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Fünftes Kapitel.

Das Standesbewußtseyn der Armuth.

Wie bei den Bauern und dem Grundadel der feste liegende Besitz vorwaltet, bei den Bürgern dagegen das Ringen nach dem Erwerb in erste Linie tritt, der feste Besitz in die zweite, so fällt bei dem vierten Stande der feste Besitz fast ganz weg, und ihm ist nichts übrig als die Arbeit. Er ist in diesem Betracht ein zum einseitigen Extrem verflüchtigtes Bürgerthum. Der Proletarier zählt nationalökonomisch nur durch seine eigene Person, durch Kopf oder Arm. Seine Standesehre ist die Ehre der Arbeit. Daraus mag ein stolzes, berechtigtes Selbstgefühl quellen, aber eben so leicht Neid und blinde Selbstüberhebung. Der besitzlose Arbeiter erfährt an sich im günstigen Falle nur die sittlich veredelnde Kraft der Arbeit. Daß auch das Festhalten des ererbten oder erworbenen Besitzes sittlich läuternd wirken könne, begreift er nicht. Und doch zeigt uns täglich der Ruin so mancher wohlhabenden Familie, wie das Zurathehalten des Erworbenen oft eine weit härtere Tugendprobe sey, als das Zusammenraffen des Erwerbes. Geld einzunehmen verstehen gar viele, Geld auszugeben nur wenige.

Indem dem vierten Stande lediglich die Arbeit ohne den Besitz geblieben ist, tritt er in Gegensatz zu der ganzen übrigen mehr oder minder besitzenden Gesellschaft. Diese Thatsache hat man mit einem sehr einseitig gewählten Ausdruck als das »Mißverhältnis; der Arbeit zum Kapital« bezeichnet. Dieses Mißverhältnis soll ausgeglichen werden durch irgendeine neue »Organisation der Arbeit.« Man spricht dabei von einer »Vertheilung des Besitzes,« als ob irgend Jemand denselben willkürlich ausgetheilt hätte, als ob nicht die Mannigfaltigkeit des Besitzes und Nichtbesitzes eben so nothwendig für den Einzelnen wäre, wie Geburt, Talent und dergleichen Dinge, über welche kein Mensch hinauskommen wird, so lange die Welt steht. Nur wer immer bloß den einzelnen Menschen statt der Gesellschaft ins Auge faßt, kann von einer »ungerechten Vertheilung« des Besitzes reden. Der Gedanke, eine systematisch gerechte Vertheilung des Besitzes einzuführen, ist dem vergleichbar, wenn einer systematisch das Wetter machen wollte, so daß jeglicher für jeden Tag und jede Stunde das seinem besonderen Zwecke und Vorhaben erwünschte gute Wetter bekäme. Damit, daß es aber der eine ausschließlich gut erhielte, erhielten's eben tausend andere wieder schlecht und am Ende müßte alles zu Grunde gehen.

Gerade in dem sogenannten Mißverhältnisse der Arbeit zum Kapital, in der ungleichartigen Zusammensetzung der Gesellschaft liegt das persönlich menschliche derselben. Bei der Gesellschaft der Hunde, der Pferde, des Rindviehs u. s. w. herrscht vollständige sociale Gleichheit. Die völlige Ausgleichung der gesellschaftlichen Gegensätze ließe sich nur herstellen durch ein goldenes Zeitalter der allgemeinen Dummheit und des allgemeinen Elendes, nicht aber der völlig gleichmäßigen Bildung und des völlig gleichmäßigen Besitzes. Dieses Gelüsten nach allgemeiner Gleichmacherei der Gesellschaft ist jedenfalls die maßloseste Reaction, denn sie greift viel weiter zurück als zum Mittelalter, sie greift zurück auf Adam und Eva. Wenn einmal das Feigenblatt wieder das allgemein menschliche Costüm geworden ist, dann erst haben alle Standesunterschiede aufgehört.

Ich möchte die Existenz in den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft vergleichen mit dem Leben des Menschengeschlechtes in den verschiedenen Erdzonen. Ist es nicht schreiend ungerecht, daß der Eskimo im Norden, der Feuerländer im Süden stumpfsinnig verkümmert, indeß dem üppigen Orientalen die süßesten Früchte in den Mund wachsen, und die Bewohner der gemäßigten Himmelsstriche geradezu von der Luft gescheidt werden und weltbeherrschend dazu? Warum gleicht ihr dieses Mißverhältniß nicht aus, warum verpflanzt ihr die Eskimos nicht nach Italien, die Feuerländer nach Griechenland? Und dennoch wird dies gerade wieder als ein Zeugniß von der Majestät des Menschengeschlechtes gepriesen, daß es unter allen Klimaten sich eigenthümlich entwickelt, überall dasselbe und doch überall ein anderes! So quillt auch die Majestät der Gesellschaft als eines lebensvollen Organismus aus der wunderbaren Biegsamkeit, mit welcher der Gesellschaftsbürger in jeder socialen Zone, auch in der Eiszone des untersten Proletariates sich individuell zu entwickeln vermag.

Das Moment der Arbeit ohne die Grundlage des Besitzes ist es aber nur theilweise, was den Proletarier, was das Glied des vierten Standes macht. Der Widerspruch seiner socialen Anforderungen mit seiner wirklichen Existenz, der Bruch mit der geschichtlichen Gliederung der Gesellschaft und die daraus hervorspringende Zerfahrenheit und Vereinzelung sind die eigentlich charakteristischen Kennzeichen. Nun haben aber leider die Arbeiter selbst den falschen Feldruf ergriffen und statt der »Organisation des Arbeiterstandes« die »Organisation der Arbeit« auf ihre Fahne geschrieben. Die socialen Theoretiker, welche die hier zu Grunde liegende Begriffsverwirrung angestiftet, mögen zusehen, wie sie dies verantworten können; sie haben mehr dazu beigetragen, den Arbeiter elend zu machen, als es die »Herrschaft des Kapitals« gethan, denn sie haben ihm den einzig rettenden Gedanken aus der Seele hinaus disputirt, daß der Arbeiterstand sich aus sich selber reformiren und also auch sich aufhelfen könne, ohne daß er vorerst so beiläufig die ganze Welt zu reformiren brauche.

Es ist übrigens höchst bezeichnend, daß der vierte Stand bis zum letzten Fabrikproletarier abwärts sich fort und fort mit der theoretischen Erörterung seiner Stellung in der Gesellschaft quält. Diese Angstfrage der gesellschaftlichen Stellung liegt den ächten Söhnen der übrigen Stände weit ab. Schon der einzige Umstand, daß das Proletariat über sich selber, als über eine sociale Erscheinung philosophirt, reicht hin, um zu beweisen, daß der vierte Stand eine durch und durch moderne Erscheinung ist. Und zwar gehört diese theoretische Selbstschau des vierten Standes wieder wesentlich nur dem alten Europa an. Sobald der Proletarier in die neue Welt kommt, wo noch keine verwitternde Gesellschaft sich abzubröckeln beginnt, läßt er die theoretische Frage der socialen Existenz fallen und versucht einmal wieder ganz ohne Reflexion zu existiren, falls er nicht verhungern will.

Rapp mußte in seiner communistischen Colonie den guten Platz im Himmel von der regelmäßigen Arbeit in der Colonie abhängig machen, er mußte seinen Kindern die Ruthe des Despoten zeigen, damit sie in dem freien Amerika den Geschmack an der socialen Gleichheit nicht verlören. Der Proletarier wühlt in Europa die Pflastersteine auf, um gegen Staatseinrichtungen zu kämpfen, von denen er sich gar selten persönlich belästigt fühlt, und für Verfassungsideale, die über seinem Gesichtskreise liegen, weil er glaubt, daß mit der alten Staatsordnung auch die alte gesellschaftliche falle, weil man ihm gesagt hat, daß, wofern er die Monarchie ausstreiche, auch das Wort der Schrift ausgestrichen sey: »Im Schweiße deines Angesichts, sollst du dein Brod essen.« Und wenn er nun in die neue Welt kommt, wo die alte Staatsordnung nicht besteht, dann findet er, daß die neue Gesellschaftsordnung, für welche er sich daheim hat blutig schlagen lassen, hier noch immer als eine unerträgliche Sklaverei sich bewährt hat.

Die »Massenarmuth« ist das Gespenst, vor welchem eine Zeit wie die unsrige, die Wohlleben und Reichthum zu einem Selbstzweck des Menschendaseyns gemacht hat, entsetzt zusammenschrickt. Aber die Massenarmuth des gemeinen Mannes wird nur da gefährlich, wo die Massenfaullenzerei der begüterten Leute ihr gegenübertritt. Der hat kein Recht mitzureden über den Empörungsgeist des besitzlosen vierten Standes wider die Besitzenden, der nicht selber, hoch oder gering, im Schweiße seines Angesichtes sein Brod ißt. Erst seit Nichtsthun auch im Bürgerstande für vornehm gilt, ist die Massenarmuth ein Schreckwort geworden. Die Massenarmuth an sich ist kein Kind der neueren Zeit. Es bedarf nur eines gründlichen Einblickes in die Bücher der Geschichte, am die Ueberzeugung zu gewinnen, daß im Gegentheil die Massenarmuth im Laufe der Jahrhunderte sich ununterbrochen verringert habe. Aber durch die Hoffart, mit welcher der sich selbst vergötternde Reichthum den verarmten Massen entgegentrat, ist in den grollenden Seelen der Armen jenes Selbstbewußtseyn des Pauperismus geweckt worden, welches im Fiebertraum des Hungerwahnsinnes den Besitz für einen privilegirten Diebstahl ansieht. Wie wollt ihr, deren Götze der Reichthum ist, mit dem Armen rechten, weil er mit dem Knüttel und mit Pflastersteinen diesen Götzen zerschmettern will, wie der Jehovah des alten Bundes heischt, daß man die Götzenbilder zerschmettere? Der Verdienst der arbeitenden Classen war in alten Zeiten ein verhältnißmäßig weit geringerer als gegenwärtig, ja das eigentliche Proletariat ist vordem in weit furchtbareren Schaaren vorhanden gewesen, aber die Schreckgestalt des modernen »Pauperismus« hat gerade erst mit der Besserstellung der unteren Classen und mit der gleichzeitig wachsenden Überschätzung des Besitzes ihren Anfang genommen.

Werfen wir einige flüchtige Blicke auf dieses merkwürdige Phänomen in der Geschichte des Elendes.

In der nassau-katzenelnbogischen Polizeiordnung von 1616 findet sich ein langer Abschnitt über das fahrende Proletariat, der uns ein trauriges Bild entwirft, wie sehr damals eine arme, ackerbautreibende, von großen Städten entblößte, also für das Vagabundenthum jedenfalls sehr unergiebige Gegend von wanderndem Gesindel und Strohmern aller Art überschwemmt war. Schon die Menge der Arten und Unterarten, nach welchen obige Polizeiordnung diese Proletarier gliedert, zeugt für die Masse derselben. Da ist die Rede von »herrenlosen und gartenden Knechten, Sonnenkrämern, Knappsäcken, Zigeunern, Mordbrennern, reislaufenden Burschen, Spitz- und Lotterbuben« u. s. w. Es wird verfügt, daß, wo die Heuschreckenplage der Zigeuner in Massen angezogen käme und Gewalt drohete, die Sturmglocken geläutet werden sollen, damit die gesammte Gemeinde die Landstreicher abwehren könne. Was will unser heutiges Vagabundenthum angesichts von Zuständen bedeuten, die solche Verordnungen nöthig machten! Von den Bettlern wird als etwas häufig vorkommendes angeführt, daß sie ihre gesund geborenen Kinder verstümmelten und lähmten, damit dieselben nachgehends als Krüppel ihr Brod sich müheloser erbetteln, denn mit gesunden Gliedern erarbeiten möchten. Dergleichen mag jetzt wohl noch vereinzelt in großen Städten vorkommen, wenn dagegen in einem abgelegenen Bauernlande, wie es heute noch die Grafschaft Katzenelnbogen ist, ein solches Verbrechen so häufig war, daß ein Gesetz dagegen erlassen werden muhte, auf welche Stufe mußte da das Bettelvolk herabgesunken sein!

Einzelne Formen des Proletariates sind wohl neu erstanden in der modernen Gesellschaft, aber andere sind dafür ausgestorben. Würde sich das militärische Proletariat, wie es am Ausgange des Mittelalters existirte, bis auf unsere Zeit fortgeerbt haben, dann wäre wohl längst kein Stein der gesellschaftlichen Ordnung mehr auf dem andern. Die Gefahr, welche man jetzt in aufgeregten Zeiten von der Hefe der großstädtischen Massen fürchtet, erscheint wie eine Spielerei gegen die frühere Bedrängniß des Einzelnen wie der Gesammtheit durch die brodlosen Schaaren entlassener Kriegsknechte. Als Kaiser Friedrich III. von König Karl von Frankreich 5000 solcher Leute begehrte, schickte ihm derselbe 40,000, um sie nur los zu werden, und nur mit äußerster Mühe und unter Androhung eines Reichskrieges vermochte man diese zügellosen Horden, die sich selber Armagnaken nannten, der Volksmund aber »arme Gecken,« wieder nach Frankreich zurück zu spediren. Schwärme ähnlicher, fast nur auf den Raub angewiesener Proletarier zogen fortwährend im Reiche umher. Wie winzig erscheint neben diesen stehenden Heeren des Elendes und der Verzweiflung die kleine Rotte militärischer Proletarier, wie sie in den letzten zwei Revolutionsjahren von Krawall zu Krawall zog, um endlich in Baden und Ungarn Auflösung und Untergang zu finden! Nur ein kleiner Unterschied machte diese Rotte so viel gefährlicher als jenes stets neu sich rekrutirende Armeecorps: die brodlosen Landsknechte der alten Zeit befehdeten den einzelnen Besitzer, die brodlosen Landsknechte unserer Tage den Besitz.

Hortleder in seinem Urkundenbuche »von den Ursachen des deutschen Krieges« theilt ein Verzeichniß und höchst interessantes steckbriefliches Signalement von etwa hundert Proletariern mit, die im Jahre 1540 die Lande der Fürsten des Augsburgischen Bekenntnisses durch Brandstiftungen verwüsteten. Diese armen Teufel hatten sich für ein wahres Spottgeld – meist fünf Gulden auf den Mann – zu jener systematischen Mordbrennerei anwerben lassen, obgleich sie wohl vorher wissen konnten, daß der Thurm und der Galgen rasch das Ende vom Lied seyn würde. Wenn man nun aus der so geringen Verwerthung der Arbeitskraft auf die größere Armuth der alten Zeit schließen kann, wie viel einleuchtender wird dann noch der Schluß, wenn man erwägt, daß das gräßlichste Verbrechen um so billigen Preis erkauft werden konnte, ja daß die Hingabe von Leib und Leben so wohlfeil zu haben war! Welch ein armseliges Leben muß es gewesen seyn, das eine ganze Schaar von Menschen für solchen Spottpreis losschlug!

Fast bei jedem kleinen Neste hatte man ja damals einen Galgen aufgebaut, der großentheils dem Schutze des Besitzes gewidmet war, und ein Schluß aus der Statistik des Verbrechens auf die Statistik der Armuth hat immer eine annähernde Richtigkeit. Und dennoch war das große Elend damals lange nicht so furchtbar anzuschauen als jetzt das so viel kleinere. Der Armuth fehlte noch das Bewußtseyn ihrer eigenen Lage. Die Bettler glaubten, daß sie Bettler von Gottes Gnaden seyen, wie die Könige ihren Stuhl auf Gottes Gnade gründeten. Sie erfaßten ihre Armuth als die unerforschliche Fügung des Himmels und waren resignirt in diesem Glauben. Sie grübelten nicht über den Unterschied zwischen Reich und Arm, und fragten nicht murrend an: warum es nun einmal so und nicht anders geordnet sey? Sie nahmen eine Hungersnoth hin wie man Regen und Sturm und böses Wetter hinnimmt, sie sahen Hunderte neben sich verschmachten und verderben, ohne daß dadurch der Gedanke des Aufruhrs gegen die Reichen in ihnen entbrannte. Die Fehde wider den Reichthum war noch nicht zu einem Standesbewußtseyn geworden; es gab Proletarier, aber keinen vierten Stand. Es ist in alten Chroniken erzählt von einer Hungersnoth, die im Jahre 1601 in Liefland ausgebrochen, wo viele Bauern im Hungerwahnsinn ihre Nachbarn und Verwandten erschlugen, um sich an ihrem Fleische zu sättigen. Der Henker kam zuletzt und hielt mit Galgen und Rad Abrechnung über das grausenhafte Mahl und dann – war es wieder still, und es steht nirgends geschrieben, daß hier, auf der letzten Stufe des Elendes, die Armen sich zusammengethan und die Faust erhoben hätten wider die Reichen. Noch am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nannten sich die Bauern in verschiedenen Gegenden Deutschlands selber »arme Leute,« und führten diesen Namen als einen ganz ehrbaren Titel, der ihnen in ihrer Ueberzeugung eben so nothwendig und unabänderlich zukam, wie den Glücklicheren das Prädicat von Rittern und Herren. Der Neid des Besitzlosen gegen den Besitzenden mochte bestehen, aber er war nicht organisirt. Das Proletariat fühlte sich trotz seiner furchtbaren Ausdehnung durch keine gemeinsame Idee verknüpft. Dieses Gemeinbewußtseyn des Proletariats als eines vierten Standes ist, ich wiederhole es, erwacht in der Opposition gegen den Müßiggang der Besitzenden, gegen die Selbstüberhebung des Reichthums, gegen den modernen Götzendienst des Mammons. In den Wäldern Nordamerika's mögen auch viele Tausende der elendsten Proletarier umherschweifen, dennoch wird man dort jetzt noch eben so wenig von den Gefahren des Proletariates, von dem Pauperismus, von einem vierten Stande reden können als ehedem in Deutschland. Erst da wo die Armuth sich reibt mit dem Uebermuth des Besitzes, wo der Arme auf engem Raum mit dem Reichen zusammengedrängt sich der socialen Unterschiede klar bewußt wird, erst da erhebt sich das Gespenst des Pauperismus. Erst als das Licht der allgemeinen Bildung auf die Armuth fiel, erkannte sie, wie gar arm sie sey. Der vierte Stand umschließt die zum socialen Selbstbewußtseyn erwachte Armuth, und die Thatsache, daß die Armuth vor hundert Jahren weit größer gewesen ist als in dieser Stunde, wird nie wieder den einmal erwachten Neid des Armen gegen den Reichen wegtilgen können. Wäre der Pauker von Niklashausen, wäre Thomas Münzer mit seiner socialen Predigt bei der Masse des Volkes durchgedrungen, so würden die Begriffe des Pauperismus und des vierten Standes nicht von heute datiren, sondern aus dem sechzehnten Jahrhundert. Der Bauernkrieg zeigte das erste Aufleuchten des Selbstbewußtseyns der Armuth, aber sein trauriger Ausgang bekundet zugleich, daß das Volk eben wegen seines fürchterlichen Elends nur erst eine dämmernde Vorahnung dieses Bewußtseyns gewonnen hatte. Kam doch der gelehrte Hesse Mutianus auf den kuriosen Gedanken, der in unsern Tagen fast bei jedem verunglückten Aufstande von den Unterliegenden geltend gemacht worden ist, daß die reichsstädtischen Kaufleute und Juden (also »Bourgeois« und »Geldsäcke«) den ganzen Bauernkrieg künstlich angezettelt hätten, um durch die Bauern die Fürsten zu stürzen, und dann eine Art von venetianischer Kaufmannsrepublik und Geldaristokratie in Deutschland einzuführen.

Als im Jahr 1349 das »große Sterben« gekommen war, und das Elend aufs Aeußerste überhandnahm, erfolgte nicht etwa ein Krawall, wie wir es in den dreißiger Jahren auf Anlaß der Cholera in Italien erlebten, sondern der großartige weltgeschichtliche Büßgang der Geißelfahrer. Dieser Gegensatz dünkt mir weit bezeichnender für die Geschichte des Elends, als die Vergleichung der frühern Arbeitslöhne mit den gegenwärtigen.

Solange der Reichthum auf der einen Seite noch nicht fest geschlossen war, konnte auch auf der andern das Selbstbewußtseyn der Armuth nicht erwachen. Fürsten und Ritter sanken selbst oft genug zeitweilig in höchst proletarische Zustände herab, was bei aller Schroffheit der Standesunterschiede immerhin ein Trost für den armen Mann gewesen seyn mag. Diese Versöhnung der Stände in der Gemeinschaft des Leidens und der Entsagung hat sich das Mittelalter gar herrlich in dem Sagenkreise von der Landgräfin Elisabeth von Thüringen versinnbildlicht. Dagegen traf der Haß des Armen schon früh genug die Klasse, welche das Geld am festesten in Händen hielt, welche in rohem Materialismus den Gelderwerb als Selbstzweck auffaßte und das wahre Apostelthum für den modernen Cultus des Reichthums übernommen hatte, nämlich die Juden. In diese Rolle der mittelalterlichen Juden droht jetzt die ganze besitzende Classe gegenüber den Proletariern zu treten, und jene Wuthausbrüche des durchwühlten Pariser Proletariats, wie sie im Juni 1848 so schaurig aufflammten, ließen sich leicht mit dem Fanatismus des niedern Volks bei den Judenmetzeleien in eine durchgeführte Parallele setzen.

Jener aussätzige Barfüßermönch, der im vierzehnten Jahrhundert in so schönen schwermüthigen Liedern sein eigenes Elend besang, war auch ein literarischer Proletarier, und wohl wenige unserer hungernden Literaten möchten Lust haben mit seinem Loos zu tauschen. So pflanzte sich das literarische Proletariat herauf durch alle Geschlechter, von Cardanus, in dem ich ein rechtes Urbild des modernen Literaten erblicke, der aber seine Zerrissenheit und seinen Kummer mannhaft wegphilosophirte, bis auf die schreibenden armen Schlucker des achtzehnten Jahrhunderts; es erschien oft in weit kläglicherer Gestalt als heutzutage; aber noch vor fünfzig Jahren wurde aus dem armen Poeten ein Lorenz Kindlein, wenn es hoch kam, ein Faustischer Zweifler, der den Himmel stürmte: jetzt geht man weit über den Himmel hinaus: man stürmt die Gesellschaft. Es bringt daher keinen Trost für den gegenwärtigen Zustand der Verarmung, wenn man in Zahlen haarscharf nachrechnet, daß die Armuth in frühern Zeitläuften viel größer gewesen sey. Die Armuth von damals und von heute sind ganz ungleichartige Größen, mit denen sich gar nicht gegeneinander rechnen läßt. Nicht die (täglich abnehmende) Massenverarmung als solche bildet das Gespenst des Pauperismus, sondern das täglich zunehmende Bewußtseyn der Massen von ihrer Armuth. Die Notizen zu einer Geschichte der Armuth fließen in den alten Quellenschriften so sparsam, weil die Armuth zu selbiger Zeit noch gar nicht als eine bewegende und zerstörende Macht im politischen und socialen Leben angesehen wurde, sondern als eine Thatsache der Privatexistenz, die sich ganz von selbst verstehe, die von Gott, einmal geordnet sey wie Sommer und Winter, Tag und Nacht. Sonst würden die in allem Einzelwerk so scharfblickenden und gerade die kleinen Züge des öffentlichen Lebens mit der größten Liebe zusammentragenden städtischen Chronisten gewiß ein reichliches Material geliefert haben.

Das Bewußtseyn der Massen von ihrer Armuth, die corporative Erhebung der besitzlosen Arbeiter zur Erkämpfung ihres socialen Rechtes war freilich schon einmal weltgeschichtlich geworden, aber nicht im germanischen Volksleben, sondern im römischen Alterthum. Viel eher müssen wir auf den Sclavenkrieg des Spartacus, auf die Unruhen der Gracchen zurückblicken, als auf das germanische Mittelalter, wenn wir die ersten Ansätze zur Bildung des vierten Standes, als der zum socialen Selbstbewußtseyn erwachten Armuth aufspüren wollen. Diesen Unterschied hat schon Shakespeare aufs feinste herausgefühlt. In überraschend wahren Zügen schildert er das ganze Behaben des sein Recht ahnenden Proletariates im Coriolan. Es zeugt für den göttlichen Seherblick des großen Poeten, für seinen wunderbaren historischen Instinct, daß er in einem römischen Stück dieses Proletariat zeichnet, für welches in den Tragödien aus der englischen Geschichte kein Raum gewesen wäre; denn zu Shakespeare's Zeiten gab es wohl arme Teufel in England, aber kein zum socialen Bewußtseyn sich aufbringendes Proletariat.

Ich bemerkte oben, daß alle Stände durch ihre socialen Sünden Geburtshelfer bei dem vierten Stande gewesen seyen. So sind es auch wiederum vorzugsweise die Sünden der besitzenden Classen, welche die Verkehrtheiten der socialistischen und communistischen Lehren bei den Besitzlosen einimpfen und fortpflanzen halfen. Darüber spricht Vilmar, bei dem man gewiß keine zu große Vorliebe für das communistische Proletariat, keine übertriebene Feindschaft gegen die Aristokratie des Besitzes argwöhnen wird, in seinen Schulreden folgendes schlagende Wort:

»In unserer Mitte, in unsern Gesellschaften, in unsern Familien, in unsern Herzen wohnt schon der Communismus. Wir selbst sind Communisten. Ehe wir die Franzosen, ehe wir unsern Landsmann, den Schneider Weitling und seine Helfershelfer, strafen und richten, wollen wir uns selbst richten und strafen. Oder hat nicht die Begierde nach einem behaglichen, mit allen Reizen der modernen Bequemlichkeit geschmückten Leben bei uns in den letzten Jahrzehnten auf eine schreckenerregende Weise zugenommen? Ist nicht die Putzsucht, die Kleiderpracht, der Modehunger bei uns in einer Weise im Schwunge, wie sie seit dem sechzehnten Jahrhundert nicht gewesen sind? Achten wir denn wohl ein Leben, welches nicht mit reichen Möbeln, schwellenden Polstern, sybaritischen Betten, mit goldenen Uhren und Ketten, mit ächten Ringen und Knöpfen, und mit all dem tausendfältigen namenlosen Flimmer und Flitter reichlich ausgestattet ist, noch für ein Leben? Ist nicht der Genuß dieses Comforts und das Prangen mit demselben, ist nicht das von Jahr zu Jahr verschwenderischer gewordene Gesellschaftsleben uns eine völlig unentbehrliche Bedingung unsers Daseyns geworden? Uebernehmen wir denn nicht Geschäft und Amt hauptsächlich, wo nicht einzig, um zu diesen Dingen zu gelangen? Trachten wir denn nicht, es jedem besser Eingerichteten, kostbarer Gekleideten, theurer Lebenden und glänzender Bewirthenden gleich zu thun, ja ihn zu übertreffen? Sind wir denn – die Hand aufs Herz! – sind wir denn zufrieden, wenn wir in eben diesen Dingen des sinnlichen Genusses nicht alles haben können, was der andere auch hat? Spielen denn nicht, und zwar in ganz eigentlichem Sinne, die goldenen Uhren und die Flaschen Champagner bei uns ganz dieselbe Rolle, die sie in den Augen des communistischen Handwerksgesellen spielen? Und wir wären nicht innerlich Verbündete des Communismus?« Und dann wendet der Redner später folgende Worte über die alle Stände versöhnende Ehre der Arbeit an seine jugendlichen Zuhörer: »Ihr sollt nicht mitdenken den heutigen Gedanken aller Welt: möglichst wenig Arbeit, möglichst reiche Besoldung, sondern ihr sollt arbeiten wollen um zu dienen, ihr sollt arbeiten wollen ohne Entgelt, um der Arbeit willen, um des Nächsten willen, um Gottes willen. Gehet ihr mit diesen Gesinnungen nicht voran, wie wollt ihr dereinst verlangen, daß die Stände, welche ihr zu leiten bestimmt seyd, euch folgen sollen, wenn ihr ihnen Beschränkung und Genügsamkeit predigt? Niemals ist es weniger am Orte gewesen als in diesen Zeiten, sich seiner begünstigten Stellung im Leben, seines Reichthums, seiner Bequemlichkeit, seiner Genüsse zu überheben, sich als den privilegirten Herrn, der nur Ansprüche zu machen habe, zu betrachten, alle andern als seine Diener, die nur da seyen, um Ansprüche zu befriedigen. Abgesehen davon, daß dies unter allen Umständen unchristlich ist, so ist es heutzutage nicht einmal klug. Je mehr ihr euch überhebt, desto gewisser wird der Sturm des Communismus noch gegen euch, vielleicht in wenigen Jahrzehnten, ausbrechen!«

Ich habe eine Masse von Einzelzügen über den vierten Stand zusammenstellen müssen, ohne daß dieselben an so bestimmte verbindende Fäden gereiht wären wie bei den übrigen Ständen. Dies liegt in der Natur der Sache. Der vierte Stand fließt in eine unendliche Mannichfaltigkeit selbständiger Gebilde auseinander, weil bei ihm die zerfließenden Bestandtheile der alten Gesellschaft in einem allgemeinen Gährungsproceß begriffen sind. Im System der Gesellschaft findet er seine Stelle als Ganzes, in der Praxis des öffentlichen Lebens wird man stets wieder auf seine verschiedenen Gruppen zurückgreifen und dieselben im einzelnen behandeln müssen. Der vierte Stand läßt sich auch durchaus nicht wie die Aristokratie, das Bürger- und Bauernthum unter einen einzelnen bestimmten staatsmännischen Gesichtspunkt zusammenfassen. Es gibt nichts verderblicheres als nach einem Geheimmittel gegen den verneinenden Geist des vierten Standes im allgemeinen zu spüren und etwa vorauszusetzen, wenn man irgendwie Mittel und Wege auffände, um das Mißverhältniß zwischen Arbeit und Capital auszugleichen, dann sey damit das moderne Proletariat und der proletarische Geist aus der Welt verbannt. Durch dieses Verfahren ist erst die rechte Dunkelheit in die sociale Frage des vierten Standes gebracht worden. Nur indem man in die Fülle des individuellen Lebens hinabsteigt, kann man wieder zu klaren Anschauungen vom vierten Stande kommen. Mit dem neuen Begriff des vierten Standes, den man dadurch gewinnt, wird man zu der Einsicht gelangen, daß die Angstfrage des modernen Proletariats weit mehr eine ethische ist als eine bloße Geldfrage, obgleich bei einzelnen Gruppen das ökonomische Moment bedeutungsvoll genug hineinspielt. Dies haben wenigstens jene Theologen erkannt, welche die innere Mission vorwiegend als die werkthätige Liebe des Evangeliums angesichts der Entsittlichung und Zerfahrenheit des vierten Standes betrachten. Aber die Theologen und die liebeseifrigen Christen überhaupt reichen hier allein so wenig aus als die Finanzmänner oder die Nationalökonomen allein. Der vierte Stand hat der ganzen historischen Gesellschaft den Fehdehandschuh hingeworfen, darum muß auch die ganze historische Gesellschaft denselben aufheben, nicht zu einem Kampfe des Hasses, sondern zu einem Kampfe der Liebe. Hierin liegt die bewegende Kraft des vierten Standes in ihrer tiefsten Bedeutung, und sie ist eine riesige Kraft. Wenn die Aristokratie, wenn das Bürgerthum, wenn die Bauernschaft sich selber reformiren, dann reformiren sie damit die verschiedenen aus diesen einzelnen Ständen hervorgegangenen Gruppen des vierten Standes.

In dem großartigen Epigramm, welches der vierte Stand dadurch auf sich selber gemacht hat, das er durch das Bemühen alle Stände zu zertrümmern, doch nichts weiter zuwege brachte, als schließlich in seiner eigenen Person den alten positiven Ständen einen neuen negativen hinzufüge, in diesem tief ironischen Epigramm hat er selber den archimedischen Punkt gezeigt, auf welchem der Hebel zu seiner Reform anzusetzen ist. In dem Maße, als der Trieb zur körperschaftlichen Gliederung beim Adel, bei Bürgern und Bauern wieder genährt wird, muß er auch im Interesse der Selbsterhaltung bei dem vierten Stand erwachen; derselbe wird aber eben dadurch nicht gefestigt werden, sondern in seine Theile auseinandergehen. Als Kern derselben aber mag wohl im Laufe der Zeit eine neue Gesellschaftsgruppe der Lohnarbeiter zurückbleiben, die sich dem alten Bürgerthum anreihen wird, wie die Bauern der Aristokratie. Die Gesellschaft hat nur so lange von den Proletariern zu fürchten, als sie selber proletarischen Geistes alle geschichtlichen Thatsachen von Stand und Standessitten ausebnen will. Und der Staat kann weder durch Polizeidiener den Uebergriffen des Proletariats wehren, noch durch Staatsarbeiterwerkstätten und Staatsalmosen die Macht desselben zu seinen Gunsten ausbeuten; er kann im vorliegenden Falle nichts klügeres thun, als daß er der Gesellschaft nicht länger wehrt, sich wieder zu größerer corporativer Selbständigkeit im einzelnen auszuprägen, sich aus sich selber heraus zu reformiren. Wenn er der Industrie und dem Gewerb wieder verstattet, sich wie vordem auf die eigenen Beine zu stellen, dann bat er damit mehr für die ökonomische Wohlfahrt des Volkes gethan, als wenn er ein eigenes Ministerium der Arbeit gründet und dasselbe nach allen möglichen trefflichen Grundsätzen Versuche auf dem Papier anstellen läßt.

»Selbst ist der Mann!« sage ich oben mit den Bauern. Das gilt bei allen materiellen Fragen. Und da beginnt immer der proletarische Geist, der Geist der Verzweiflung an sich selber einzuziehen, wo der Einzelne, wo die Körperschaft nicht mehr zu sagen wagt: »Selbst ist der Mann!«

Der vierte Stand ist einmal da, und weil auch einmal die Fabriken da sind, weil der Journalismus da ist, weil überhaupt die Welt nicht die alte geblieben, wird auch seine Einwirkung keine blos vorübergehende bleiben. Aber je mehr die alten Stände sich wieder festigen und dadurch diesen vierten Stand auseinandersprengen werden, desto weniger wird die Demokratie fürder noch sagen können, daß in dem Proletariat das eigentliche Volk liege, weil es vaterlandslos und familienlos, daß in ihm die Macht der Nation, weil es elend, daß in ihm der Reichthum der Nation, weil es ohne Besitz ist, daß in ihm der Geist der Nation, weil ihm Bildung und Sitte ein überfirnißter Despotismus heißt. Die »Namenlosen« mögen der »Dünger der Weltgeschichte« seyn, nicht weil sie, wie die moderne Barbarei der Gleichheit behauptet, eben namenlos sind, sondern weil sie kraft des Gesetzes vom Druck und Gegendruck uns alle, und sich selber mit, aus dem dermaligen Zustande der Namenlosigkeit, der drohenden allgemeinen Verwaschenheit herausreißen werden zu den höheren organischen Gebilden individuell geprägter Stände, in welchen die Einzelgruppe erst wieder recht zur Geltung kommt, erst wieder recht ihren Namen erhält und der einzelne Namenlose wieder zehnmal mehr als jetzt aus der Gruppe selber sich aufringt zu der höchsten Menschenwürde eines »Namhaften.«


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