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Drittes Kapitel.

Der Verfall der mittelalterigen Aristokratie.

Mit dem sechzehnten Jahrhundert geräth das Gebilde des mittelalterigen Adels in eine von innen heraus drängende Bewegung, die zuletzt den ganzen Organismus zu zersprengen droht. Unscheinbar in ihren ersten Anzeichen, gewaltig in ihren Folgen. Wir sehen Verschwörungen und blutige Fehden des niederen Adels gegen den hohen, Bündnisse des hohen Adels gegen Kaiser und Reich. Der Landesadel strebt zum Reichsadel aufzusteigen, »die Ritterschaft will eigenherrisch seyn,« der beschränkt privilegirte Edle will ein Reichsfreier werden, das Institut der ritterlichen Dienstmannschaft beginnt abzusterben; aber auch die Fürsten sammeln ihre Macht, mit den neu erfundenen Kanonen wird als mit dem »letzten Wort der Könige« gegen die Burgen einer auf ihre alte oder neue Selbständigkeit sich steifenden Vasallenschaft sehr vernehmlich argumentirt. In einzelnen großen Heldengestalten geht der Freiheitsdrang des mittelalterigen Adels tragisch unter.

Es waren das mehr als bloße politische Fehden; es war eine sociale Revolution, die im Schooße der Aristokratie ausgebrochen. Die Fürsten merkten solches wohl. In der Wahlcapitulation Karls V. werden die Bündnisse der Reichsritterschaft auf gleiche Stufe der Staatsgefährlichkeit gestellt mit den Geheimbünden der unzufriedenen Bauern.

Die Gesellschaft strebte sich auszuebnen, die Vielgestalt des alten Ständelebens zu vereinfachen, und dieses Streben, welches zuletzt in der französischen Revolution sich gipfelte, gährte zuerst auf bei dem Adel. Die tausend kleinen Gruppen der Aristokratie zogen sich in diesem Krampf der socialen Revolution zusammen zu größeren Gebilden. Die Fürsten, deren sociale Stellung bis dahin recht im Herzpunkte des Adels gewesen, stellten sich demselben jetzt als etwas fremdes, außenstehendes gegenüber, mindestens als eine höchste Aristokratie über der hohen Aristokratie. Sie hielten das Ziel der Souveränetät fest im Auge, diese aber konnte nur durch ein Beugen des kleineren Adels durchgeführt werben. Aber auch ein großer Theil des hohen Adels rang sich jetzt mit den Landesherren zu einer halbfürstlichen Stellung empor, zu einem, wenn auch noch so kleinen Bruchtheil von Souveränetät. Die reiche, breit entfaltete Adelsgliederung des Mittelalters ballte sich zusammen in zwei große Massen, in eine reichsunmittelbare halbsouveräne Aristokratie, die später in den Hoch- und Domstiftern und den geistlichen Kurfürsten und Reichsfürsten ihre Spitze fand, und in dem großen Schwarme des Hofadels, des niederen Landadels, des bloßen Titularadels.

Die Unterschiede, welche diese zwei Hauptgruppen durchkreuzten, hatten theils eine bloß politische, theils aber auch eine sociale Wichtigkeit. Der so kunstvoll gefügte, so fein durchgearbeitete corporative Bau der alten Aristokratie war verändert. Das Patriciat der großen Reichsstädte, welches als ein so eigenartiges Gebilde in dem Gesammtverbande der Aristokratie sich entwickelt und Ursache genug hatte, mit Stolz seinen besondern Charakter festzuhalten, suchte allmählich seine Ehre darin, einem farblosen allgemeinen Adelsbegriff jenen historischen Charakter zu opfern. Es schlug meist nicht zum Heile dieser Patricierfamilien aus. Andererseits sahen Viele vom ritterbürtigen Adel, bevor jene Metamorphose des Patriciates eingetreten war, mit sträflichem Hochmuth auf dasselbe herab. Sie erklärten das Patriciat wohl gar der Gemeinschaft mit dem ritterbürtigen Adel nicht mehr für fähig, weil es den Zünften Antheil an der städtischen Regierung gewährt hatte! So schwer begann jetzt bereits ein Theil der Aristokratie die Bedeutung des Bürgerthums wie der Glieder seiner eigenen Corporation zu verkennen.

Scheinbar und äußerlich gewann die Aristokratie einen weit glänzenderen Rang, in der That aber hatte sie sich selber um das beste Theil ihrer alten Macht betrogen. Der nicht fürstliche Theil des Adels hatte seinen besondern politischen Beruf aufgegeben. Gegenüber dem zur Vertheidigung des Vaterlandes durch die Geburt berechtigten und verpflichteten Ritter stand jetzt der Edelmann, der sich um ein Officierspatent bewerben mußte; gegenüber dem erblich und auf ewig dem Fürsten verpflichteten, darum aber auch zu der großen socialen Familie desselben gehörigen Dienstmann stand der ganz auf die Persönlichkeit seines Souveräns angewiesene Kammerherr, dem nur der Zufall einen politischen Beruf an die Hand gab.

Die Vorrechte des Adels in Sachen der Landesvertretung waren oft scheinbar und dem Wortlaute nach größer geworden, in der That und Wahrheit aber kümmerten sich die meisten Fürsten blutwenig mehr um ein ritterschaftliches Votum. Die Macht der adeligen Vertreter war gebrochen, weil ihre Stütze in der alten Gemeinsamkeit mit den bürgerlichen Landräthen längst morsch geworden war. Mit der socialen Selbständigkeit war auch der stolze politische Unabhängigkeitssinn bei vielen Adeligen erloschen, sie verzichteten von selber auf eine Opposition gegen den fürstlichen Willen. Wo nicht, so wußte die neue Macht der Fürsten schon ein Wort mit ihnen zu reden. Der große Kurfürst von Brandenburg ließ den Führer der Adelsopposition bei den Cleve'schen Ständen, Baron von Wylich, kurzweg nach Spandau führen, dieser gerade für das vorliegende Capitel klassischen Veste, in welcher so manche durch die Allmacht des Hofes gestürzte aristokratische Größe Herberge gefunden hat. Den Obristen von Kalkstein, der sich's hatte beikommen lassen, »starke Sachen« gegen den Kurfürsten zu äußern, ließ er enthaupten, den Vorsitzer des Schöppenstuhles zu Königsberg in ewiges Gefängniß stecken. Wäre ein Fürst des Mittelalters in solcher Weise verfahren, so würde das ganze Land – und nicht bloß die unmittelbar betroffene Adelsgenossenschaft – wider ihn aufgestanden seyn. Aber die Kluft zwischen dem Bürgerthume, ja zwischen den Bauern und dem Adel, hatte sich in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts schon so weit geöffnet, daß der Kurfürst vielmehr durch solche Gewaltthat Volksgunst gewann. Die märkischen Bauern schrieben damals auf ihre Fahne:

»Wir sind Bauern von geringem Gut
Und dienen unserm gnädigsten Kurfürsten mit unserm Blut.«

Dieser merkwürdige Spruch verkündet eine neue Welt. Die adeligen Grundherren hatten in jener Gegend aufgehört das natürliche Patronat über die Bauern zu üben, sie waren nicht mehr das nothwendige Mittelglied zwischen dem Bauern und dem Fürsten, dem Bauern und dem Staat, und der Bauer richtet sich jetzt unmittelbar an seinen »gnädigsten Kurfürsten,« und wenn auch sein Spruchvers darüber in allen Gliedmaßen krumm und bucklig werden sollte.

Preußen ist diejenige deutsche Macht, welche die moderne Thatsache der politischen Centralisation durch zwei Jahrhunderte am entschiedensten vertreten und damit, ohne es zu wollen und zu ahnen, der jetzt in so dämonischer Gestalt aufsteigenden socialen Centralisation die Wege geebnet hat. Schon vor der Reformationszeit brach der erste Kurfürst aus der hohenzollernschen Dynastie die Burgen der Herren von Rochow, von Putlitz, von Quitzow etc. Mit einem wahren Seherblick erkannten die Hohenzollern, daß durch die Beugung der Adelsherrschaft die neue Fürstenherrschaft begründet werden müsse und gaben solchergestalt in Brandenburg das Musterbild der Gründung der modernen Landeshoheit. Schon in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts wurde von den Brandenburgern der Adel zu den Staatslasten beigezogen. England, welches trotz seiner innern Umwälzungen lange nicht so gewaltsam social und politisch ausgeebnet hat wie Preußen, wurde groß durch seine Aristokratie im Verein mit seinem Bürgerthum. Seine politische Bedeutung ruht auf socialer Basis. Preußen wurde groß durch die Persönlichkeit seiner Fürsten, durch sein Heer und durch seine Diplomatie. Es brach die gesellschaftlichen Mächte, indem es die Idee des Staates überall dem socialen Leben überordnete. Man nannte das einen »intelligenten Absolutismus,« und der modernbüreaukratische Staat ist aus demselben hervorgewachsen. Und die Communisten und Socialisten müßten kommen, damit die Bureaukratie sich halbwegs wieder entsinne, daß es beiläufig auch »gesellschaftliche Mächte« in der Welt gäbe. Die Geschichte des preußischen Adels seit dem siebenzehnten Jahrhundert fällt zusammen mit der Geschichte des preußischen Hofes. Aber, wie gesagt, nicht bloß die genossenschaftliche Selbständigkeit der Aristokratie, sondern folgerecht der ständische Geist überhaupt ist in Preußen gebrochen worden durch die auf das Heer und die Diplomaten gestützte Autonomie bedeutender fürstlicher Charaktere.

Der Vollzug dieser weltgeschichtlichen Sendung Preußens, welches die Gesellschaft in dem Staate aufgehen ließ, während im Mittelalter der Staat in der Gesellschaft aufgegangen war, hat uns befreit von der Verknöcherung, worin zuletzt das mittelalterliche Ständeleben stecken geblieben ist. Das deutet der »deutsche Theolog,« der in seinem prächtigen Buche vom »deutschen Protestantismus« auch so viel gute politische Winke gibt, treffend an, indem er sagt: »Der alte Fritz lebt in ganz Deutschland in begeisterter Volkserinnerung nicht ungeachtet, sondern wegen des in seiner Hand ruhenden Krückenstocks, denn mit diesem Krückenstock schlug er die Philister!« Aber mit dieser bloß verneinenden That ist es doch noch nicht gethan. Die Reste einer ständischen Volksvertretung, welche sich bis auf unsere Zeit in Preußen kümmerlich fortgeschleppt haben, waren in sich mark- und haltlos. Die Stütze einer kräftigen Aristokratie, eines ständisch selbständig entwickelten Volkslebens ist jetzt für das preußische Königthum unentbehrlich geworden. Der Krückenstock des alten Fritz reicht nicht mehr aus. Dem Andringen der socialen Revolution, die gewaltiger ist als die politische, kann nur gewehrt werden durch die sociale Reformation, durch den Neubau acht moderner Stände und Gesellschaftsgruppen. Preußen sucht jetzt nach einer Pairie, nachdem eine ganze Reihe staatskluger und vom nächsten Erfolge gerechtfertigter Fürsten nichts klügeres zu thun gewußt, als den Stoff zu dieser Pairie wegzuräumen. So spottet die Geschichte der politischen Weisheit, und der Erfolg in der Nähe ist oft nichts weiter als ein in die Ferne geschobenes Mißlingen.

Der politische Beruf der Aristokratie war früher auf die ganze Genossenschaft vertheilt gewesen: jetzt hatte sich die aus derselben hervorgegangene Unzahl der kleinen Halbsouveränetäten ein Uebermaß politischer Befugnisse zugelegt, und der andere Theil war leer ausgegangen. Das rächte sich. Im südlichen Deutschland konnte die Reichsmittelbarkeit dauernd auf so viele Häupter nicht ausgedehnt bleiben, mit dem Anbruch der neuen Zeit folgten die Mediatisirungen naturnothwendig, und somit war also auch der hohe Adel mit Ausnahme der wenigen übrig bleibenden Landesherrn seines unmittelbaren politischen Berufes verlustig geworden. Die Centralisirung der politischen Rechte des Adels hat die Vernichtung dieser Rechte größtentheils herbeigeführt. Gleichwie aus den mittelalterigen Adelszuständen aus fast allen Punkten zu lernen ist, wie die Aristokratie am lebenskräftigsten neu zu organisiren wäre, so tritt uns bei den Zuständen des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts das negative Exempel nicht minder beharrlich entgegen, wie der Adel nicht organisirt werden soll.

Folgerechter ist die Vernichtung der mittelalterigen Aristokratie nirgends durchgeführt worden als in Frankreich. Ludwig XI., Richelieu und Ludwig XIV. wußten die Aristokratie so gründlich zu centralisiren, daß ihr ganzer politischer und socialer Beruf zuletzt in einem einzigen Manne gesammelt erschien, in der Person des Königs. Wäre dem letztgenannten Herrscher der moderne Begriff der Gesellschaft geläufig gewesen, er hätte nicht bloß sagen mögen: der Staat bin ich, sondern auch: die Gesellschaft bin ich.

Darum erscheint uns aber die gänzliche Verkennung der eigenen Bedeutung und Macht, in welcher der deutsche Adel während des goldenen Zeitalters der französischen Fürstenallmacht großentheils befangen war, nirgends in grellerem Lichte, als wenn wir sehen, wie er sich damals in allen Stücken den französischen Hofadel zum Muster nahm. Am Hofe jenes Ludwig könnte man höchstens lernen, was und wie die Aristokratie nicht seyn soll. Waren doch selbst unsere Pagerien, welche die alten »höfischen Sittenschulen« verdrängt hatten, leider nach französischem Muster zugeschnitten. Wie zu einer Hochschule aristokratischer Sitte strömte die Jugend des deutschen Adels nach Paris. Diese sogenannte »Cavalierstour« mußte vorweg jeden Gedanken an den höheren Beruf der Aristokratie in dem jugendlichen Gemüth ersticken. Und wenn die schlechte Schule trotzdem nicht überall durchgriff, so bezeugt das eben, wie lebhaft die Gedanken und Träume von dem selbständigen ehemaligen Berufe in dem ganzen Stande noch geraume Zeit nachklangen. Ein gewiß unparteiisches und eben darum in desto brennenderen Farben leuchtendes Bild jener höfischen Sittenschulen an der Seine entwirft die damalige Herzogin von Orleans, Schwägerin Ludwigs XIV., eine geborne Pfalzgräfin, in Briefen an ihre Schwestern in Deutschland. Es heißt darin unter anderem: »Die Leute von Qualität sind in diesem Lande viel ärger debauchirt als die gemeinen Leute. Die Franzosen halten sich's vor eine rechte Ehre, debauchirt zu seyn, und wer sich piquiren wollte, seine Frau allein zu lieben, würde für einen Sot passiren und würde von jedermann verspottet und verachtet werden; so ist's hier beschaffen. Muß nur noch sagen, daß man sich hier vor eine Ehre hält, keine Verwandte zu lieben. Die es thun, sagt man, seyen bürgerlich.« Während das historische Bewußtseyn der Familie gerade den Kerngedanken des Adels bildet, während die hohe sociale Bedeutung des Familienlebens ihr Symbol in dem Institut des Geburtsadels gefunden hat, während die Ehrenfestigkeit und Reinheit des Familienlebens im Mittelalter als der höchste Glanz und Stolz der Aristokratie erschienen war, galt die Zucht des Familienlebens dem französischen Hofadel jetzt für »bürgerlich!« Dieser einzige Umstand beweist schon, daß er geradezu sich selbst verloren hatte, daß es eine ächte, social berechtigte Aristokratie in Frankreich nicht mehr gab, oder, wo das Trümmerstück einer solchen sich noch lebendig erhalten, im eigenen Lande wie im Exil lebte. Es liegt nach zwei Seiten für jene Zeit eine tiefe Wahrheit in der Bemerkung, daß für »bürgerlich« gelte seine Verwandten zu lieben. Denn gerade in diesen frivolen Tagen, wo auch die »freier« gebildeten, d. h. von dem alten ehrenfesten Bürgerthum bereits emancipirten Glieder des Bürgerstandes mit der Pariser Aristokratie in einer auf der Familienlosigkeit ruhenden Sittenverderbnis wetteiferten, hielt der gemeine Mann, der geringere, bildungsarme Bürger und der Bauer das alte deutsche Familienleben um so strenger fest, und sorgte solchergestalt dafür, daß die Zucht des Familienlebens und der ernste Sinn für dieselbe spätern Zeiten nicht verloren ging, daß sich späterhin die höhern Stände an derselben wieder kräftigen und ermannen konnten.

Der französische Hofadel bezeichnete sich selber freilich auch jetzt als die »Gesellschaft« an sich, er wollte ebenso gut den Mikrokosmus der Gesellschaft darstellen wie die deutsche Aristokratie im Mittelalter. Aber unter dem gesellschaftlichen Leben verstand er eben nur eine fein abgeglättete Müßiggängerei, die Spiel-, Tanz- und Zechgesellschaft, nicht die Gesellschaft, welche sich 's im Schweiße ihres Angesichts sauer werden läßt, ein großes Bruchstück aus dem Gesammtberuf des Menschendaseyns menschenwürdig zu erfüllen.

Der deutsche Landadel, der auf seinen Gütern sitzend der alten Sitte treu blieb, war zu selbiger Zeit ein höchst beliebtes Ziel wohlfeilen Spottes. Niemals sind die »Krautjunker«,so allgemein als komische Figuren behandelt worden, wie in den Tagen, wo sie zumeist die Ehre der deutschen Aristokratie retteten. Der Sinn für das unschätzbare Gut der festen Seßhaftigkeit auf eigenem Grund und Boden war dieser ganzen Periode fast verloren gegangen. Viele adelige Güter sind damals ohne Noth zersplittert und verkauft worden zum großen Nachtheil der Nachkommen. Erst gegen die neuere Zeit hin, als überhaupt dem Adel wieder mehr und mehr ein Licht aufzugehen begann über seinen wahren Beruf und seine wahren Standesinteressen, wurde auch der Werth des großen Grundbesitzes für die Festigung des ganzen Standes und für den Staat wieder einmüthiger erkannt. Man kann wohl sagen, das Gewicht, welches die Aristokratie selber jeweilig auf den Grundbesitz, auf die Bedeutung des Landadels gelegt, sey allezeit ein wahrer Barometer gewesen, daran man ihre Blüthe und Kraftentfaltung messen konnte.

Der Landadel blieb im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert beschränkt und abgeschlossen, aber in seiner Beschränkung war er national, ganz wie die Bauern; der deutsche Hofadel hingegen war dazumal mehrentheils verwälscht und kosmopolitisch. Während unsere ältere Aristokratie oftmals eine Wächterin des Deutschthums gewesen ist, führte der Hofadel jener in Rede stehenden traurigen Periode fremdländisches Wesen ein. – Die französische Sprache ward die Sprache der höheren Stände. Wer »zur Gesellschaft« zählen wollte, mußte ihrer mächtig seyn. Das pflanzte sich dann im zweiten und dritten Menschenalter auch auf den höheren Bürgerstand fort.

In dem Landadel allein hat sich noch so etwas von einer »Charakterfigur« des deutschen Barons erhalten. Die Aristokratie der Stadt und des Hofes hat die Eigenthümlichkeiten der äußeren Standessitte so ziemlich aufgehen lassen, in dem allgemeinen Typus der gebildeten feinen Gesellschaft. Gerade der feinste Ton duldet am wenigsten Originale der äußeren Sitte. Bei den Bauern ist der ganze Stand ein solches Original; bei dem Adel nur noch ein ganz kleiner Rest. In den unteren Schichten der Gesellschaft, wo noch die meiste ursprüngliche Natur ist, herrscht noch das derb Charakteristische der äußeren Sitte vor; je höher wir hinaufsteigen, desto mehr scheint dieselbe ausgeglichen und abgeschliffen. Dieß beweist, daß der sociale Lebensnerv hier weit stumpfer geworden ist. Die Energie des gesellschaftlichen Lebens hat sich hier viel mehr aufgerieben und verbraucht. Durch die Wechselbeziehung des Adels, als Gutsbesitzer, zum Bauernstande kann und soll er in diesem Betracht neue Kraft in sich aufnehmen. Man sagt, in England blühe der Landbau theilweise auch deßwegen so üppig, weil es die aristokratische Sitte dort mit sich bringt, daß der Grundherr einen großen Theil des Jahres auf seinem Gute sitzt und mit seiner höheren Bildung, mit seinem Unternehmungsgeist die grob materielle Arbeit des Pächters in höhere Bahnen leiten hilft. Allein der Adel selber gewinnt bei dieser unschätzbaren Sitte mindestens ebensoviel als die Landwirthschaft. Darum lebt in England noch weit mehr eine eigentliche Charakterfigur des Aristokraten als in Deutschland und vollends in Frankreich.

Gegenwärtig entschließen sich in Deutschland wieder immer mehr Edelleute zur Selbstbewirthschaftung ihrer Güter. Man nimmt wahr, daß der vor 50 Jahren noch so zahlreiche Stand der Verwalter und Gutspächter auszugehen drohe. Es ist dies ein Zeugniß für die Ermannung des begüterten Adels.

Das Ritterthum des Mittelalters hatte seine strengen Gesetze der äußeren aristokratischen Sitte. Die formelle Aussetzung des Begriffs der Ehre verklärte einigermaßen die natürliche Rohheit des Fehdelebens. Die alte Rittersitte schwächt sich in den späteren Jahrhunderten zu einem verallgemeinerten äußerlichen Decorum des Standes ab. Immerhin hat dieses Festhalten am äußeren Anstande, die Selbstgewißheit im Besitze des feineren Tones zu seyn, die Aristokratie zu einer Lehrmeisterin des Bürgerstandes gemacht, der im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert auffallend plump und unbehülflich in der formellen Haltung des Einzelnen, im äußeren Benehmen zu werden drohte. So ist die jetzt so allgemeine Glätte des geselligen Verkehrs unstreitig großentheils den Einflüssen der Aristokratie gut zu schreiben. Aber was hier früher das Monopol des Adels war, ist jetzt das Gemeingut der gesammten gebildeten Welt geworden.

Manche ächt deutsche Unsitte erbte sich auch aus dem Mittelalter zu dem Adel der nachfolgenden Jahrhunderte herauf, die dort in der Umgebung so vieler guten Sitten schon erträglich gewesen war. Allein jene guten Sitten wurden meist nicht mitgeerbt. Im Mittelalter hieß nobiliter bibere, zu deutsch adelig zechen, unverblümt so viel als sich volltrinken. Das hatte bei dem rauhen Waffenhandwerk der alten Degen und der unbeschränkten Gastfreundschaft auf den abgelegenen Burgen allenfalls seinen guten Humor. Wenn aber im siebenzehnten Jahrhundert noch fürstliche Hofcavaliere sich was darauf zu gut thaten, an der herrschaftlichen Tafel die Maß Wein auf einen Zug ohne Athemholen hinunterzugießen, wenn ein kurbrandenburgischer Oberkämmerer sich berühmt, 18 Maß Wein bei einer Mahlzeit zu trinken, so nimmt sich das in der Umgebung ganz veränderter Sitten eher viehisch als ritterlich aus. Und doch gehörte so etwas zu selbiger Zeit auch noch zum aristokratischen Ton. Nicht als ob ich glaubte, die ganze Aristokratie habe eine so glatte Gurgel gehabt. Nicht als ob ich überhaupt der Ansicht wäre, alle diese schlimmen Seiten, welche ich hier in ihrer ganzen Schroffheit neben einander stelle, seyen überall das charakteristische Merkmal eines Aristokraten des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gewesen. Es gilt mir nur, die schlimmen Folgen, welche für die Aristokratie aus dem Zerbrechen ihrer alten Standesformen erwachsen sind, hier zu einem recht kräftigen Schattenbilde zu vereinigen, wie ich die Vorzüge der mittelalterigen Aristokratie zu einem recht derben Lichtbilde ausgemalt habe. Ich schreibe keine Geschichte des Adels. Nur die Wirkungen der verschiedenen Entwicklungsstufen der Aristokratie sollen – hell und dunkel – gegen einander gestellt und daraus für die Gegenwart ein Resultat gezogen werden, wo und wie man für die Reform dieses Standes die Hebel anzusetzen habe.

Die Verflachung und Entartung des socialen Lebens traf in dem Zeitraum, von welchem ich rede, die ganze gebildete Gesellschaft. Nur der von der Cultur ganz unbeleckte gemeine Mann vegetirte in seiner ungebrochenen Natürlichkeit fort. Aber gerade weil die Aristokratie das Bild der Gesellschaft im Kleinen aufzustellen berufen ist, wurde sie um so empfindlicher und tiefer berührt von der krankhaften Erschütterung, die als natürlicher Rückschlag gegen das am Ausgange des Mittelalters versteifte und verknöcherte Corporationswesen alle Stände durchzuckte. Die Aristokratie ist der empfindlichste Theil der Gesellschaft. Alle socialen Bewegungen werden jederzeit am gewaltigsten und feindseligsten auf sie einstürmen, am frühesten an ihr selber wahrnehmbar werden. Darum zeigt sich's nirgends auffälliger als gerade bei der Aristokratie des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, wie tief damals alle sociale Lebenskraft gesunken war.

Der einheitliche Beruf dieses Standes im Mittelalter, obgleich der Adel damals so vielgliedrig gestaltet war, springt überall klar hervor, läßt sich ohne Mühe nachweisen, faßt sich von selber in allgemeine Begriffe. In den nächstfolgenden Jahrhunderten dagegen vergißt die Aristokratie förmlich ihren socialen Beruf, sie geräth ins Unklare über ihre eigene Aufgabe. Der Begriff des Standes blaßt wirklich auf eine Weile ab zu dem Begriff des Ranges. Schon die Veränderung der aristokratischen Titel zeigte dies vielfach an. In den alten Titeln der großen Herren lag ein bestimmter Beruf ausgesprochen. Die Bezeichnungen als Pfalzgrafen, Markgrafen, Herzöge, Kurfürsten etc. deuteten auf ein bestimmtes Amt im Reiche. Gerade diese am meisten charakteristischen Titel kommen bei den neu entwickelten Landeshoheiten am frühesten ab, oder ihr alter Wortsinn wird wenigstens vergessen. Der Herzog unterschied sich etwa von dem Pfalzgrafen nicht mehr durch den Beruf, sondern nur noch durch den Rang. Ebenso drückten die alten Titel der Ritter, Dienstmannen, Vögte etc. einen Beruf, ein Amt aus, während sich der neue Freiherrntitel oder die einfache Adelsbezeichnung zu einem bloßen Rangzeichen innerhalb des aristokratischen Kreises zu verflüchtigen begann. Die Stellung der geistlichen Edelleute an den Hoch- und Domstiftern war ursprünglich ein wirkliches Amt gewesen. In der Rococozeit aber galt es mehr den Pfründen als dem Amt. Manchmal reichte der dritte Theil sämmtlicher Einkünfte eines geistlichen Landes nicht mehr hin, um die adelige Versorgungsanstalt der Domcapitel auszustatten. Man combinirte die Domherrnpfründen, nicht aber die Domherrnämter, und der nachgeborene Edelmann ließ sich häufig für die Arbeit von zwei bis drei Domherrn bezahlen, während er nicht die Arbeit eines halben that. Aber mit dem amtlichen Beruf ging auch der sociale Beruf dieser Aristokraten verloren. Es zeigte sich zuletzt bei den Domcapiteln, daß vornehme Abkunft und reicher Besitz allein nicht genügen, um eine ächt aristokratische Stellung in der Gesellschaft zu bedingen. Es fehlte den Domherren die Fesselung an Grund und Boden. Einige wenige peremtorische Tage ausgenommen, war gewöhnlich nur der vierte oder fünfte Theil der Domherren in den Stiftsstädten, wo sie präbendirt waren, gegenwärtig. Wenige unter den residirenden Domherrn hielten selbst ein Haus. Vielmehr lebten die meisten als Gäste und Reisende, die wieder fortzogen, sobald es die Statuten erlaubten. Das Junggesellenleben verträgt sich überhaupt schwer mit dem socialen aristokratischen Beruf. Hierin liegt ein weiterer Grund für die Nachahmungswürdigkeit des englischen Herkommens, daß eigentlich nur das Familienhaupt mit dem Beruf auch den Glanz des Adels repräsentiren soll.

Entsprechend dem zu bloßen Rangansprüchen verflüchtigten Begriffe des adeligen Berufs, kommt das leere Ceremoniell im siebenzehnten Jahrhundert oben auf. Der bedeutendste Staatsmann, der mächtigste Hofbeamte stürzt sich selber, wenn er das Ceremoniell verachtet. Fürsten und Herren ringen um den Vortritt, nicht etwa figürlich in der Vertretung der höchsten gesellschaftlichen Interessen, sondern buchstäblich und mit der Kraft des Armes um den Vortritt bei irgend einem festlichen Aufzug. Im siebenzehnten Jahrhundert hätte man in einem Lehrbuch der Diplomatie ein eigenes Capitel schreiben können über die Kunst, wie man den Repräsentanten einer fremden Macht von strittigem Range, falls er im feierlichen Aufzuge vor einem hergeht, mit List und Gewalt hinter sich schieben kann. Das Mittelalter hatte auch seine lächerlich spitzfindigen Hof- und Rittersitten, aber es hatte daneben doch auch adelige Politik, höfische Kunst und ritterliche Waffentüchtigkeit.

Die Fürsten selber, denen die Macht einer selbständigen Aristokratie im sechzehnten Jahrhundert freilich noch lästig genug gewesen ist, unterstützten nach Kräften jenen unheilvollen Gedanken, der im Adel blos den Rang erblickt. Ihre Nachfolger adelten demgemäß eine Menge von Personen, denen alle Qualität zum ächten Aristokraten abging. Ein preußischer Tranchirmeister wird beispielsweise in den Grafenstand erhoben, weil er sich, wie es im Diplom heißt, »mit seinem sehr künstlichen Tranchiren aller Orten beliebt gemacht.« Kammerdiener werden geadelt. Das ist in diesen Tagen auch in Frankreich wieder geschehen, wo man freilich die Aristokratie in unserem Sinne nicht mehr zur socialen Macht werden lassen will.

Während der Eintritt in den Adel durch leichtsinniges Vergeben solchen Titularadels zum großen Ruin des Standes unmäßig erleichtert wird, ist kaum ein Motiv mehr vorhanden, andererseits den Titel aufzugeben, auch wenn jede Voraussetzung des aristokratischen Berufs längst geschwunden ist. Denn einen Rang, der keinen besondern Beruf heischt, mag jeder geltend machen, so lange es ihm beliebt und andere ihn daran anerkennen wollen. Im Mittelalter war es umgekehrt. Der Eintritt in die Aristokratie war erschwert, der Austritt erleichtert, und in der That kann sich nur bei diesem Verhältniß der ganze Stand blühend erhalten. Die Vorurtheile des Bürgers gegen den Adel datiren fast sämmtlich aus der besprochenen Periode, namentlich das oberste und gefährlichste dieser Vorurtheile, daß der Adel gar keinen besondern gesellschaftlichen Beruf mehr habe, daß er einen bloßen Rang bezeichne. Wenn die Väter saure Trauben essen, werden den Söhnen die Zähne stumpf. Die Urtheile des großen Publikums hinken meist nicht nur hinter den Thatsachen drein, sondern sie halten auch in der Regel Thatsachen noch fest, wenn dieselben bereits hinter uns liegen. So geht es auch mit der noch immer landläufigen Auffassung und Beurtheilung des Adels, die wesentlich auf Zustände des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zurück datirt. Die Kanonen, mit welchen die Fürsten die Burgen des Adels zerstörten, sind keine so furchtbare Waffe der Zerstörung gegen diesen Stand gewesen als der Briefadel und der maßlose Gebrauch, der von demselben gemacht wurde. Es ist charakteristisch, daß es wiederum die Zeit Karls V. war, in welcher der Briefadel recht in Schwung kam. In der unsinnigen Verschleuderung desselben wurde dem Vorurtheil, daß der Adel bloß einen Rang bezeichne, recht eigentlich der Stempel landesherrlicher Autorität aufgedrückt.

Indem ich dem unabhängigeren Adel des Mittelalters den Hofadel der späteren Jahrhunderte in seinen Schattenseiten gegenüber stelle, will ich damit keineswegs ausdrücken, als ob es an sich unzulässig, dem aristokratischen Berufe widersprechend sey, daß der Adel Hof- oder Staatsdienste nehme. Auch im Mittelalter gab es einen sehr berechtigten Hofadel. Ja es ist an sich nichts natürlicher, als daß die Aristokratie des Landes durch den Glanz ihrer gesellschaftlichen Stellung den Glanz des Thrones mehren helfe. Nur soll sie sich nicht in ihrer socialen und vollends gar materiellen Existenz von dem Hof- und Staatsdienst abhängig machen. Und letzteres war vielfach und selbst bei den stolzesten Geschlechtern im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert eingerissen. Ein selbständiger Adel, der dem Throne nahe steht, ist eine Bürgschaft für die Freiheit und Selbständigkeit der gesammten Volksentwicklung. Wo dagegen irgendwann centralisirende und nivellirende Fürstenallmacht durchgebrochen ist, da wurde auch fast immer der Adel zu der abhängigsten und unselbständigsten Stellung im Hof- und Staatsdienste zurückgetrieben. Die Blüthe des deutschen Bürgerthumes im Mittelalter lief parallel mit der Selbständigkeit des Adels. Vom Verfall der Aristokratie nach der Reformation hat das Bürgerthum wenig Nutzen gehabt, es hat vielmehr selbst mitleiden müssen. In Rußland erlischt der Erbadel sofort, wenn je bis zur dritten Generation kein Glied der Familie in den Staatsdienst getreten ist. Der Begriff des Adels an sich ist hier gefesselt an den Begriff des kaiserlichen Dienstes. Dadurch ist jede auch nur annähernde Selbständigkeit der Aristokratie zum Schaden des Landes unmöglich gemacht. Viel eher verträgt sich noch eine corporative Selbständigkeit des Bauernstandes mit der absoluten Regierungsform, als das gleiche Zugeständniß an die Aristokratie. Auch dafür liefert Rußland den Beleg. Wäre die Gegnerschaft des Liberalismus wider die Aristokratie eine rein politische, so wäre sie widersinnig; denn eine kräftige Aristokratie ist zu allen Zeiten eine Stütze der politischen Freiheit gewesen. Um das einzusehen, braucht man nur England mit seiner großartig entfalteten Pairie gegen Rußland mit seinem Adel zu halten, dessen ganzer Bestand in dem Gedanken des fürstlichen Dienstes aufgeht, die deutsche Aristokratie des Mittelalters gegen die deutsche Aristokratie der Zopfzeit. Aber jene Gegnerschaft des Liberalismus ist auch keine rein politische, sie ist vielmehr eine wesentlich sociale.

Kein Stand hat solche gleichsam bis auf Mark und Bein eindringende sociale Processe durchgemacht, wie die deutsche Aristokratie. Die Uebergänge von der Aristokratie des frühern Mittelalters zu der des spätern, von dieser wieder zu dem Adelswesen der Rococozeit und von da endlich zu den neuen Ansätzen einer modernen Aristokratie sind so gewaltsam, so durchgreifend gewesen, der Begriff der Aristokratie ist scheinbar jedesmal so von Grund aus umgesprungen, und trotz seiner unendlich verschiedenen Erscheinungsformen doch immer wesentlich derselbe geblieben, daß hieraus recht klar die unverwüstliche Zähigkeit des aristokratischen Princips in die Augen springt. So weit unser zerfahrenes modernes Bürgerthum auch abstehen mag von dem Bürgerthum des Mittelalters, ist es doch in der, zwischen inne liegenden Periode lange nicht so gründlich umgewandelt wurden, wie die gleichzeitige Aristokratie. Die Trümmer der alten Pracht in unseren großen Reichsstädten heimeln uns an durch den wahlverwandten Geist, der immer noch jene verblichene Handels- und Gewerbsgröße mit unserer modernen Industriegröße verbindet. Die gebrochenen Burgen des Ritterthums, einsam auf pfadlos verwachsenen Berghöhen gelagert, bergen im Gegensatz die Poesie des Räthsels für uns, und gerade das Fremdartige an diesen Stein gewordenen »Mährchen aus alten Zeiten« ist es, was als ein so wunderbarer Laut dichterischer Romantik in unserer Seele widertönt. Und doch liegt für den geschichtlichen Forscher das Fesselnde unserer vielverschlungenen Adelsgeschichte wieder darin, daß bei allen ihren schroffen Uebergängen durchweg ein historischer Faden bleibt, der diese lange Reihe von Gegensätzen zur geschlossenen Kette in einander fügt.

Wunderbar genug hat die Natur selber dies angedeutet in dem wechselnden Auftreten und Abgehen der großen Adelsgeschlechter. Jeder Ring der Kette schließt sich ab, aber jeder greift auch ein in einen neuen Ring. Die ältesten Urgeschlechter des hohen Adels sind gegen das Ende des Mittelalters fast alle ausgestorben. Die aus den gewaltigen Umwandlungen der Aristokratie im Mittelalter hervorgegangenen Geschlechter treten mehrentheils in ihre Stelle: in der Erbschaft ihres Besitzthumes finden die alten darauf haftenden Pflichten und Rechte, oft auch der alte Name, einen neuen Herrn. Und wiederum ist von diesen aus dem Mittelalter hervorgewachsenen Geschlechtern eine auffallende starke Zahl wenigstens in den Hauptstämmen gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts erloschen. Aeußerst wenigen Familien war es vergönnt, durch alle diese großen Perioden im Urstamme kräftig fortzutreiben auf ihren Stammgütern, die Einheit auch in diesem Wandel versinnbildend. Wie der einzelne Mensch von hinnen geht, wann er seine Sendung erfüllt hat, so treten auch die Geschlechter und Familien ab, wann das Maß ihres Wirkens voll ist. Das stolzeste Haus, dem zahlreiche Sprößlinge noch eine vielhundertjährige Dauer zu verheißen scheinen, erlischt oft plötzlich. Es ist, als ob ein Verhängniß ihm keinen längern Bestand gönnen wolle als eben für die geschichtliche Periode, für welche es berufen war. Das Alter des Menschen zählt nach Jahren, das Alter der Geschlechter nach Jahrhunderten, der Völker nach Jahrtausenden, der Menschheit vielleicht nach Hunderttausenden. Und sollte es darum, wo ein ehernes Gesetz der Natur und der Weltgeschichte dieses geheimnißvolle Maß, diese Schranken vorgezeichnet hat, so ganz kindisch seyn, das historische Bewußtseyn der Geschlechter in einem besonders berufenen Stande wach zu erhalten und in Familiengeschichte und Stammbäumen von dem geschichtlichen Berufe und dem Lebensalter der Geschlechter sich selber und andern Kunde zu bewahren?


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