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Ulla Faber klingelte am nächsten Morgen an der Tür der Freundin. Anna-Lise öffnete: »Nein, gnädige Frau schlafen noch. Der junge Herr, der gestern gekommen ist, schläft auch noch. Auf Anordnung der gnädigen Frau ist das Fremdenzimmer für ihn zurechtgemacht.« –

Frau Faber lächelte ein wenig. Sie ging durchs Eßzimmer, dort stand ein Gedeck, nur eines, und eine kaum halb geleerte Flasche: ein täglicher Tischwein und nicht der wohlbekannte feine Burgunder der Freundin. Sie ging zu Harriets Schlafzimmertür und klopfte an. Als nicht geantwortet wurde, trat sie ein.

Harriet schlief mit offenem, rotem Mündchen, als bliese sie Zigarettenrauch in Ringen. Die langen Wimpern lagen verblaßt auf der Wange. Sie glich einem frühverblühten Kinde. Am Fußende des Bettes sah Frau Faber einen großen, zottigen Kopf, es war Harriets Teddybär Jako, der hier allnächtlich seinen Platz unter der Steppdecke hatte, die ihm bis zum Kinn heraufgezogen war.

Frau Faber setzte sich auf den Rokokostuhl neben dem Bett, nachdem sie Strümpfe, Korsett und einen silbernen Handspiegel der Freundin zum Bären gelegt hatte. Sie blieb geduldig sitzen in dem Glauben, daß die Freundin der Tradition gemäß ihren Blick spüren und erwachen würde. Das geschah indessen nicht. Sie beugte sich daher vor und drückte mitten auf den Bären, der einen kleinen Kinderschrei von sich gab, worauf Harriet sofort die Augen aufschlug. Als sie die Freundin sah, setzte sie sich mit einem Ruck auf. Ihre Schultern und ihr kleiner, draller Busen schossen wie aus einem blühenden Kelch aus den Spitzen des Nachtgewandes hervor.

Sie zündete sich sofort eine Zigarette an und klingelte; Anna-Lise brachte ein Sèvresservice mit Schokolade.

»Wo ist das blaue chinesische Service?« fragte Harriet böse. Anna-Lise erzählte mürrisch, es sei im Fremdenzimmer bei dem jungen Herrn. Harriet riß die Augen auf, erinnerte sich, und ihr Ausdruck wurde schwermütig. Sie schüttelte langsam die gelben Schläfenlocken und verteilte mit einer Quaste ein wenig rosa Puder über die Wange.

»Ja, was meinst du, Ulla?« Der Blick war jetzt tragisch. »Ich habe ihn heute nacht hier im Hause schlafen lassen.«

Die Freundin nickte ruhig: »Nun ja, das finde ich vollkommen richtig von dir.«

»Es zog sich nämlich gestern sehr in die Länge«, fuhr Harriet fort. »Max Nielsen quälte mich, daß ich mit ihm zu Abend essen sollte, und du weißt, er redet ununterbrochen. Es wurde spät, ehe ich ihn zum Stillstand bringen konnte. Er ist sehr in Anspruch genommen. Ich bot ihm an, daß er dich bald bei mir treffen sollte, aber das machte keinen Eindruck auf ihn, er ist unverbesserlich, glaube ich. Da ist es wohl hoffnungslos, daß ich euch zusammen einlade.«

Ulla Faber lächelte schwach. »Ja, ganz hoffnungslos.« Sie war nicht unbedingt entzückt von diesem jungen Modearzt, der sie kürzlich einen Abend lang durch seine zynischen Aussprüche gelangweilt hatte, die er mit schmachtender, melodischer Stimme vorbrachte; ein blasierter Troubadour in untadeligem Salonstil, wenn er auch hübsche Augen hatte, unschuldig und kühlblau wie die eines Fischerjungen aus dem allernördlichsten Norwegen.

Sie spürte den scharfen Seitenblick aus den Augen der Freundin, an ihrem Äußeren war etwas, das Harriet nicht ganz gefiel, das merkte sie gut. Also hatte sie einen guten Tag! Sie fühlte sich denn auch frisch, gut aufgelegt, hatte auf ihrer Morgenwanderung die Seen entlang hierher Wind und Sonnenschein eingesogen.

»Du hast gut lachen!« Harriet wandte sich verdrießlich um. »Du brauchst nicht jeden Abend Banjo auf deinen Nerven zu spielen wie ich, die wie ein Nachttier lebt, und als Brünette kannst du Blässe auch besser vertragen als ich!«

Sie hörten Schritte im Eßzimmer, gedämpft und doch deutlich, von ausgeprägt männlichem Rhythmus. Jetzt hielten sie an, ein Stuhl wurde gerückt.

Harriet fuhr auf mit angstvoll starrendem Blick: »Ulla! Du mußt mir helfen. Hörst du? Du weißt ja alles, sprich du mit ihm, ich kann nicht. Ich bin so müde. Nicht eine Sekunde habe ich geschlafen. Schon der Gedanke an – an die entsetzlichen Tage damals. Du wirst doch, nicht wahr?«

Sie erhob sich im Bett fast ganz auf die Knie.

»Bring' ihn fort, laß ihn gehen!« Ihre Schultern bebten, sie barg das Gesicht in den Händen, aber zwischen ihren Fingern sah die Freundin den Schein von zwei wachen und aufmerksamen Augen.

Frau Faber erhob sich: »Nun ja, ich will mit ihm reden, wenn du meinst. Bleib' nur ruhig im Bett, Harriet. Versuche etwas zur Ruhe zu kommen, ich komme wieder herein, wenn ich etwas erreicht habe.«

Sie ging durch das Wohnzimmer, hob die Portiere zum Eßzimmer. Drinnen saß der Gast ihrer Freundin am Gartenfenster.

»Seien Sie so gut,« sagte sie, »kommen Sie herein, und lassen Sie uns miteinander reden.«

Er hatte sich mit einem Ruck erhoben, jetzt kam er ihr entgegen; sie fühlte, daß er nicht von ihren Worten, sondern von ihrer Nähe selbst angezogen wurde. Und jetzt spürte sie auch selbst einen leisen Strom, der von ihr zu ihm ging. Er stand da, schmal und rank, eine zarte Knabensilhouette gegen das helle Fenster, auf- und festgehalten von ihrem Blick.

Sie spürte, wie oft zuvor, die Allmacht ihres Wesens über Männer; aber diesmal so seltsam: gar nicht diese stolze Stärke, wenn sich ihr Wille hart gegen das stumme Verlangen des Mannes stemmte – und auch nicht voller Süße und schwindlig, wie dann, wenn sie ihn siegen ließ. Ihr schien, sie hätte so unsagbar allein gelebt bis jetzt – die so von Taten erfüllten langen, langen Jahre, in denen jede Minute in einer eigenen wilden Laune gelebt war – aus Leidenschaft, oft auch Qual, aber nie Bitterkeit! – Sie erschienen nun auf einmal als lose Augenblicke ohne Zusammenhang.

Sie senkte ihre Stimme, schonend, leise, sie spürte, daß ihr Ton fast wie eine Liebkosung zu diesem Knaben glitt, der so jung war, der fast ihr Sohn hätte sein können:

»Kommen Sie! Wir wollen uns setzen und miteinander reden.«

Aber sie sprach selbst weiter, sie fühlte eine Befreiung wie kaum je zuvor, indem sie ihm alle Wärme ihres ganzen Wesens zuströmen ließ, nur in ihre Stimme gehüllt oder behutsam in ihren Blick gelegt. Sie hätte fast weinen können vor entzückter Milde, als sie das dunkle Knabenhaupt sich beugen sah, als schämte er sich selbst zu zeigen, was er bis jetzt vermißt hatte. Und ängstigte sie sich nicht selbst vor dem Glück, das es sein mußte, wenn sie jetzt das schmale, feine Antlitz zwischen ihre Hände nahm und seinen Nacken dicht an ihre Lippen zwang!

»Erzählen Sie mir jetzt alles!« Und langsam, Satz für Satz brachte sie ihn zum Sprechen, formte vorsichtig ihre Fragen wie ein Bett, in dem seine Antworten Ruhe fanden.

Sie ließ ihn sprechen von den ersten Jahren im Sandersschen Heim aus einer längst verklungenen Zeit, von dem törichten Zwang der Schulzeit, von Strobels lächerlichen Stuben und von der rohen Wirklichkeit des Lebens, die er später in den Kammern der Gerichtszeit zu sehen bekommen hatte.

Sie lauschte, bald ergriffen, bald geängstigt, kannte sie doch selbst nur die geschliffenen Launen oder gehärteten Passionen ihrer eigenen Klasse, lauter Erlebnisse, die dasselbe Spiel, dieselbe Kälte hatten wie die Facetten eines Kristalls. Jetzt fühlte sie, wie sie bei jedem Bilde, das sie bei seiner Erzählung zu sehen bekam, aus seiner Erinnerung häßliche und trübe Dinge verscheuchte, und langsam gab sie ihm dafür, das fühlte sie, einen Reichtum von Zärtlichkeit und Wärme, der wie eine unerloschene Sehnsucht in ihrer eigenen Seele verborgen lag.

 

* * *


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