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Ejgil erhielt am vierten August einen Brief von Strobel. »Onkel wird morgen um fünf Uhr nach der Leichenkapelle auf dem Westerkirchhof überführt,« schrieb sie, »und Du kannst Dir daher wohl denken, daß er gestorben sein muß, wenn Du nicht die Anzeige unter den Todesnachrichten gesehen hast, die ich in die Morgennummer der drei größten Zeitungen einrücken ließ. Die Begebenheit ging in Stille vor sich, der arme Onkel litt zuletzt nicht.«

Ejgil eilte am nächsten Tage nach der Westerstraße. Die Stadt war unruhig, der Rathausplatz wimmelte von Menschen, die Menge staute sich vor den Fensteranschlägen der Zeitungen. Niedergedrückt und scheu bohrte er sich seinen Weg durch das Gewimmel.

Tante Strobel empfing ihn im Wohnzimmer. »Wie traurig ist Onkels Tod!« sagte sie, »wenn wir ihn auch längst erwartet hatten! Er war in seinen letzten Monaten solch ein herzensguter, selbstloser Mensch. Er lag ganz still da, ohne jemand zu erkennen. Wir konnten ihn stundenlang liegenlassen, ohne daß wir nach ihm zu sehen brauchten; er war vollkommen gelähmt, und wir waren daher sicher, daß ihm nichts zustoßen konnte!«

Sie trug ein neues Taylormade-Trauerkostüm und plättete einen schwarzen Rock, den sie für Kirsten hatte ändern lassen.

»Ja«, sagte sie. »Es ist ein trauriger Tag. Und ein Unglück kommt ja nie allein. Erst stirbt das arme Väterchen, und am selben Tage bricht der Weltkrieg aus!

Aber ich tat meine Pflicht gegen meine Kinder, deren Versorger ich jetzt geworden bin,« fuhr sie fort, »und das trotz der Trauer. Als ich auf dem Rathausplatz sah, daß Krieg gekommen war, ging ich augenblicklich hin und hob alles ab, was ich auf meinen Sparkassenbüchern hatte. Wenn sie auch von fünf verschiedenen Banken waren, hätte ja Unglück drohen können, und dann ging ich gleich und kaufte Haferflocken, Kaffee und zehn Kisten Mignonzigarren für den Notfall ein. Ich habe ja überall Kredit, wenn also der Krieg hierherkommt und das Land bankrott macht, so brauche ich nichts für die Waren zu bezahlen. Aber komm jetzt hinunter, Ejgil, und sieh Onkel an. Er sieht so froh und vergnügt im Tode aus.

Kirsten und die paar nächsten Verwandten sowie Pastor Krabbe kommen gleich. Wir wollen einen kleinen Choral an der Bahre singen.«

Sie ging Ejgil voran durch das Korridornetz der Wohnungen.

»Der arme Theodor kommt leider nicht zur Beerdigung heim«, seufzte sie. »Wie du wohl weißt, hatte er eine kleine Extrazulage zur Strafzeit wegen schlechter Führung erhalten, aber Neujahr kam er auf freien Fuß. Und dann erhielt er ja gleich die Woche darauf eine Stellung in einem anderen Bankgeschäft, und zwar einen ebensolchen Vertrauensposten wie bei Herrn Favier. Es war ein unsagbares Glück, für das wir dankbar sein müssen! Aber er hatte ja auch drei Monate vorher, ehe seine Schwindeleien entdeckt wurden, eine glänzende Empfehlung für Fleiß und Treue von Herrn Favier erhalten, als er ihn um ein Zeugnis für ein Legat der Handelsschule bat. Auf die Empfehlung hin konnte er jede Stellung in der ganzen Stadt bekommen. Aber jetzt hat er sich für einige Tage im Geschäft krank gemeldet und ist mit einem Finanzmann nach Jütland gereist, um alle Pferde im ganzen Lande für den Krieg aufzukaufen. Es ist ein großes Glück für Theodor, daß der Krieg jetzt kommt und ihm Genugtuung verschaffen kann!« – Auch Aase war nicht zu Hause; sie war mit einem Zahnarzt verlobt, dessen Sprechstunde erst um fünf Uhr schloß; aber beide wurden zur Feier erwartet.

Ejgil ging hinter der Tante ins Sterbezimmer. Alles war wie zuvor. Nur stand jetzt der schwarze Sarg, in dem Onkel Strobel lag, parallel mit dem Bett, dessen Oberbett über das Fußende zurückgeschlagen war. Es sah aus, als wäre er direkt aus dem Bett in den Sarg gerollt. Ejgil mußte an Willibald Olsens Gemälde denken, das noch drinnen in dem leeren Eßzimmer lag und eine Patina von Fliegenschmutz bekommen hatte. Aber wie lange, lange war es auch her, daß Willibald dieses Bild flach auf den Fußboden vor Herrn Bonfils und Onkel Sanders gelegt hatte, als grübe er ihnen zu Füßen ein Grab! – Und noch länger her schien es ihm, daß er hier mit Christian auf Onkel Strobels Bett gesessen und Baron Tottenberg in den Alpen gespielt hatte. Jetzt fühlte er, das machte er sich klar, nicht mehr viel für jene Tage. Es war nur, als wäre er aus einem Saal einer Gemäldegalerie in einen anderen getreten. Hier waren neue Bilder, die alten waren verblichen, und die neuen gewannen Macht, als wären sie stets die einzige Wirklichkeit in der Welt gewesen! –

Tante Strobel nahm das Schweißtuch vom Gesicht des Toten, es war eine Schokoladengedeckserviette aus Damast mit Vergißmeinnichtrand und Fransen; Ejgil kannte sie noch genau von Geburtstagen bei Strobels.

Der verstorbene Rechtsanwalt lag zwischen den beiden schneeweißen Laken mit einem munteren Lächeln um den nicht sehr eingefallenen Mund.

»Wir ließen ihn das Gebiß behalten,« flüsterte Tante Strobel, »– bis der Sarg geschlossen werden muß.« –

An allen Wänden saßen wie früher die zahlreichen aufgeklebten Zeitungsausschnitte.

»Wir taten alles, was wir konnten, um ihn zu amüsieren,« schluchzte Tante Strobel, »selbst als er sich schon durchgelegen hatte und der Doktor ihn in ein Wasserbett legen wollte. Aber das verbot ich denn doch auf das strengste, und glücklicherweise starb er, ehe es notwendig wurde. Er war ja selbst den letzten Monat ganz geistesabwesend, aber man konnte doch nicht wissen, ob er nicht dies und jenes um sich her spürte, und so klebte ich denn weiter Bilder an, das war doch anregender für ihn als die alten Nummern vom vorigen Jahr, obgleich er das Opernglas nicht mehr gebrauchen konnte. Es sind all die Extrablätter aus der letzten Zeit über den Weltkrieg, vom Doppelmord an dem österreichischen Kronprinzen und seiner Prinzessin an. Und da hängt das letzte von vorgestern mit Deutschlands Kriegserklärung! In der Nacht starb er, aber die Neuigkeit bekam er doch noch mit, wenn er überhaupt noch genügend bei Besinnung war, um lesen zu können. Und ich freue mich nur, daß unser Theodor noch nicht das wehrpflichtige Alter erreicht hat, wenn der Krieg vielleicht in unsere Stadt kommen sollte.«

Aus dem Entree klang lautes Reden, das jetzt gedämpft wurde. Aase war mit ihrem Bräutigam, dem Zahnarzt, gekommen. Sie hatten eine Szene auf der Treppe gehabt, aber die Nähe des Todes zwang den Zahnarzt, Aase bis auf weiteres das letzte Wort behalten zu lassen. Er trug einen strammsitzenden schwarzen Rock, war rotblond und sommersprossig bis zu den mit Pasta polierten Nägeln. Aase trug ein neues fußfreies Kostüm aus dem Trauermagazin. Sie reichte Ejgil gnädig drei Handschuhfinger.

Kurz darauf kamen ein paar ärmlich gekleidete Tanten mit Kreppschleiern an den Hüten. Ihr Gesicht zeigte einen Kummer und Gram, der zu alteingewachsen war, um sich nur auf Onkel Strobels Tod zu beziehen. Und Punkt fünf Uhr stellte Pastor Krabbe sich in vollem Ornat ein.

Sein immer noch blühendes, rundes Greisengesicht leuchtete auf, als er Ejgil sah:

»Wie sind Sie – oder soll ich wirklich du sagen – groß geworden und gut gewachsen! – Und nicht mehr das zarte, kleine Kindchen, das im Arm seiner Tante lag und lächelte, als ich ihm die Taufe gab!«

»Ejgil war aber schon mehr als acht Jahre alt, als er getauft wurde«, protestierte Tante Strobel. »Ich hielt nur seine Mütze.«

Pastor Krabbe blickte zerstreut auf. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Es muß Ihr eigener sein, an den ich denke, Frau Strobel. Theobald, nicht wahr?«

»Theodor«, berichtigte Tante Strobel. »Denn ihn haben Sie ganz richtig vor zwei Jahren konfirmiert, Herr Pastor. Und ja, danke, Herr Pastor, für ihn hat Gott alles zum Segen gefügt, wenn es auch etwas spät kam.«

Kirsten hatte Eßzimmerstühle von einem noch nicht verkauften Meublement in zwei Reihen am Sarge aufgestellt, und man nahm Platz. Kirsten verteilte ihr und Theodors Konfirmationsgesangbuch, beide in rotem Maroquin und mit Goldschnitt, sowie das der Mutter, das von älterem, unmodernem Schnitt, aber sonst noch wie neu war. Das rührte, wie Frau Strobel Pastor Krabbe erklärte, nicht etwa von seltenem Kirchenbesuch, sondern von ihrer Sparsamkeit her, da sie weitsichtig war und daher gut in dem Gesangbuch im Stuhle vor ihr lesen konnte. Pastor Krabbe sagte selbst, er könnte das Gesangbuch entbehren, er wüßte alle Texte auswendig, und Kirsten und Ejgil sahen in dasselbe Buch.

Frau Strobel blickte beim Singen zu ihnen hinüber, und sie hätte weinen können, wenn sie nicht schon über den armen Strobel in Tränen geschwommen wäre, der doch in seinem Sarge lag, so versöhnlich im Tode, mit einem Ausdruck, als sänge er den Choral mit. Aber wie schön war es doch, dieses junge Paar zu sehen, das sie stets in ihren Träumen füreinander bestimmt hatte, und das nun, Schulter an Schulter, hier saß und zusammen aus demselben Buche sang. Kirstens Figur hatte die Hoffnungen nicht zuschanden gemacht, sie hatte sich in die Länge gestreckt, hatte gewissermaßen ein Mittelstück zwischen Busen und Hüften bekommen. Ejgil glich einem jungen Cherub, dessen sie sich von der Ecke einer Altartafel erinnerte, namentlich jetzt in seinem neuen dunkelblauen Anzug, der so glänzend saß und ihm sicher von seiner neuen Gönnerin geschenkt worden war, deren Steuerangabe sich, wie Frau Strobel aus eigenem Augenschein wußte, unter den obersten auf der Liste befand. Und wie ungeheuer mußten dann erst ihre wirklichen Einnahmen sein! Es war ein seltener, berauschender Anblick, die beiden lieben jungen Menschen zu sehen! –

Christian stand vor der Tür und kratzte daran. Kirsten mußte nach dem Choral hingehen und absperren, da Christian sich die Tür ja mit der Pfote öffnen konnte. Wie verändert war alles doch seit der Zeit, als Christian mit Wein und Brot aus dem Kloster zu Andreas Hofer und dem Baron in seiner Spalte gekommen war! Sie versuchte, Ejgils Augen zu fangen, aber wie seltsam waren sie doch geworden; sie mieden die ihren nicht, waren aber ganz fremd! Die Tränen erstickten sie fast, obwohl sie sich das ganze Taschentuch in den Mund gestopft hatte, um sich nicht zu schwach zu zeigen. –

Sie sangen noch einen Choral, die schöne Hymne: »Denk', wenn der Nebel einst verschwunden.«

Und an diese Worte knüpfte Pastor Krabbe an.

Kirsten suchte wie einen Ruf nach Linderung nur einen einzigen Blick von Ejgil, warm und vertraut wie damals. Aber wie hart, kalt und blank waren seine Augen geworden, fast wie geschliffenes Glas! Sie dachte an das Märchen vom kleinen Kai, der in das Schloß der Schneekönigin entführt war. War diese reiche Gönnerin eine solch eisigkalte und selbstsüchtige Frau, die alles um sich her in Kälte und Frost verwandelte? Hatte Ejgil einen Splitter vom Zauberspiegel des Teufels in seinem Auge, hatte er Baron von Tottenberg vergessen, der jetzt steifgefroren und tot dalag, und dem niemand mehr Portwein und Butterbrot in Christians Korb bringen wollte? Alles war so hoffnungslos und traurig. Aber Kirsten beschloß, wenn sie selbst einmal in die Höhe käme, ebenso kalt und schlecht gegen Ejgil zu sein! –

Der letzte Choral wurde gesungen. Aases Bräutigam, der Zahnarzt, blieb nach Verabredung mit Frau Strobel allein bei dem Verstorbenen, es war ja ein teures Gebiß mit Goldgaumen, und jetzt kam zudem der Krieg mit Teuerung und Aufrufen an das Volk, überall zu sparen.

 

* * *


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