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Wenn ein Knabe das spanische Rohr zu schmecken bekommen hatte, ging Herr Bonfils – falls der Bestrafte nicht allzu weit von der Schule wohnte – zu den Eltern, um festzustellen, was der Bengel zu Hause über den Grund erzählt hatte – in der Regel eine Erklärung, die gegen das achte Gebot verstieß und die der Schule schaden konnte!

Herr Bonfils legte Hut und Waschlederhandschuhe auf Fräulein Sanders' Stutzflügel. Er sah sehr betrübt aus.

»Ihr Sohn«, sagte er zu Veronika, »hat, wie sich gezeigt hat, eine Verbrechernatur.«

Veronika wurde nervös und rief den Bruder herein. Daß Ejgil ein Verbrecher wäre, konnte sie nicht glauben, das hatte sie nie gemerkt! Aber es war Pflicht des Bruders, die Sache näher zu untersuchen.

Vorläufig berichtigte sie jedoch: »Ejgil ist nicht mein Sohn. Ich bin unverheiratet. – Konventualin«, fügte sie ein wenig spitz hinzu. Nun konnte Herr Bonfils jedenfalls nicht glauben, daß sie es war, der Ejgil nachartete!

Abteilungschef Sanders zeigte seinen mausgrauen Kopf in der Portiere.

Herr Bonfils wandte sich zu ihm. »Leider«, sagte er, »hat Ihr Sohn einen Kameraden so gut wie halb tot geschlagen.«

»Doch nicht mit Vorsatz?« fragte Sanders. Er hörte bekümmert die Darstellung des Herrn Bonfils an.

»Leider«, sagte Herr Bonfils, »bin ich gezwungen gewesen, Ihren Sohn aus der Schule zu weisen.«

Sanders ließ den Kopf hängen. »Wirklich?« Er war tief niedergeschlagen. Er wußte nur noch von einer Schule, die Frau Strobels Theodor besuchte, aber sie war weniger geachtet. Andererseits war es eine billigere Schule. »Ja,« sagte er, »wenn Sie meinen, Herr Bonfils – – –!«

Herr Bonfils unterbrach ihn barsch. »Ich will diesmal Gnade für Recht ergehen lassen und Ejgil behalten. Ich will nicht seinen Untergang in schlechten Händen. Ich habe die Verantwortung für Ihren Sohn, und die will ich nicht von mir abwälzen.«

Sanders räusperte sich ein bißchen verlegen: »Ejgil ist weder mein Sohn noch der meiner Schwester. Wir haben ihn gewissermaßen adoptiert.«

Jetzt erinnerte Herr Bonfils sich, daß bei der Anmeldung Ejgils Taufschein gefehlt hatte. Sanders hatte versprochen, ihn zu beschaffen, und die Sache war in Vergessenheit geraten. Aber im Schülerverzeichnis stand ein Erinnerungskreuz bei Ejgil Sanders' Namen. Herr Bonfils sah die Rubrik vor sich und erinnerte sich dabei auch, daß Herr Sanders Hofcharge hatte.

»Ich weiß gut Bescheid über Ejgil, Herr Kammerjunker«, sagte er. »Nichts für ungut, aber Ejgils Taufschein ist nicht in der Schule vorgelegt worden.«

Sanders wurde unruhig, aber Veronika erzählte nun mit einem indignierten Blick auf ihren Bruder Herrn Bonfils von ihrem Dilemma wegen Ejgils Taufe.

»Dann verstehe ich Ejgils Benehmen besser!« stellte Herr Bonfils fest. Auch Veronika sah es jetzt für voll erwiesen an, daß Ejgil nicht getauft war.

»Wenn Sie erlauben,« fuhr Herr Bonfils fort, »werde ich mit meinem Mitarbeiter und Ejgils Lehrer, Pastor Krabbe, über die Sache sprechen.«

Pastor Krabbe erklärte mit einem Lächeln auf seinem runden, netten Gesicht, er übernehme gern die Verantwortung dafür, daß Ejgil möglicherweise schon einmal zuvor getauft war: »Als der liebe Gott die kleinen Kinder segnete, achtete er nicht darauf, ob eines zum zweiten Male käme!«

Hierauf taufte er Ejgil bei einer häuslichen Feier am folgenden Freitag, an dem die Schule sowieso ihren monatlichen Ferientag hatte.

Veronika hatte lithographierte Einladungskarten verschickt: in erster Reihe natürlich an Herrn Bonfils und den zweiten Vorsteher der Schule, Herrn Haagensen, cand. theol. und Naturgeschichtslehrer. Ferner lud Veronika ihren eigenen Lehrer in Kunstgeschichte und Ölmalerei, Willibald Olsen, ein. Er hatte früher in einem kleinen Pensionszimmer im zweiten Stock mit Ausgang nach der Treppe gewohnt, und Veronika war ihm oft begegnet, wenn sie ausging. Er sei ein strebsamer junger Künstler, sagte die Frau des Hauswarts, aber von einfacher Herkunft, und das Zimmer, in dem er malte, elend und ohne Tageslicht. Als er sich daher eines Tages bei Sanders einstellte mit der Bitte, ihm eine leere Rumpelkammer als Atelier zu überlassen, bestimmte Veronika den Bruder, ja zu sagen und entschloß sich selbst, Stunden bei dem jungen Maler zu nehmen, um ihn auf seiner Laufbahn ein wenig zu fördern. Jetzt gönnte sie ihm auch gern die Aufmunterung, die eine Einladung in ihr Haus ihm bedeuten mußte; ganz sicher entbehrte er allen besseren Umgang! – Auch Frau Strobel, die Ejgil als Säugling mitgepflegt hatte, mußte sie ja eine Einladung schicken, und aus Freundlichkeit erhielten ihre Kinder, Aase und Kirsten, jede eine lithographierte Karte mit ihrem vollen Namen in roter Tinte. Sie sagten alle zu auf einer Postkarte mit P. S., ob der kleine Theodor nicht mitkommen dürfte, er verspräche auch artig und nicht so wie das letztemal zu sein.

Andere Familienmitglieder lud Veronika nicht ein. Der Bruder verbat es sich inständig, irgend jemand aus seinem Bureau einzuladen.

Es waren fünfundzwanzig lithographierte Karten, aber nur sieben wurden gebraucht. Veronika war verstimmt, sie dachte an ihren ganzen alten Kreis. Wehmütig füllte sie die anderen Karten mit Namen aus jener Zeit aus: Kammerherr und Kammerherrin Mühlen, Legationssekretär Bruno Fersen, Oberleutnant von der Leibgarde Fritz von Schildten – – . Sie betrachtete die blanken Karten und legte sie wie auf einem Tische zurecht; Kavalier und Dame mit großer Sorgfalt füreinander gewählt. Dann zerriß sie die Karten eine nach der anderen.

Sie erhob sich und wandte sich zum Bruder um, der lautlos in seinen Hausschuhen in die Stube getreten war und hinter ihrem Stuhl stand. Offenbar hatte er jedoch nichts gesehen. Sie fegte die Fetzen in den Papierkorb.

»Du mußt zur Feier Gala anziehen!«

Er schüttelte schwach den Kopf. »Gala? Du weißt, ich habe nur meine Kammerjunkeruniform, ich kann in meinem Alter doch nicht als Kammerjunker gehen, und außerdem sind Motten in den Hosen. Als ich jünger war,« seufzte er, »sagtest du selbst, ich könnte mir eine Amtsgala sparen und die Kammerjunkeruniform gebrauchen. Und jetzt siehst du selbst die Folgen!«

»Du mußt in Amtsgala sein,« behauptete die Schwester, »Pastor Krabbe kommt im Ornat, und sowohl Herr Bonfils wie Kandidat Haagensen sind dekoriert und kommen sicher mit ihren Orden. Du mußt deinen Alltagsuniformrock vom Bureau mit nach Hause bringen, und ich nähe dir dann Goldstreifen auf deine Frackhose. Ich habe noch fünf Meter auf meinem Walkürenrock von Grete Plessens Maskenball vor zwei Jahren. Und dazu kannst du gut deinen Kammerjunker-Dreispitz und -Degen tragen. Aber Gala mußt du anziehen!«

Sie fügte hinzu: »Wenn nicht aus anderen Gründen, dann schon Willibald Olsens wegen. Du weißt, wie er Farbenpracht liebt, und du darfst mich nicht im Stich lassen in meiner Arbeit, ihn in sozialer Beziehung zu heben, bei aller Anerkennung seiner Tapferkeit, daß er als Geselle bei einem Sargtischler in der Bürgerstraße begonnen und sich jetzt zum Figuren- und Kunstmaler herausgeschwungen hat.« –

Vier Tage lang wurden Spritzkuchen gebacken, wurde Kompott bereitet und Silber geputzt. Veronika ging in Kattunkleid und Küchenschürze herum, mit einem Paar alter zwölfknöpfiger Handschuhe, um die Arme zu schonen. Das Haus roch nach Silberseife und Quittenmarmelade. Schließlich wurde der Klavierstimmer geholt, da ja Choräle gesungen werden sollten.

Selbst Willibald mußte beim Dekorieren helfen, namentlich bei der kirchenmäßigen Ausschmückung des Wohnzimmers. Er machte zuerst eine Farbenskizze, die Veronika sublim, leider jedoch unausführbar fand, da man den Flügel nicht durch die Schlafzimmertür hinausschaffen konnte.

Man setzte das Essen auf fünf Uhr an (aus Rücksicht auf die hungrigen Magen der Kinder) und bestimmte, daß festlich angerichtet werden sollte. Das Menü lautete:

Fischrand mit Kapernsoße
Kalbsbraten mit Petersilie à la junges Lamm
(Französische Kartoffeln und Kompott)
Spülkummen

schließlich als Dessert:

Riz à l'amande
mit roter Kirschsoße.

Es wurde eine halbe Flasche St. Julien auf jeden Erwachsenen, ein kleines Glas Madeira zum Dessert und Bischof für die Kinder berechnet.

Man hatte erst mit klarer Suppe beginnen wollen, aber die große Silberterrine sollte zur Taufe gebraucht werden.

Das kostbare, blaue, ostindische Service der Urgroßeltern sollte riskiert werden, jedoch nur für die Erwachsenen, und den Tisch sollte der ererbte Spiegelaufsatz mit den vierundzwanzig Meißner Figuren schmücken: kleine badende Nymphen nebst den zwölf Aposteln.

Über Veronikas Rokokokommode war eine Spitzenkaffeedecke gebreitet, und darauf lag zwischen den beiden schweren silbernen Leuchtern die große Familienbibel mit Goldschließen und dem Wappen des Geschlechtes Sanders. Hier stand Pastor Krabbe in vollem Ornat, während die Geladenen im Halbkreis auf den Eßzimmerstühlen saßen, Ejgil ein wenig vor den anderen. Er trug eine neue Samtbluse mit Spitzenkragen. Die langen Locken waren mit Brillantine frisiert.

Frau Strobel, die Patin des Kindes, erschien in schwarzem Atlas, tief ausgeschnitten und mit Maria-Stuart-Kragen, der Mode war, samt Silberpfeil im Haar. Ihr Mann, der Rechtsanwalt, hatte abgesagt, da er wenige Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte und still daniederlag. Herr Bonfils kam im Frack mit Ritterkreuz und Vasaorden, Kandidat Haagensen mit einer geringeren italienischen Auszeichnung aus der Zeit, da er dem Studentengesangverein angehört hatte.

Frau Strobel musterte das Arrangement und fand es sehr feierlich.

»Ich werde die Mütze halten!« behauptete sie, und niemand konnte sie davon abbringen. Sie ging in den Vorraum und holte Ejgils Mütze, die neu angeschafft war und die bei Konfirmationen übliche Fasson hatte.

Pastor Krabbe lachte gutmütig: »Warum nicht? Lassen Sie sie nur!«

Er nahm Ejgils kleine Hand in seine beiden und sagte, jetzt solle er ein guter und artiger Knabe sein und sich nicht fürchten.

Hierauf sprach er mit seiner milden, freundlichen Stimme. Er sagte zu Ejgil, er würde nun in ihre Gemeinschaft ausgenommen, die trotz geringer, schwacher Kräfte nach dem Guten strebte. Und er sollte selbst streben, ein guter Knabe und später ein rechtschaffener Mensch, hilfsbereit und wahrheitsliebend zu werden; selbst wenn ihm die Welt oft voller Widersprüche und lächerlich erscheinen sollte. Wir wären ja alle eine Art verirrter Engel aus einem unbekannten Lande, heimatlos hier auf Erden, wenn wir auch oft freundlichen Händen begegneten, und alle sehnten wir uns nach dem Lande, wo Frieden, Schönheit und Harmonie herrschten.

Durch die Scheiben fiel der Sonnenschein voll auf das Antlitz des Geistlichen, die Kerzen auf der Kommode verbrämten golden seine schwarze Tracht. Die Möbel der alten Stube glommen in dem Schimmer vor den dunkelroten Wänden. Draußen leuchtete der Frühling über dem Schwarzdammsee, wo weiße, mit frohen Menschen gefüllte Boote langsam den Bogen der Königin-Luise-Brücke zuruderten. – Abteilungschef Sanders' Goldstreifen funkelten an den schwarzen Hosen.

Ejgil war bald heiß, bald kalt, ihm schien, er wäre lange allein herumgeschweift, eifrig und versessen auf alle Dinge der Welt; er erinnerte sich wie eines Traumes, den er gehabt, eines stillen Gartens, wo er auf einem sonnenbeschienenen Rasen zwischen freundlichen Tieren gespielt hatte, deren Pelz warm gegen seine Wangen strich. Er fühlte sich so klein und unbedeutend der großen Welt gegenüber, dachte, daß er in seinem bisherigen Leben sicher zu selbstsüchtig gewesen wäre. Jetzt fühlte er sich tief demütig, bedrückt davon, daß er es war, auf den sich heute aller Augen richteten. Er beschloß, sich zu ändern, gut, aufmerksam, freundlich und ohne Selbstgefühl zu werden; ihm war, als sänke er in Sonnenschein und Wärme und hörte fast auf zu sein.

Als Pastor Krabbe nach dem Ritual fragte, wie das Kind hieß, entstand Verwirrung. Hieran hatte niemand gedacht, da Ejgil ja auch vor der Taufe schon einen Namen hatte.

Es gehörte sich, daß der, der das Kind trug, den Namen nannte, aber hier trug ja niemand. Man blickte sich verlegen und ratlos von der Seite an. Frau Strobel rettete die Situation und trat vor, sie hielt ja die Mütze und brachte es fertig, in aller Eile ein paar Zwischennamen für Ejgil zusammenzustellen.

»Ejgil Veronikus Theobald Sanders«, sagte sie atemlos vor Bewegung. Theobald hieß ihr Mann, woran sie gern erinnert werden wollte, wenn er jetzt bald dahinging. Pastor Krabbe verstand falsch und wiederholte den Namen als Willibald, und dabei blieb es.

Es gab eine einstündige Pause, ehe man zu Tische ging. Diese Zeit verbrachten die Erwachsenen mit Unterhaltung, die Kinder wurden ins Schlafzimmer geschickt, um zu spielen. Es war ein Gabentisch für Ejgil gedeckt, aber die Sachen sollten vorläufig zum Staat stehenbleiben, obwohl Aase, Kirsten und Theodor nach ihnen schielten. Da war eine silberne Uhr vom Onkel, eine silberne Kette von Veronika mit einer daranhängenden Flöte, Frau Strobel hatte einen Tauflöffel gebracht, der vorläufig gut für Kompott gebraucht werden konnte, Aase und Kirsten eine Schachtel mit kleinen Enten und Schwänen aus Zinn, die mit Hilfe eines Magneten in einer Wasserschüssel herumgezogen werden konnten, Theodor eine große Tüte mit gefüllter Schokolade, die ihn die Mutter jedoch nicht selbst überreichen ließ.

Herr Bonfils brachte ein Buch in Goldschnitt – es hieß: »Der Weg der Ehre für Knaben« und war von ihm selbst verfaßt – und Kandidat Haagensen eine Blindschleiche in Spiritus.

Auch Willibald Olsen hatte ein Geschenk für Ejgil. Er wickelte ein flaches Paket aus grauem Papier aus, ein Gemälde, wie man verstand, und alle bekamen den lüsternen Blick, der selbst für Erwachsene typisch ist, wenn Bilder gezeigt werden sollen.

»Es ist nur eine Skizze«, sagte Willibald Olsen und biß den Bindfaden mit seinen großen Pferdezähnen durch.

Veronika saß in der Ecke hinter dem Flügel und betrachtete ihn heimlich. Seine Anwesenheit machte sie nervös, sein mächtiger Körper nahm hier drinnen soviel Raum ein, viel mehr, als für ihn in ihrem Kreise angemessen schien. Es lag über ihm eine Kraft, die ein wenig indiskret wirkte, namentlich in der dünnen Jacke, deren zu kurze Ärmel die starken roten Handgelenke frei ließen, und man sah keine Hemdärmel, geschweige denn Manschetten. Dazu war er in seinen Radfahrerhosen gekommen und besaß wohl auch keine anderen Kleider.

Herr Bonfils streckte die Hand nach dem Bilde aus, um es in die Sonne zu holen, in der Hoffnung, Fehler in der Zeichnung feststellen zu können.

Willibald Olsen schüttelte den Kopf, trug das Bild tiefer in den Schatten des Zimmers und legte es mit der gemalten Seite nach oben auf den Fußboden. Alle sahen erstaunt zu, so hatte noch keiner der Gesellschaft mit Gemälden umgehen sehen.

»So sieht man es am besten!« sagte er.

Man zog die Kneifer hervor oder hielt – man wußte, daß es in Künstlerkreisen so üblich war – die hohle Hand vors Auge. Es wurde so still, daß das Spielen der Kinder im Schlafzimmer wie Donner tönte.

Das Bild war in drei Farben gemalt: Schwarz, Weiß und Gelb. Vor einer geweißten Wand in einer nackten Kammer stand ein gelbes Bett, darin lag die Leiche einer alten Frau, eingefallen und bleich, ein schwarzer Sarg stand parallel zum Bett, und drei Tischlergesellen schickten sich an, ihn aufzuheben. Ein gasartiger, gelblicher Dunst lag in Streifen über dem Raum.

Herr Bonfils schnappte nach Luft.

»Das muß ich wahrhaftig sagen!« Sein Kopf wurde kupferrot.

Auch Sanders wurde äußerst unangenehm berührt. Diese Seite des Lebens war ihm gewiß nicht neu. Er hatte als junger Polizeibeamter so manche Leichenschau mitgemacht. Aber derartige Eindrücke hatte er stets von seinem Heim ferngehalten. Der Schmutz und Gestank des Amtes sollte nicht in die stillen Stuben dringen, wo Veronika ihr unberührtes Leben lebte. Zwar hatten sie beide den Tod der Eltern erlebt, aber diese zwei Gelegenheiten hatten nur wehmütige Erinnerungen hinterlassen, waren sie doch dezent und schonungsvoll von einem Beerdigungsunternehmen erster Klasse geordnet worden. –

Willibald Olsen sah sein Bild an.

»Ja,« sagte er, »das habe ich oft mitgemacht! Das ist gesehen, nicht wahr?«

Sanders wickelte das Bild schleunigst wieder in das Packpapier. Seine Hände zitterten etwas. Er dankte Herrn Olsen für das schöne Geschenk, wollte aber das Bild aufbewahren, bis Ejgil etwas größer wäre.

Veronika war in ihrer Ecke sitzengeblieben. Sie hatte nur eben einen Schimmer des Bildes erblickt. Es hatte sie tief bewegt. Ihr wurde plötzlich klar, unter welch gräßlichen Verhältnissen Willibald gelebt hatte, bis er Künstler wurde.

Herr Bonfils ergriff das Wort: »Sie werden mich vielleicht altmodisch finden, Herr Olsen, aber ich bin nun einmal ein Bekämpfer des modernen krassen Realismus in der Kunst. Daß Sie es wissen!«

»Realismus?« Willibald Olsens Gesicht wurde sinnend.

»Der Realismus ist nicht mehr modern«, sagte er mühsam, als hätte er selbst eine Sache abgetan, mit der er sich bis jetzt abgeschleppt hatte. »Wir sind gerade dahin gelangt, daß Kunst nicht nur heißt, eine Illusion zu schaffen!« Er sah schwerfällig auf Veronika, als könnte sie seine Gedanken auslösen.

»Wir müssen zurück zur reinen Farbe«, sagte er und starrte auf seine Hände.

Keiner ahnte, was er meinte, und man schwieg vorsichtig.

»Aber ich mußte mir nun mal das Bild heruntermalen,« sagte Willibald Olsen leise, »weil ich es so stark erlebt habe – einmal, als – –« Er fuhr nicht fort, sondern saß da und rieb sich die großen, warzigen Arbeitshände.

Das Schweigen wurde wiederum peinlich. Veronika erhob sich erschrocken. Natürlich war es nicht recht von ihrem Protegé, ein so trostloses Thema wie gerade den Tod zu wählen, zumal bei einer Tauffeier! Aber vieles sprach zu seiner Entschuldigung. –

Jetzt war auch der Lärm vom Spiel der Kinder im Schlafzimmer verstummt. Beklommen öffnete sie leise die Tür.

Aase und Kirsten lagen in Veronikas Bett, die Decke bis zu den rosa Näschen hochgezogen. Sie riß das Oberbett herunter. Sie hatten jedes eines ihrer neuen Battistnachthemden an. Im Gesicht waren sie pitschnaß. Ihr Bruder Theodor hatte soeben einen Badeschwamm über sie und das ganze Kopfkissen ausgewrungen.

»Wir spielen Jüngsten Tag!« erklärte Kirsten. »Und Theodor soll uns von den Toten erwecken!«

Veronika mußte doch ein wenig schelten und sah sich dann um:

»Wo ist Ejgil?«

Aber keines der Kinder wußte, wo Ejgil war. Aase glaubte, er wäre ausgegangen.

Veronika sah im Vorraum nach, und richtig: Ejgils neue Mütze fehlte. Bestürzt ging sie zur Gesellschaft zurück.

»Ejgil ist fortgegangen!«

Pastor Krabbe errötete leicht. »Ich bin sicher der Schuldige«, hustete er heraus. »Ich hatte kein Taufgeschenk für Klein-Ejgil mitgebracht, und da gab ich ihm ein blankes Zweikronenstück. Und nun ist er vermutlich hinuntergegangen, um sich Bonbons zu kaufen – oder eine Eiswaffel!« fügte er sachverständig hinzu.

Das beruhigte sie etwas.

Aber es verging fast eine Stunde, bis Ejgil nach Hause kam. Sie hörten es klingeln, dann das Hausmädchen im Vorraum aufschreien. Schließlich ging die Tür auf, und Ejgil kam still herein. Die Haare waren ihm mit der Maschine geschnitten. Die Kopfhaut schimmerte rötlich durch die kurzen weißen Stoppeln.

Alle blickten ihn entsetzt an; das war nun doch viel schlimmer, als man erwartet hatte.

Die Sache war, daß Ejgil längst gewünscht hatte, sich die Haare kurz schneiden zu lassen, was Veronika ihm verbot. Aber ihm selbst waren die langen Locken höchst unbequem. Sie hingen immer an irgend etwas fest und machten ihn zudem zu einer sonderbaren Erscheinung. Es galt, allen anderen zu gleichen, um in Frieden leben zu können!

Und dieser Tag, das fühlte er, war der Wendepunkt in seinem Leben. Es war, als läge jetzt ein ganzes Zeitalter hinter ihm, eine Reihe von Jahren, welche Spaziergänge an der Hand eines Erwachsenen, erzwungene Spielstunden im düsteren Eßzimmer und Schulbücher bedeutet hatten, die ihn durch ihre Blödheit quälten. Alles das mußte jetzt überstanden sein!

Daher ging er zu Onkels Barbier und kletterte auf den Stuhl: »Haarschneiden mit der Maschine und ganz bis auf die Kopfhaut!«

Herr Bonfils hatte sich erhoben. »Das nenne ich Profanation! Sich an seinem Tauftag das Haar schneiden zu lassen!«

Pastor Krabbe suchte ihn zu besänftigen.

»Heißt das nicht, geistige Dinge etwas gar zu materiell ansehen?«

Herrn Bonfils wurde plötzlich klar, daß Pastor Krabbe, dem mit Rücksicht auf die magere Pfarre Stunden an der Schule vergönnt wurden, nicht ganz so hochkirchlich war, wie man erwarten durfte!

Außerdem hatte das Haarschneiden ihm die Taufrede verdorben. Er hatte gern so etwas gesagt wie:

»Dies Kind ist ein Engel, der aus der Höhe zu uns gekommen ist – Engel entstehen auf mancherlei Art – einige werden im Paradies geboren, das sind die guten Engel des Lebens!« – hier eine leichte Verbeugung vor Fräulein Sanders – »... aber Ejgil kam von einem Orte, wo Verbrecherinnen der Art sich aufhalten, die man Engelmacherinnen nennt! – Eine Kinderhölle! – Jawohl! – Lassen Sie uns hoffen, daß dieser Engel, dessen Seele in unsere Hände gelegt ist – – –«, und immer so weiter im selben Geiste.

Und diese Rede war nun ganz verdorben!

Veronika nahm seinen Arm:

»Darf ich zu Tisch bitten?«

Das Eßzimmer ging nach dem Hof hinaus, aber Veronika hatte alle Gasflammen angezündet. Das alte Silber, die Kandelaber, Bowlen und massiven Zuckerschalen funkelten auf dem gelbeichenen Büfett. Über der Spiegelkonsole hingen die Gedenkteller der Königlichen Porzellanfabrik von den Festtagen des Hofes sowie Familienbilder in ovalen, feuervergoldeten Rahmen.

Herrn Bonfils berührten diese Bilder angenehm, sie war ihm eine vertraute Welt, diese Reihe von besten Söhnen des Landes und guten Männern des Königs. Da gab es sogar Ahnen in gepuderten Perücken und Brustkrausen über rotseidenen Mänteln. Aber älter als etwa 1750 schien die Familie Sanders, nach der Bilderreihe zu urteilen, doch nicht zu sein.

Willibald Olsen hatte eine unbequeme Ecke zwischen Veronika und Frau Strobel erhalten, seine Knie stießen gegen ein Tischbein, und Veronika sah ein, daß sie eine Tischeinlage zu wenig berechnet hatte. Jetzt saß der Maler ganz hinter ihr und Frau Strobel; bewegte er das Bein, so konnte sie es in ihrem Knie spüren, wenn er aber den Arm zwischen sie und Frau Strobel streckte und nur ein dünnes Scheibchen Fischfarce erwischte, rührte seine Ungeschicklichkeit sie. Sie lachte freundlich und legte ihm reichlich auf.

Der Maler runzelte die Stirn, es machte ihn verlegen, daß er bedient wurde. Die Gesellschaft sagte ihm überhaupt nicht zu, er fand die Ordensbänder der zwei Herren lächerlich, und Herrn Sanders, den er sonst gern hatte, albern in der Gala mit breiten Goldstreifen an der Hose. Dazu verletzte die rote Eßzimmertapete seinen Farbensinn, und von dem Büfett konnte er die Blicke nicht wenden. Ein solcher Eichenkasten stand unweigerlich in jeder Familie, in die er seinerzeit als Tischlergeselle gekommen war, sie glichen den gelben Särgen, die er brachte. Er hatte geglaubt, daß reiche Leute einen besseren Geschmack hätten.

Herr Bonfils schlug an sein Glas, um eine etwas veränderte Rede zu halten. Aber er hegte innerlich Zweifel, inwieweit Ejgil durch seine heutige Taufe und endgültige Aufnahme in die Familie Sanders adelig geworden wäre. Und das nahm seiner Rede die Kraft.

Er vermochte jedoch den Wunsch auszudrücken, daß Ejgil wachsen und wie die treuen Diener der alten Könige aus dem Sandersschen Geschlecht dort an der Wand werden und wie sie die Wacht an Thron und Vaterland halten möchte.

Ejgil, der mit Aase, Kirsten und Theodor an einem kleinen Tische aß, welcher an dem nach dem Hofe gehenden Fenster für sie gedeckt war, hörte Herrn Bonfils aufmerksam zu. Er fühlte seine Stimmung von der Stube mit all den alten Dingen und den ernsten Porträts beeinflußt, und doch schien ihm dies eine Welt zu sein, von der er gern fortwollte. Es gab sicher ganz andere Welten in der Welt!

Herr Haagensen wollte ihm zutrinken, er beugte sich nach hinten und kniff den Knaben ins Ohr. Ejgil drückte sich ängstlich beiseite. Herr Haagensen hatte die Gewohnheit, Knaben, namentlich runde, pummlige Knaben, wenn sie tüchtig waren, aufs Katheder zu rufen. Dort biß Herr Haagensen sie in die Backe, so daß seine Zähne hinterher sichtbar waren wie in einem Apfel.

Aber Herr Haagensen hielt sich an Ejgils Ohren, die klein, oben jedoch ein bißchen spitz waren und jetzt, da die Locken fehlten, rosa durchschimmerten.

»Das ist die Spitze, die wir Darwinsknoten nennen!« sagte Herr Haagensen sachverständig.

»Übrigens hat die moderne Wissenschaft sich ganz von Darwin abgekehrt«, fügte er überlegen hinzu. »Und viel mehr ist von Darwin nicht übriggeblieben als der Name der kleinen Ohrenspitze. Darwin meinte, das wäre ein tierisches Zeichen oder ein Rudiment, wie er es nannte. Aber wir modernen Zoologen wissen jetzt, daß die Affentheorie ganz veraltet ist.«

Er wischte sich mit der Serviette den Mund.

»Wie sooft zuvor hat die Zeit den Theologen recht gegeben gegenüber den unfruchtbaren Anschauungen der Wissenschaft!«

Er drehte Ejgils Ohr, daß es brannte. »Aber nichtsdestoweniger ist diese kleine Spitze am Ohr ein Charakteristikum, das alle modernen Physiognomiker, ja sogar die alten Phrenologen kannten. Ich erinnere an den berühmten Doktor Gall. Und die Ohren eines Knaben können uns Erziehern schon etwas zu denken geben. Ehe man glaubt, daß ein Knabe ein kleiner Engel sei, sollte man sich seine Ohren ansehen, ob er in Wirklichkeit nicht ein kleiner Esel ist! – Kennen Sie, meine Herren und Damen, die Geschichte von König Midas' Eselsohren, die sein Barbier entdeckte, was er aber nur dem Schilf am Meeresgestade zuzuflüstern wagte? Nicht? Ich will Ihnen die Geschichte erzählen – oder die Mythe, wie wir sagen.«

Er erzählte die Mythe, die niemand außer Herrn Bonfils kannte (der sich sogar erinnern konnte, wie der Barbier hieß).

»Wenn der Barbier jetzt nur nicht über den kleinen Ejgil schwatzt!« schloß Herr Haagensen, und alle mußten lachen, außer Ejgil selber.

Die halbe Flasche St. Julien und Herrn Haagensens Rede hatten die Stimmung erhöht. Man war ein bißchen unsicher gewesen bezüglich der Art des Tages. Keiner fühlte ihn richtig als Tauftag. Jetzt sah man in Ejgil, der artig vor seinem Teller saß, etwas wie einen kleinen Konfirmanden. Und als die Tafel aufgehoben wurde, brauchte man nicht mehr an den Konfirmanden, sondern nur noch an sein eigenes Vergnügen zu denken.

Die Kinder blieben im Eßzimmer.

Ejgil setzte sich ans Fenster, um in Herrn Bonfils' Geschenkbuch »Vom Weg der Ehre für Knaben« zu lesen. Es war die Geschichte eines Knaben, der Geld (dreißig Kronen) von seinem Vater als Beitrag zum Jubiläumstage seines Schulvorstehers erhielt, das Geld jedoch in Feuerwerk durchbrachte und arg zu Schaden kam, aber auch die Geschichte einer Mutter, die einen kleinen Knaben hatte. Sie hielt ihn in ihren Armen, so daß er ihre warme Wange an der seinen und ihre Tränen brennen fühlte, weil ihr Junge keinen Vater mehr hatte. »Ich werde dich schützen, ich will dich behüten, mein geliebter kleiner Bursche«, waren ihre Worte.

Hierauf saß er da und blickte in den Hof hinunter, wo ein Sonnenfleck, so groß wie eine Wasserschüssel, auf die Karre des Fuhrmanns fiel. Mitten im Sonnenfleck saß ein großer, schwarzer Kater. Plötzlich wurde Ejgil klar, wie schwer und öde die Einsamkeit ist.

Theodor hatte Herrn Haagensens Blindschleiche zum Schwimmen in Ejgils Aquarium gesetzt, die Kaulquappen fuhren entsetzt umher, als die Seeschlange sich zeigte. Hierauf wollte Theodor Kirsten zu der Schlange untertauchen. Als sie schrie, griff er in die Bluse und zeigte ihr ein Ding von Bananengröße. Es war blank und von zwei Kupferreifen umgeben.

»Das ist eine geladene Granate«, sagte er und erzählte, daß er sie draußen auf dem Militärschießplatz gefunden hatte und ausgerissen war, ehe der Konstabler, der Anzeiger beim Schießen, hinzukam.

»Wahrhaftig, sie ist geladen!« sagte er und schwang das schwere Geschoß. »Soll ich sie auf den Fußboden schmeißen?

Veronika steckte den Kopf zur Tür herein.

»Was hast du da, Theodor?«

»Schokolade in Silberpapier«, antwortete der Knabe mürrisch.

Veronika zog sich beruhigt zurück.

»Die Kinder spielen so süß,« sagte sie, »und Ejgilchen liest in Ihrem Buch, Herr Bonfils.«

Herr Haagensen wandte sich zu Abteilungschef Sanders.

»Singen Sie nicht, Herr Kammerjunker?«

Sanders errötete. Auch er war altes Mitglied des Studentengesangvereins; – das war eine ferne, frühlingslichte Zeit mit Ausflügen in den Tiergarten im Kremser mit jungen Damen in hellrosa Kleidern. Alles, ehe er Kammerjunker wurde. –

Sanders räusperte sich bewegt, und Veronika setzte sich an den Flügel.

 

* * *


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