefühl, als hätte er sich in reine Alpenluft gerettet, wäre umflossen von Wolken, die schonend die Welt verbargen. –

Der Onkel suchte auf dem Tische, wo Akten lagen, und fand einen Brief:

»Ich hatte gestern acht Seiten von Veronika. Sie ist so glücklich. Sie hat den ganzen Sommer in einer kleinen Gebirgsstadt gewohnt, die Rocca del papa heißt, jetzt ist sie in Rom. Und von Willibald sind drei Gemälde in einer englischen Kunstzeitschrift abgedruckt worden; das ist eine Ehre für ihn, wenn die Klischees ihn auch viel Geld gekostet haben. Da ist er doch jetzt in ganz England berühmt! Veronika schreibt, daß er gut gedeiht und sich fast ganz von einer Erkältung erholt hat, die er sich beim Baden in Sorrent zugezogen hatte. Aber es ist teuer in Rom, wenn man ein bißchen ordentlich wohnen will, und es kostet schrecklich viel, wenn man sich ein Modell hält. Willibald zieht rothaarige Modelle vor, mußt du wissen, aber jetzt hat er ein reizendes, junges Mädchen gefunden, das Francesca heißt, sie begleitet sie auf allen Reisen, nur gegen freien Unterhalt und Kleidung. Sie steht Willibald jetzt Modell, und Veronika schreibt, daß sie Francesca fast wie eine Tochter betrachte. Aber es ist ja immer ein Mund mehr, und du kannst wohl begreifen, daß der Verlust der Revision ärgerlich war.«

Er seufzte. »Aber herrlich muß es sein, in Rom zu wohnen und täglich das Forum Romanum und die Peterskirche und alle Großen der Kunst zu sehen: Michelangelo und Raffael und einen, der Signorelli heißt und den Willibald am meisten liebt. Hast du von ihm gehört? Er hat die Auferstehung der Toten gemalt in einer Stadt, die Orvieto heißt.« Er lächelte: »Damals glaubte man an die Auferstehung der Toten. Ich hoffe nicht, daß wir einmal auferstehen!«

Er reichte Ejgil eine kraftlose, mit braunen Hautflecken übersäte Hand. »Leb' wohl, Ejgil. Viel Glück auf deiner Laufbahn als Künstler. Mögest du ebenso viel Erfolg haben wie Willibald!«

Ejgil ging nachdenklich an seine Arbeit im Malersaal des Theaters. Es war schon richtig, daß er das Glück errungen hatte. Es war, als lebte er in einem wunderbaren Garten, als wüchse um ihn her eine Welt aus Marmor und Blumen. Der Pinsel in der Hand seines Meisters war wie ein Zauberstab.

Es fiel ihm ein, daß er hätte denken können, ihm wäre ein seltsamer Glückstreffer in den Schoß gefallen, daß er, der im Dunkel, elternlos und arm Geborene, in eine sorglose und sichere Existenz adoptiert worden war: zuerst das Heim der Kindheit bei Sanders, und dann allerdings die mageren Jahre bei Strobels und in den düsteren Gerichtsbureaus, nur mit der Aussicht auf die Verdammtesten der Gesellschaft! – Aber jetzt endlich war er vollkommen befreit und heraufgeführt in ein meilenweites Oberlicht hoch über allen Tälern, und ausgebreitet vor seinen Augen lag auf dem Fußboden des Malersaals ein Panorama von der Romantik aller Welt: aus lichten Landschaften, prächtigen Palästen, mystischen Nächten, Himmel oder Meer!

Aber er verwarf gleich wieder den Gedanken an einen Glückstreffer als wenig logisch. Das war der Fehler der Alten, daß sie stets mit einem »Wenn das geschehen wäre –!« rechneten. Das Leben war unbedingt, was einmal geschehen war, hätte nicht auf andere Weise geschehen können. Daher war ein Vergleich zwischen eingebildeten Möglichkeiten nicht zulässig. Die erträumte Welt hatte zwar dieselbe Kraft wie die nüchtern reelle. Aber zwischen ihnen klaffte ein unübersteigbarer Schlund, sie waren zwei Dimensionen desselben Körpers, man hatte ein Anrecht auf beide.

Cecil Grant war für ihn wie ein Gott, der die Welt von neuem schuf. Das war etwas anderes, weit größeres, als Willibald Olsens flache kleine Bilder. Die versperrten nur die Aussicht! Aber hier schlug die Kunst einen Zauberkreis, und man stand selbst mitten in ihrer Welt.

Cecil Grant war wie ein Demiurg, der sein Heer von Genien aussandte, um zu bauen: Der eine schleppte Marmor aus Paros herbei und baute einen Palast in einer Nacht, ein anderer bewegte die Wogen des Meeres durch eine sinnreiche Kurbel, ein dritter brachte Donnergrollen durch eine Trommel hervor, einer das Rauschen des Windes, ein fünfter den Gesang der Nachtigall und das leise Rieseln der Quelle im Traum der Mittsommernacht. Und der mächtigste von allen Dienern war der Meister des Lichtes, der vor seiner großen Regulierungstafel in der Kulisse nur durch einen Handgriff über Sonnenschein und den blaßgrünen Mond, über die Kerzen der Klosterkirche und die Kronen des Königssaales herrschte, das Feuer in Mephistos Hexenküche, die Scharen der Sterne in der Nacht um Sakuntala und das St.-Elms-Feuer um das Schiff des Fliegenden Holländers entzündete.

Ejgil liebte diese Welt mit den vielen fleißigen kleinen Gnomen: Inspizient Preisler, der mit seiner verzagten Miene, das Streichholz bereit, vor acht mit Pulver geladenen Zündröhren stand: das waren die Ehrensalven vor dem Palast, wenn das Signal seine kleine, rote Lampe in der Kulisse zeigte. Herrn Preislers Hand zitterte, er fürchtete sich vor dem Schießen und hatte Angst um seine Finger. Aber er mußte ja, es war seine Pflicht!

Und die große Schar der Maschinisten, blaugekleidete, breite Rücken, die bald, drei Mann hoch, ein zierliches, kleines Sofa, bald zu zweit einen schneebedeckten Alpengipfel schleppten. Die Bühne, so schien es Ejgil, war wie eine Stadt von geschäftigen, kleinen Leuten, ein Gnomenhügel, der bei Tage verschlossen dalag, während nur in der Tiefe gehämmert oder geschmiedet wurde; abends aber hob er sich auf sieben feuerroten Pfählen, es brodelte, Irrwische leuchteten – magische Dämpfe stiegen auf vom Dreifuß der Pythia.

Er dachte, daß auch die Dichter, die ihre Stücke brachten, dienende Genien, treue Baumeister in dieser Welt waren. Hin und wieder kamen sie in den Theatersaal, um die Ausstattung für ihr Stück zu kontrollieren. Er hatte gedacht, daß sie ihm dort im Oberlicht wie die träumenden Geister in Raffaels Parnaß erscheinen würden. Aber nun sah er sie krittelig und aufgeblasen die ungeheuren Leinwandareale heimatlos entlang waten. Nichts sagte ihnen ganz zu. Ein Schriftsteller, mit einem Gesicht wie weißer Käse, wütete: »Ich wünsche einen Regenbogen über dem Meere in der letzten Szene, und Sie müssen das irgendwie machen! Ich will das nicht mit dem Besen gemalt haben! Ich wünsche Himmelslicht und keine Leimfarbe!« – Meistens waren es Dichterinnen, die rauschend von Seide und Federn auf lackierten Absätzen über Schnüre und Schienen der Bühne angetrippelt kamen: »Rosensträuße auf der Tapete in meinem zweiten Akt, wenn ich bitten darf! Der Akt schildert junges, häusliches Glück!«

Cecil Grant schüttelte seine stahlgraue Mähne: »Sie kommen zu mir mit einem Sperling und verlangen, daß ich ihn in einen Schwan verwandele!

Und doch«, seufzte er, »haben sie wohl im Grunde recht: Die Kunst des Theaters ist es doch, den Alltag aus seinem trüben Wetter zur Sonne zu heben. Aber warum geben sie mir keine Stücke, die das möglich machen? Unsere Zeit besitzt kein Drama, höchstens billige Sonntagspromenade!«

Er suchte am liebsten die großen Klassiker, er schuf eine Walpurgisnacht aus Mondlicht und Flammen, jetzt hatte er sich Hamlet zur Aufgabe gestellt – eine Welt von Abstraktionen in kubischer Form gefestigt: die Bastionen des Schlosses aus Quadersteinen und Erde geformt, der Saal des Palastes aus schwarzgoldenen, wie Wespenkörper gestreiften Säulen, die matte Erde des Kirchshofs mit dem Galgen der Pforte um einen Mond, der sich grün wie das Gesicht eines Gehenkten von den verzerrten Wolken abhob, die vorbeijagten und verschwanden.

Cecil Grant war wie ein Unwetter über seinen Lehrlingen, feuerte sie an und wütete, war wie Donner und Blitz. Seine Skizzen standen, plastisch aus Karton verfertigt, auf einem Diminutiv-Theater: »So! Seht ihr? Selbst zwanzig Quadratmeter flacher Zinnober können mit Temperament gemalt werden. Der Bretterzaun, den ihr da malt, das sind die blutbespritzten Wände im Schlachthaus eines Brudermörders!«

Er gab ihnen Spitznamen, wenn er freundlich war, schalt, wenn er zürnte, in drei verschiedenen Sprachen.

Er schätzte Ejgil, lobte ihn zwar nie, sprach aber offen mit ihm darüber, was er mit der Kunst des Theaters wollte: »Eine Welt bauen, handfest und konkret – und doch einen durchsichtigen Traum!«

Auf die beiden anderen war er wütend: »Die sind wie Affen, sie malen Himmelblau mit ihrem Hinterteil und glauben, es sei der Azur!«

Er selbst glich in dem Kittel, der ihn wie ein Kaftan umwogte, einem Zauberer aus dem Morgenlande, einem magischen Meister aus der Phantasie von Tausendundeiner Nacht. Er konnte sich plötzlich in der Tür des Malersaales zeigen, sprang dann vor, schoß wie ein befreiter Dschinn aus seiner Flasche, rund, dickbäuchig, mit beiden Händen wirbelnd, als wäre er hundertarmig – zu anderen Zeiten majestätisch und gigantisch wie der Genius der Lampe. –

Todmüde und doch erfrischt, innerlich verträumt kam Ejgil aus dem blendenden Licht des Saales in die dunklen Korridore des Theaters, sie erinnerten ihn mit ihren vielen Türen an die Kammern des Strafgerichts. Vor der Pförtnerloge sah er Ronald Birger warten, der Samthut schief auf dem linken Auge reitend und die weißen Handschuhe in die Hand geklemmt, die sich elegant auf die Hüfte stützte. Er rauchte eine dicke, schwarze Zigarre, die schlecht zu dem schmalen Frauengesicht paßte. Hoch oben im Treppenhaus des Theaters hörte Ejgil Frau Harriet lachen, sie ließ den Wartenden verstehen, daß sie jetzt endlich käme.

Hastig kam sie in den kleinen Puppenschuhen die Stufen der Treppe herab. Im Vestibül sah sie Ejgil. Sie blieb stehen. Ihre Augen schmiegten sich um ihn, flehend und betrübt. Sie flüsterte seinen Namen, nur einmal: »Ejgil!« Ihre Lippen formten lautlos Worte, ihre Hand hatte sich ihm entgegengehoben, die kleine Goldschuppentasche, die an ihrem Armband hing, klingelte wie eine Schelle. Er hatte flüchtig in ihren Augen ein Sehnen, ein Entbehren gelesen. Sie stand da, blaß, fast leblos, betäubt von ihrem Kummer, wie eine Frau, die alles verloren hat. –

Er wandte sich mutlos und gequält ab: War das wohl wieder die Rolle der kinderlosen Mutter, dies ewige Komödienspiel? Er raffte sich zusammen, ging, lief, sie ging ihn – er sie nichts an. Wählte sie freiwillig, zu leiden, so war das ihre Sache!

Ronald Birger stand ungeduldig da und schlug sich mit dem spanischen Rohr gegen die weiße Gamasche. Er war fast hysterisch vor Aufregung.

»Ich dulde es nicht, daß du jedem jungen Hund zunickst, den du triffst!«

Sie antwortete nicht, jetzt sah er, daß sie ganz still weinte. Er war beruhigt, jetzt wußte er, daß sie bereute und sich nur ein bißchen kostbar machte, was ja nur ein Kompliment für ihn war.

Harriet saß schluchzend im Wagen, ließ ihm jedoch für einen Augenblick ihre Hand. Aber sie fühlte eine Leere in ihrer Brust, eine Öde in ihrem Herzen: Nie, nie hatten Kinderhände sich um ihren Hals gelegt, nie hatte sich ein zarter, unschuldiger Mund dem ihren genähert, nur die lüsternen, brutalen Lippen eines Liebhabers.

Ein eigener, planloser Mißmut hatte seit einiger Zeit an Ejgil genagt, eine unklare, unbetonte Melancholie. Er verstand das, als käme etwas Unbekanntes in seinem Gemüt, wohl auch in seinem Körper, zum Durchbruch; aber er hatte nur ein Gefühl, als bräche alles entzwei. Er wurde von beständiger Unruhe getrieben; nur in Frau Fabers Gesellschaft fand er vorübergehend Ruhe. Er aß hin und wieder bei ihr, sie schien sich zu freuen, wenn sie ihn sah, behandelte ihn jedoch meistens als einen Knaben, den sie freundlich und mit einer eigenen milden, zerstreuten Ironie behandelte. –

Besonders verstimmt war er an dem Abend, als die Premiere von »Hamlet« stattfinden sollte. Von dem freien Platz aus sah er die breite Silhouette des Theaters; aber der Schein von den schmalen Scheiben zeigte, daß der Hügel jetzt angezündet war und sich bald auf seinen feuerroten Pfählen heben sollte. Auf dem Dach flammten zwei weiße Feuer, jedes von einem Dreifuß getragen.

Er ging durch die Korridore des Theaters. Alles war still und öde. Auf der Bühne waren längst die Kulissen des ersten Aktes aufgestellt. Er hörte nur das ferne Murmeln aus dem Parkett, das schnelle Klappen der Sitze. Der alte Preisler hustete irgendwo in den Kulissen. Eine Stichflamme wurde plötzlich links angezündet und erlosch wieder. –

Er schlenderte durch die Korridore des Theaters. Er wußte, daß das Stück jetzt angefangen hatte, machte sich aber nichts daraus, die ersten Akte, wie er gedacht, aus der Reihe hinter dem Balkon anzusehen. Der Komiker des Theaters kam halb nackt, den Frisiermantel über der zottigen Brust geöffnet, auf der ein Amulett in einer Lederhülse hing, wie er selbst sagte, aus der Haut eines geschundenen Negers. Eine Tür wurde geöffnet, ein Frauenarm herausgestreckt, eine runde, kindliche Schulter guckte, von Vaseline glänzend, aus einem kleinen Spitzenbesatz heraus. Der Komiker ging zu allen Garderoben und bot Pralinés mit starker Chartreuse und Kognak an. Eine Glocke läutete: Fertig zum zweiten Akt!

Ein Mann kam vorbei. Es war der alte Preisler. Er war als Geist von Hamlets Vater maskiert: ein nasenloser Toter, blaßgelben Chiffon über die berühmte Rüstung der Requisitenkammer gehängt. Gleich sollte er auf der Bastion stehen, seine schwachen Augen dem starken Licht des Projektors ausgesetzt, und hohl heulen, bis Hähnekrähen hinter der Bühne ertönte, von dem Hoboisten, der Tierstimmenimitator war, geblasen.

Ejgil sah ihm nach: »Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig du?« Dreißig Jahre hindurch war dieser unglückselige Geist der Bühne aus der Versenkung emporgeschossen, um Helden und Heldinnen durch seine demütige Leistung zu dienen – selbst eine Attrappe, wie alle anderen Requisiten im Magazin des Theaters. Ejgil wußte, daß Preisler ein trauriger Familienvater mit fünf Töchtern war, von denen er nur eine am Ballett angebracht hatte, die anderen hatten schiefe Rücken, außer der jüngsten, Jenny.

Er ahnte auf einmal das ganze private Kleinleuteleben hinter den gemalten Kulissen, es war wie die krasse Wirklichkeit, die sich hinter dem trockenen Rapportstil in den Akten der Strafkammer verbarg. Was nutzte es dem Leben, daß man es logisch in Jura auflöste oder seine Leiden in Kunst verblassen ließ?

An der Tür zur Bühne sah er Jenny. Sie war als Knabe gekleidet in ein Wams von hochrotem Samt, die schlanken Pagenbeine staken in Trikots. Hier stand sie mit den beiden Schülerinnen des Theaters, auf das Signal wartend, daß sie mit ihrer Kerze, deren Flamme sie vorsichtig mit ihrer Hand beschirmte, auf die Bühne sollte.

Etwas weiter hinten stand der Komiker des Theaters in der Maske des Polonius, seine Augen suchten gierig die jungen Mädchenglieder, die in der dünnen Seide entblößt wirkten; gleich sollte sie auf der Bühne so den Reihen genießerischer Augen ausgestellt werden, und hier wartete sie nun eifrig und unwissend gehorsam auf das Inspizientensignal ihres Vaters – wie vor kurzem noch auf das Läuten der Schulglocke.

»Jenny!« Er flüsterte unwillkürlich ihren Namen. Aber sie hatte ihn nicht gehört, stand vorbereitet und wartend wie zuvor da, wandte sich nur lächelnd vor Glück um, als Polonius ihr, seine Schulter dicht an der ihren, einen seiner giftigen Bonbons anbot. – Ejgil dachte, er müsse sie an der Hand nehmen und mit sich ziehen, ihr zuflüstern, daß sie fortlaufen sollte – die Luft hier war erstickend und unkeusch. »Komm, Jenny – laß uns fortlaufen!« Aber er brachte nichts heraus und sah sie unbeholfen, die Knie unfrei gegeneinander, auf die Bühne gehen.

Verstimmt und niedergeschlagen ging er ins Foyer. Er fand, daß der niedrige, längliche Raum mit den Bänken an der Wand und den verblichenen Samtbezügen einem Straßenbahnwagen glich.

Vor dem großen Spiegel stand Ronald Birger in seiner schwarzseidenen Tracht als Hamlet. Das Gesicht erschien fast eiförmig, blaß wie Kalk gepudert. Purpurrote Schminke und Kohle machten die Weiße des Auges sichtbar. Er war tief entblößt über der Brust, die hinter dem gestärkten Streifen ein Dreieck von frauenweißer Haut zeigte. Er stand vor dem Spiegel und betrachtete seine Schenkel, ließ die feinen Muskeln unter dem Trikot spielen, musterte die Krümmung seiner Hüften, den schlanken Wuchs der Lenden, das Trikot zeigte vom Gürtel bis zur Ferse jede Rundung in Pulsschlag und Nerven lebend. Er riß die Augen auf, trennte die Lippen, lächelte und ließ die weißen Zähne leuchten. Er machte eine Geste, als werfe er einen eingebildeten Mantel über seine Schulter.

Ejgil sah, daß das nicht Hamlet, der Zweifler, war. – Das war Narcissus! –

Im Foyer saß auf der Bank, die breiten Hände unter den Kniekehlen, Cecil Grant in seinem weiten Schoßrock und mit zerfaserten Manschetten. Ejgil sah, daß er verblichen war, mit dünnem Haar, um die schlaffen Wangen saßen schmutzigweiße Bartstoppeln.

Grant klopfte auf die Dank: »Kommen Sie, setzen Sie sich her!« Ejgil nahm, plötzlich bewegt, Platz, fühlte sich fast den Tränen nahe. Er wußte auf einmal, daß dieser Engländer ein schäbiger Vagabund, ein zurückgekommener Geist war, der, von den Bühnen der großen Welt vergessen und ausgeschlossen, zuletzt hier in einem entlegenen kleinen Lande gestrandet war. Ejgil ahnte die Tragödie dieses Mannes, der hier in seinem verblichenen Rock saß, den vor Jahren ein Großstadtschneider genäht hatte, und die ungepflegten Hände unter dem Sitz verbarg, traurig und abgeschabt wie ein Morgenpassagier, der in einem Londoner Omnibus zu seinem Tagewerk fährt. Hier saßen sie beide und fuhren durch den gelben Nebel von East-End.

Cecil Grant verzog seinen Mund, als spie er das ganze Theater von sich.

»Haben Sie gesehen, wie meine Szene sich ausnahm, als Schauspieler sie betraten?«

Er warf das Haar wie eine Mähne zurück: »Die Schauspieler sind es, die die Szene verderben! Sobald die Menschen sich zeigen, stirbt das, was ich gemalt habe, der Hintergrund welkt und wird zu Kreide verdünnt. – Nichts ist so ekelhaft wie menschliche Körper!« Seine Stimme wurde schnappend-bissig. »Nichts ist so stinkend unflätig! Das Maul – Grinsen – Grimassen! Nackte Primadonnenbäuche, Wattons und Schenkel im Trikot. Und eine Sprache mit Tönen von all der inneren Hohlheit, polternd oder blökend, als ließen sie Gas aus ihren Wänsten! – Mit etwas so Widerwärtigem wie ihrem geschminkten Körper wollen sie Kunst machen! Kunst, die das luftigste von allem ist – stofflos, gewichtlos, Traum und Vision! Diese watschelnden Zweibeiner, diese Würmersäcke, aufgeblasenen Kadaver, rollenden Unratfässer! Mit ihren widerlichen Körpern wollen sie Kunst machen! – Die Kunst ist von Gottes Reich. Man kann sie in Farben ahnen, in Tönen träumen, in Rhythmen spüren. – Aber die dort glauben, daß sie selbst ihre schmutzigen, gemeinen und liederlichen Leiber mit in den Himmel bekommen! Dieses unflätige Instrument! Sie spielen darauf wie Marsyas auf einer Schierlingsflöte und glauben, sie seien Apollo!«

Er jammerte Ejgil; da saß dieser reuige Schöpfer, ein Gott, der auf seine Welt herabsah, die sich als verfehlt erwies von dem Augenblick an, da sie von Menschen und Maden wimmelte. Aber weshalb auf andere Welten bauen als die, die handfest existierte und bald von Honig, bald von Gift und Galle überfloß!

Er erhob sich und schlenderte zerstreut nach der Bühne. Der Akt war gerade vorbei. Der Vorhang fiel unter dem dünnen Beifall des schlecht besuchten Hauses. Durch einen Vorhang kam Frau Harriet von der Bühne in ihrem Kostüm als Ophelia im Wahnsinnsakt, Mohn und Stroh in das aufgelöste Haar geflochten. Um ihren Mund lag ein bitterer Zug; sie hatte stärkeren Beifall erwartet.

Plötzlich sah sie Ejgil. Ein triumphierender und gieriger Ausdruck schimmerte in ihren Augen. Sie trat ganz dicht an ihn heran, die Kehle schluchzte hysterisch – oder lachte sie? Ehe er es verhindern konnte, lagen ihre Arme um seinen Hals: »Mein Junge!« Die feuchten Lippen flüsterten dicht an seinem Ohr: »Mein Junge, mein lieber Junge – mein Einziges auf der Welt!« – Er spürte ihren Körper vollkommen nackt unter der dünnen Seide des Gewandes. Sie klammerte sich an ihn. Die Stimme war rauh, von Schluchzen unterbrochen: »Verlaß mich nicht – alle haben mich verlassen. Ich habe nur noch dich!«

Mit einem Ruck riß er sich los. Angesteckt von ihrer Hysterie, erbittert, halb erstickt in Scham und Ekel vor ihr und sich selber, er sah die hektisch-zornigen Augen aus Höhlen starren, die von rissiger Schminke umgeben waren, spürte noch den feuchten Druck ihrer mit Creme eingefetteten Lippen.

Sie sah ihn einen Augenblick an, dann lachte sie, kichernd wie ein kleines Mädchen; etwas weiterhin stand Ronald Birger und stierte stumpfsinnig mit Hamlets puderweißer Maske.

Frau Harriet lief hin und nahm seinen Arm: »Komm! – Der dumme Junge! Bist du eifersüchtig auf einen Knaben?«

 

* * *


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