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II. Die Aristokratie.

Erstes Kapitel.

Der sociale Beruf der Aristokratie.

Die Aristokratie ist die einzige unter den vier großen Gruppen der Gesellschaft, welcher das Recht als ein besonderer Stand aufzutreten oft genug von Leuten abgestritten wird, die keineswegs Socialisten sind. Daß es Bürger, Bauern und Proletarier gebe, daß diese Unterscheidung keine zufällige und willkürliche, sondern in Sitte und Beruf gewurzelte, der Gesellschaft durch ihre ganze Geschichte aufs tiefste eingeprägte sey, läugnet niemand. Wegtilgen möchte der ausebnende Geist freilich diese dreifache Gliederung, aber zugestehen muß er doch daß sie noch sehr augenfällig bestehe. Eine aristokratische Sitte soll allenfalls noch vorhanden seyn – und wäre es auch nur eine Unsitte – vom aristokratischen Beruf dagegen lasse sich in unsern Tagen nichts mehr verspüren. Die Ansicht ist leidlich populär geworden, daß die Aristokratie in gar nichts weiter beruhe, als in der Einbildung, im Vorurtheil. Wenn man etwa das Bauernthum als einen wirklichen Stand gelten läßt, dessen Realität freilich jeder mit Händen greifen muß, der nur einen Kittel von einem Rock unterscheiden kann, dann soll dagegen der Adel nur die Anmaßung eines besonderen Standes seyn.

Man gesteht wohl zu, daß es vor Zeiten einmal einen Adel als einen in sich berechtigten und lebenskräftigen Stand gegeben habe. Aber jetzt sey derselbe ganz gewiß eine bloße historische Versteinerung geworden, ein antiquarisches Cabinetsstück, ehrwürdig, weil grau vor Alter. Auch der Clerus hat ja im Mittelalter eine selbständige Gesellschaftsgruppe in sich beschlossen, die Priesterschaft als Stand, als Kaste bildet den ältesten Adel in der Weltgeschichte, und dennoch hat der Clerus jetzt seine sociale Selbständigkeit verloren und ist aufgegangen in die übrigen Gruppen der Gesellschaft.

Man fragt, worin denn noch der eigenthümliche, der unterscheidende Beruf des Adels sitze, seitdem ihm das Monopol des großen freien Grundbesitzes, das Monopol des höheren Kriegsdienstes, der Staatsleitung, des obern Richteramtes aus den Händen gewunden ist, und der höhere Hofdienst, dessen Monopol der Adel allenfalls noch inne hält, seinen früheren politischen Charakter verloren hat? Bei dem vierten Stande steht die Frage obenan, wie derselbe social zu organisiren, bei den Bauern, wie ihre im Sturme der Zeiten so wunderbar festgebliebene sociale Organisation politisch zu benutzen sey, bei der Aristokratie dagegen, worin denn eigentlich überhaupt ihr socialer Beruf bestehe und ob sie einen solchen wirklich aufzuweisen habe?

In bewegten Tagen ist von den Fortschrittsmännern mehr denn einmal und in verschiedenen Ländern förmlich die Abschaffung des Adels decretirt worden. Merkwürdigerweise ist aber der Adel immer wiedergekommen. Man hielt den Adel schon gar nicht mehr für einen wirklichen Stand, denn die Abschaffung eines Standes durch Decrete wäre an sich ein Unsinn. Das Bürgerthum, das Bauerthum zu Grunde richten, im socialistischen Sinne zur Selbstauflösung führen, das kann man wohl beabsichtigen, aber kein vernünftiger Mensch wird stracks eine »Abschaffung« des Bürger- und Bauernthumes decretiren wollen. Jene Decretirenden bekannten also durch ihr Decret, daß sie den Adel vorweg gar nicht als einen eigentlichen Stand ansahen. Er war ihnen ein Kropf am Körper der Gesellschaft, ein Auswuchs, den man chirurgisch wegschneiden müsse. Die Führung des Adelstitels insbesondere erschien ihnen nicht als eine geschichtlich erwachsene Sitte, die nur auf dem geschichtlichen Wege der inneren Nothwendigkeit wieder erlöschen könnte, wie sie gekommen, sondern als der privilegirte Mißbrauch eines willkürlichen Schnörkels, den man nur durch ein einfaches Verbot auf dem Wege der polizeilichen Sprachreinigung wegzustreichen brauche.

Man fragte sich, worin denn der eigenthümliche und unterscheidende Beruf der Aristokratie als Stand liege, und konnte keine Antwort darauf finden. Aber seltsam stach dagegen freilich wiederum ab, daß man die oft so bestrittene Existenz der Aristokratie, nicht nur von außen her niemals hatte vernichten können, sondern daß auch die Aristokratie in eigener Person, als sie im achtzehnten Jahrhundert das Möglichste that sich selber zu Grunde zu richten, dies dennoch nicht fertig gebracht hatte. Ein ganz berufloses, ganz zweckloses Leben kann so zäh nicht seyn. Selbst die Begriffsbestimmung dessen, was eigentlich Aristokratie sey, ist je mehr und mehr verschwommen und ins Allgemeine zerflossen. Nicht einmal im Mittelalter hatte man einen durchschlagenden Begriff fest in der Hand, geschweige denn in der neuern Zeit. Er erweiterte und verengerte sich nach örtlicher Auffassung selbst damals, als die äußeren Wahrzeichen des adeligen Standes und Berufes noch das bestimmteste Gepräge trugen. Der Adel spaltete sich in alten Tagen in eine Masse vielgliedriger Gebilde: die verwirrend in einander überspringenden Gränzlinien des hohen und niederen Adels lassen sich durchaus nicht allgemein, sondern immer nur in kleinen zeitlichen und örtlichen Kreisen ziehen, sie sind ein rechtes Kreuz der Historiker. Der Adel entwickelte in diesem Sinn ein ähnliches Bild des Sonderthums wie die Bauern. Aber es war doch der einigende Gedanke des allgemeinen socialen Berufes im Mittelalter aufs klarste und bestimmteste vorhanden, und eben dieser soll – so wird behauptet – in neuerer Zeit dem Adel abhanden gekommen seyn.

Und in der That liegt etwas wahres darin und ist es charakteristisch für die gegenwärtigen reformbedürftigen Zustände der Aristokratie, daß sie nach dem genauen Begriffe ihrer selbst sucht, daß sie schwankend geworden, wie weit sie die Grenzen der eigenen Körperschaft erstrecken soll, daß sie sich in entscheidenden Stunden oftmals nicht einig wußte über die nothwendig einzunehmende Stellung in den gesellschaftlichen Kämpfen dieser Tage. Schon in dem einfachen Sprachgebrauch ist eine verdächtige Verwirrung eingerissen. Man hat eine Redefigur aus dem Wort »Aristokratie« gemacht und spricht von Geldaristokratie, Beamtenaristokratie, Gelehrtenaristokratie etc. Und zwar hat sich dieser Sprachgebrauch in einer Weise eingebürgert, daß es oftmals schwer hält, den Punkt zu finden, wo sich die Redefigur vom Wortsinne scheidet.

Sind überhaupt »Aristokratie« und »Adel« gleichbedeutende Begriffe? Man nimmt gewöhnlich den ersteren Begriff für einen weiteren als den letzteren. Ich glaube dagegen, daß in der Gesellschaftskunde der Begriff der Aristokratie als der engere zu fassen sey. Meine Ausführung über die sociale Bedeutung der Aristokratie wird darthun, daß keineswegs der gesammte Adel zur Aristokratie gehört, wohl aber daß der Geburtsadel eine wesentliche, wenn auch keineswegs die einzige, Eigenschaft des socialen Aristokraten sey. In früherer Zeit hat man den Begriff der Aristokratie zu äußerlich beschränkt, indem man ihn für gleichbedeutend mit dem des Adels nahm; gegenwärtig erweitert man ihn übermäßig in ebenfalls äußerlicher Weise. Es entspricht ganz dem Geiste unserer gebildeten Gesellschaft, der ein hoffähiger aber nicht ein stolzer Geist ist, daß die Spitzen des Bürgerthumes auch mitzählen wollen zur Aristokratie, während doch der ächte Bürger viel zu stolz seyn muß um irgend etwas anderes seyn zu wollen als ein Bürger. Nur der selbständige, unabhängige, grundbesitzende Adel gehört zur socialen Aristokratie: nicht aber der besitzlose, abhängige Titularadel. Es zählt auch der Fürst zur socialen Aristokratie, während er den politischen Ständen neutral gegenüber steht. In dem Sinn jenes eigentlichen, unabhängigen Adels habe ich wohl auch die Ausdrücke Adel und Aristokratie hier und da abwechselnd für einander gebraucht. Die Weltanschauung der Voltaire'schen Zeit, welche in den meisten Dingen doch so ziemlich vergessen ist und selbst durch die eifrigsten Bemühungen einer Seitenlinie der absoluten Philosophenschule neuerdings im Volksbewußtseyn nicht wieder aufgefrischt werden konnte, ist in Betreff der Aristokratie merkwürdigerweise am dauerndsten volksthümlich geblieben. Der deutsche Philister kehrt leichter zu dem Glauben an die Vernunftmäßigkeit des leibhaftigen Teufels, als an die Vernunftmäßigkeit des Geburtsadels zurück. Die Sache ist leicht erklärlich. Der religiöse Rationalismus kam am frühesten, er ist auch am frühesten gebrochen worden. Der sociale Rationalismus ist viel neueren Datums, er wird noch eine gute Weile brauchen, um sich abzuleben. Durch jenes äußerste, welches der sociale Rationalismus in der Aufstellung der modernen socialistischen Systeme theoretisch gewagt, ist im Kampfe jener gegnerische Standpunkt erst zum wissenschaftlichen Bewußtseyn gekommen, der die gesellschaftlichen Zustände lediglich aus der historischen Entwicklung der Gesellschaft selber beurtheilt. Nach fünfzig Jahren wollen wir wieder nachfragen, ob dieser Standpunkt auch bei dem deutschem Philister zur Geltung durchgedrungen ist.

Kant bezeichnet den Adel als einen Rang, der dem Verdienste vorhergeht, dieses aber keineswegs zur nothwendigen, nicht einmal zur gewöhnlichen Folge hat. Der Begriff des Adels hat aber einen weit reicheren Inhalt als den, einen bloßen Rang zu bezeichnen, der Rang ist vielmehr etwas ganz untergeordnetes bei demselben. Kant würde zu dieser sehr äußerlichen und mageren Bestimmung nicht gekommen seyn, wenn er das gesellschaftliche Phänomen des Adels nicht mit abstract philosophischem Maßstabe gemessen hätte. Hätte die damalige Zeit ein Organ gehabt für die historisch-sociale Auffassung, so würde der große Philosoph von Königsberg in dem Adel eine eigenthümliche Entwickelungsform des socialen Lebens erkannt haben, die nicht fehlen darf, wo die europäische Gesellschaft, wie sie nun einmal historisch geworden ist, in ihrer Gesammtheit dastehen soll. Ob das einzelne Glied eines solchen Standes diejenigen Verdienste entfaltet oder nicht, welche von der Würde des Standes geheischt werden, ist für den allgemeinen Begriff desselben ganz gleichgültig. Die große Masse hält aber heute noch an jener Kantischen Ansicht fest, weil sie gleichfalls noch nicht weiß, sociale Thatsachen aus der Gesammtheit des socialen Lebens zu beurtheilen.

Merkwürdig genug hat der Sprachgebrauch seit geraumer Zeit das Wort »Aristokratie« weit häufiger zur Bezeichnung einer Partei als eines Standes gestempelt. Beim Bürgerthum hat man viel später erst den Stand als »Bourgoisie« in die Partei übersetzt. Darin bekundet sich wiederum der Drang, den socialen Bestand der Aristokratie wegzuleugnen und nur den politischen als einen usurpirten stehen zu lassen. Man darf dabei nicht vergessen, daß die Sucht, den Begriff der Aristokratie zu dem einer Partei zu verflüchtigen, wesentlich der ersten französischen Revolution angehört, die entsprechende Travestirung des Bürgernamens aber der Februarrevolution.

Und doch liegt diesem Mißbrauch insofern wieder etwas wahres zu Grunde, als in den socialen Gebilden unzweifelhaft ein dreifach verschiedener politischer Grundton sympathetisch anklingt. Die Aristokratie und die Bauern sind auf den ständisch-conservativen Accord gestimmt, die Stadtbürger auf den constitutionellen, die Proletarier auf den social-demokratischen. Diese annähernde Stimmung – in der schwebenden Temperatur – erfüllt freilich das Wesen der einzelnen Stände nicht. Darum steigen aber doch und fallen mit den Wogen der socialen Kämpfe ebenmäßig die politischen Wogen. Das Proletariat, die Ausgleichung aller ständischen Unterschiede begehrend, sucht den nackten Menschen; die Aristokratie, welche den Gedanken der ständischen Gruppen greifbar verkörpert darstellt, setzt den Gesellschaftsbürger im historischen Costüm dagegen; das Bürgerthum vermittelt, indem er das Zauberwort vom Staatsbürger in den Streit wirft: und diese rastlose politische Fehde der gesellschaftlichen Kräfte bewahrt uns, daß ein äußerstes politisches Princip jemals einseitig auf die Dauer alleinherrschend werde.

Indem so jeder Stand nebenbei von einem eigenen, gleichsam eingebornen politischen Gedanken erfüllt ist, gestaltet er sich zu der materiellen Unterlage, in welche der Staatsmann die Grundpfeiler seines politischen Baues eingräbt. Oder richtiger: das ständische Volksleben selber ist der rohe Stoff für den Politiker, woran er sein Talent als ein formbildendes erprobt. Aber allezeit wird ihm je nach seiner politischen Doctrin, nicht das ganze Volk, sondern je eine bestimmte Gesellschaftsgruppe vorwiegend der weiche bildsame Stoff seyn, woran er formend Hand legt. Ich meine also, der ständisch conservative Staatsmann sieht vor allen Dingen zu, daß er sich eine Adels- und Bauernpolitik schaffe, der konstitutionelle, daß er auf eine Bürgerpolitik, der Demokrat, daß er auf eine Politik des vierten Standes gestützt sey. Aus diesem Gesichtspunkte wird erst der staatsmännisch praktische Werth klar, welchen eine solche naturgeschichtliche Untersuchung der Stände, wie ich sie geben möchte, haben kann. An politischen Formen ist die Gegenwart ja überreich; wir möchten gerne den entsprechenden Stoff für diese Formen aufzeigen. Indem die Demokratie den vierten Stand zu ihrer heiligen Schaar machte, ihn zu organisiren suchte, den vierten Stand für das Volk erklärte, lediglich auf den vierten Stand ihre Politik baute, bewies sie staatsmännischen Instinct. Daß sie auf dieser untersten Stufe stehen blieb, daß die Proletarier ihrerseits sich zwar todtschießen ließen, aber doch nicht sich zu organisiren verstanden, geht uns hier nichts an. Aber der Constitutionalismus stützte sich lieber auf Gelehrte und Journalisten, als auf das Bürgerthum, der Conservatismus auf die Soldaten und nicht auf die Aristokratie und die Bauern. Daher die andauernde Ohnmacht gegenüber der Demokratie! eine Ohnmacht, die erst aufhörte, als die Demokratie sich selber zu Grunde gerichtet hatte. Nur die sociale Politik macht heutzutag unüberwindlich.

Nach diesen abschweifenden Zeilen kehre ich zum Thema zurück: zur Kritik der Verneinung des aristokratischen Berufes.

Der Gedanke, den Adel, wie er geschichtlich erwachsen, als etwas willkürlich gemachtes hinzustellen, konnte erst dann auftreten, als man überhaupt die uralte innere Mannichfaltigkeit der Gesellschaft für ganz zufällig, von barbarischen Zeiten ersonnen, der Menschheit unwürdig fassen zu müssen glaubte. Den Geburtsadel hielt man so recht für die breite Bresche, durch welche ein »philosophisches Zeitalter« erobernd in die Zwingburg des Ständewesens einziehen könne. So wie man überhaupt keine geschichtliche Nothwendigkeit mehr erkennen wollte, so konnte man am wenigsten begreifen, wie es von Rechtswegen irgend bestimmende Einflüsse auf eines Menschen ganzes Lebensgeschick haben dürfe, daß dieser oder jener sein Vorfahr gewesen.

Bei dem Genius hat man längst die Wucht des »Angeborenen« eingesehen. Gerade zu einer Zeit, wo man am meisten über den Geburtsadel spottete, hat man den Stammbaum Sebastian Bach's mühsam aufgeforscht; eine lange, stolze Ahnenreihe der kernhaftesten Kunstmeister kam zu Tage, und mit Recht schrieb man diesem künstlerischen Geburtsadel ein gut Theil der auszeichnenden Eigenthümlichkeiten des seltenen Mannes zu. Bei Goethe sind nicht bloß Vater und Mutter, sondern auch in aufsteigender Linie die entfernteren Vorfahren in den Kreis des Nachforschens gezogen worden. So wohl begriff man, wie oft der Genius unter die eherne Nothwendigkeit der Geburt und Abstammung gestellt ist. Auch die ideelle Aristokratie des Talents ist eine Geburtsaristokratie. Die Socialisten steuern darum ganz folgerecht darauf hin, selbst diese Aristokratie des Talentes wegzutilgen. Aber wenn man gleich die ganze Welt zu einem großen Findelhaus herrichtete, würde doch wenigstens diese Bevorzugung der Geburt nicht auszurotten seyn.

Die Geburt bestimmt ja auch in der Regel unwiderruflich, ob einer Bürger oder Bauer oder Proletarier werde, warum soll sie nicht bestimmen, daß einer Baron sey? Dieser Gedanke, daß die Geburt – zumeist – die historische Schranke für die ganze spätere gesellschaftliche Stellung des Menschen bilde, hat sich in der Theorie des Geburtsadels gleichsam verdichtet, seinen persönlichen Leib gefunden, mindestens sein Wahrzeichen. Die Aristokratie ist der Stand der socialen Schranke, wie der vierte Stand der socialen Schrankenlosigkeit; beide Extreme haben ihr Recht nebeneinander, weil die Gesellschaft nur in ihrer Vielgestalt ein organisches Leben entfalten kann. Ein Proletariat mit Stammbäumen und Hausgesetzen wäre ebenso widersinnig, als eine Aristokratie ohne Geburtsadel. Die Basis aller socialen Schranken und Gliederungen ist die Familie. Darum ist es ganz naturnothwendig, daß das Bewußtseyn der Familie in der Aristokratie am schärfsten ausgeprägt, am lebendigsten durchgeführt sey. Die Familie im Aufsteigen zu ihren historischen Wurzeln gedacht, entfaltet sich zum Stammbaum. Das Geschlechtswappen ist das äußerliche Wahrzeichen dafür daß das Familienbewußtseyn historisch geworden ist, und die Seitenzweige finden ihre Familiengemeinsamkeit in dieser Wappensymbolik urkundlich wieder. Auch bei dem Bürger und Bauern wurzelt die ganze sociale Persönlichkeit in dem Begriff der Familie. Aber beide führen nicht nothwendig Wappen. Das historische Bewußtseyn der Familie reicht nicht so weit hinauf, die Gemeinsamkeit der Familie verzweigt sich nicht so breit und reich auch in die Seitenäste, daß ein solches Symbol als Erkennungszeichen gefordert wäre. Wir kommen hier wieder um einen Schritt weiter in der Begriffsbestimmung der Aristokratie. Sie ist der Stand der socialen Schranke, das Fundament aber dieser Schranke, dieses Princips der Gliederung findet sie in dem historischen Familienbewußtseyn. In dem Abschnitt vom deutschen Bauern bezeichnete ich den Bauer als ein leibhaftiges Stück Geschichte, das in unsere Zeit hereinrage. Ich wies nach, wie der historische Sinn der Bauern schlummert, wie der Bauer von dem Instinct der historischen Sitte geleitet wird, keineswegs aber die bestimmte, bewußte Absicht hat, das Geschichtliche an sich und seiner Umgebung zu hegen und zu pflegen. Nun ist auch der Adel, gleich dem Bauern, ein Stück leibhaftiger Geschichte, das in die moderne Welt ragt. Als unterscheidendes Merkmal tritt jedoch hinzu, daß der Adel über den in seiner Körperschaft webenden geschichtlichen Geist sich auch klar und bewußt Nachweis gibt, daß er sich als den Bewahrer des historischen Zuges im socialen Leben wissen und erkennen muß. Er ist im eigenen Standesinteresse auf die Geschichtsforschung hingewiesen, während sich der Bauer um solche Forschung gar nicht kümmert. Der Bauer weiß nicht, wer seine Vorfahren waren, aber ihre Sitten leben in ihm. Der Adel kennt und findet sich in seiner socialen Geschichte – und wenn es auch nur die ganz trockene Familienchronik eines Stammbaumes wäre; – der Bauer steckt in seiner Geschichte und weiß es selbst nicht. Der Adel ist aus diesem Gesichtspunkt ein Bauernthum auf erhöhter Stufe, er ist der große Grundbesitzer, welcher sich seines geschichtlich erwachsenen Familienlebens und der damit verbundenen Standeskörperschaft seit alter Zeit bewußt geblieben ist. Aber der dunkle Trieb des Instinctes, der unbewußt gehegten Sitte ist fast immer gewaltiger, spröder und ausschließender als das bewußte Begreifen. Darum ward der Bauer doch in strengerem und einseitigerem Sinne der »historische Stand,« als der Adel, der seine Geschichte kennt und urkundlich aufzeichnet, aber keineswegs mehr mit der Einfalt des Bauern in dem engen Bann der geschichtlichen Sitte lebt. Der Stammbaum hat in der socialen Wissenschaft eine theoretische Bedeutung; den praktischen Werth erhält er erst da, wo sich auch die Ueberlieferung der historischen adeligen Sitte an die Stufenfolge der Ahnenreihe kettet. Ich nannte den Adel ein potenzirtes Bauernthum, sofern ich das letztere im modernen Sinn des freien kleinen Grundbesitzes fasse. Der weiteren Anhaltspunkte zur fortgeführten Parallele bieten sich hier erstaunlich viele. In beiden Ständen ruht hauptsächlich die erhaltende, hemmende und dämmende Kraft für die Gesellschaft wie für den Staat; in dem Bürgerthum und dem vierten Stand die fortbewegende, vorwärtsdrängende. Dem Adel schwindet gleich dem Bauern der historische Boden unter den Füßen, sowie ihm die Basis des Grundbesitzes abhanden kommt. Der ächte Adel und der ächte Bauer verstehen sich auch gegenseitig am besten, kommen am leichtesten mit einander aus. Es ist dies eine ganz merkwürdige Thatsache. Die Geschichtssagen der Bauern über ihre früheren Verhältnisse zu ihrem Gutsherren klingen gemeiniglich gar nicht darnach, als ob sie eine sonderliche Vorliebe für deren Stand und Familie erwecken könnten. Es wird da von wenig andern Dingen die Rede seyn als von Zinsen und Lasten, Frohnden und Leistungen. Und dennoch blickt der Bauer weit seltener mit Neid auf den adeligen Grundherrn, als der Bürger auf den Baron. Das macht, sie fühlen sich wahlverwandt, sie wissen, daß ihr Interesse im Großen und Ganzen auf eines hinausläuft. Auch im geschichtlichen Verlauf läßt sich's, wie wir weiter unten sehen werden, nachweisen, daß der Edelmann dem Bauern weit näher gestanden hat als dem Bürger. Darin liegt ein bedeutsamer Fingerzeig für die Aristokratie. Wenn dieselbe ihren eigenen Vortheil wahren will, dann muß sie sich als die Schirmherrin der Interessen des kleinen Grundbesitzes erweisen, die selbständig kräftige Blüthe des Bauernthumes fördern. Dagegen wird der begüterte Adel gewiß seinen Bestand nicht festigen, wenn er seinen Grundbesitz dadurch vermehrt, daß er die kleinen Bauern systematisch auskauft und dieselben so aus freien Grundeigenthümern zu seinen Taglöhnern macht. Was er dadurch materiell gewinnt, büßt er moralisch ein. Die selbständigen Gutsbesitzer waren seine natürlichen Bundesgenossen; die Tagelöhner, und wenn sie auch sein Brod essen, sind eben Proletarier, d. h. die natürlichen Gegner der Aristokratie.

Im früheren Mittelalter durfte gemeiniglich nur der hohe Adel, der mit seinem Burgsitz ansehnlich Land und Leute vereinigt hatte, Graben und Zugbrücke derart an seiner Burg anbringen, daß er sich und das umliegende Land damit absperren konnte. Dieses » Recht der Zugbrücke« war ein politisches, ein militärisches Recht, aber es liegt auch eine tiefe sociale Bedeutung darin. Der hohe Adel nur durfte eine kleine Welt für sich bilden, das Recht der Zugbrücke war das Wahrzeichen seiner socialen Selbständigkeit, und ist es im Grunde geblieben bis auf diesen Tag. Der hohe Adel bildete damals noch allein die »Gesellschaft.« Später erweiterte sich diese. Merkwürdig genug erwarb auch der niedere Adel ungefähr zu derselben Zeit das Recht der Zugbrücke, da er sich zur socialen Selbständigkeit, zum Eintritt in die Gesellschaft aufzuringen begann. Er erwarb das Recht, weil er beim Aussterben und Verderben so vieler Geschlechter des ältesten hohen Adels die Burgen erworben hatte, an denen es haftete, ganz wie jetzt so mancher reiche Bürger durch Gütererwerb das Recht der Zugbrücke im modernen Sinne gewinnt. Dazu kam, daß er nun auch seiner Familiengeschichte sich bewußt ward. Erst mit dem Rechte der Abschließung bilden sich überall sociale Gruppen. So hatte das Bürgerthum des Mittelalters mit dem Corporationswesen auch für sich das sociale Recht der Zugbrücke erobert, und als die Städte zu großen Burgen geworden waren, die man »beschließen« konnte, begann das Bürgerthum als ein organisches Glied in die Gesellschaft einzutreten. Die Abgeschlossenheit des Bauern in Sitte, Sprache und Lebensart ist sein sociales Recht der Zugbrücke, durch welches er sich als Stand gefestet erhält. Das Proletariat hat dieses Recht der Zugbrücke noch nicht gefunden, und eben darum ist es auch noch kein fertiges, sondern erst ein in der Bildung begriffenes Glied der Gesellschaft.

Der Adel unserer Tage hat keine festen Burgsitze mehr, er braucht auch keinen Graben und keine Zugbrücke. Aber indem er großen Grundbesitz im Verbande mit einer individuellen Familiengeschichte fordert, stellt er das sociale Recht der Zugbrücke als die Grundbedingung der gesellschaftlichen Gliederung überhaupt dar. Es ist des Adels eigenster Lebensberuf, diese Gliederung auszudrücken und zu bewahren, wie der Lebensberuf des Bürgerthums, vermittelnd und ausgleichend das Verknöchern der historischen Unterschiede zu verhüten. Wenn man in der modernen Umgangssprache die »Gesellschaft« als gleichbedeutend mit der Aristokratie gebraucht, so ist dies zwar ein verkehrter und anstößiger Sprachgebrauch, der aber doch ein kleines Körnchen Wahrheit in sich schließt. Denn die Aufgabe der Aristokratie wäre es allerdings, das Urbild der bestimmtesten und abgerundetsten Gesellschaftsgruppe darzustellen. Der politische Beruf der Aristokratie ist nur noch ein abgeleiteter, er quillt aus dem bezeichneten socialen Berufe. Darum ist dies die einzige wahre und tief greifende Bedeutung der ersten Kammern, das historische Princip der gesellschaftlichen Gliederung politisch zu vertreten, zu wachen, daß das Staatsleben seine geschichtliche sociale Grundlage nicht verlasse, nicht aber einseitig das Sonderinteresse des Adels zu fördern.

Wie die Beamtenwelt im kleinen Kreise die Lebensthätigkeit des Staates nach allen Seiten darstellt, während darum doch erst die Gesammtheit aller Staatsbürger den Staat ausmacht, so ist die Aristokratie berufen, die ständische Bildungsform der Gesellschaft in ihren klarsten Grundgedanken zu verwirklichen, während darum doch erst die Gesammtheit aller Stände die Gesellschaft bildet.

Halten wir dieses als das Ideal des Berufes der Aristokratie fest, dann ergibt sich's von selbst, daß dieselbe etwas ganz anderes als einen bloßen Rang ausdrückt. Der höchste Rang macht noch keinen Aristokraten; auch der ausgedehnteste Besitz allein nicht, noch der historische Name allein. Die durch die Fülle des festen Besitzes gewährleistete unabhängige und selbständige Stellung, verbunden mit dem bereits historisch gewordenen Bewußtseyn der Familien- und Standesgemeinschaft, befähigt erst zu dem socialen Berufe der Aristokratie. Darum kann man dieselbe so wenig machen, als man sie wegdecretiren kann. Und darum ist es auch widersinnig, einen Adeligen, der sich seines Standes unwürdig gezeigt hat, zur Strafe in den Bürgerstand versetzen zu wollen. Der Bürgerstand hat einen gleich hohen, gleich ehrwürdigen, nur von andern Grundlagen ausgehenden, in anderer Art zu verwirklichenden socialen Beruf wie die Aristokratie, und wer sich zur Erfüllung des aristokratischen Berufes unfähig gemacht hat, der ist damit wahrhaftig nicht befähigt zu dem Berufe der andern Stände; er ist und bleibt eben ein verdorbener, nichtsnutziger Aristokrat, wie jeder Stand seine Eiterbeulen und Geschwüre hat. Die Stände stehen überhaupt an sich zu einander in keiner Rangordnung, sie drücken nur verschiedene Seiten des allgemeinen Berufes der Gesellschaft aus. Der Accent, den man seit dem Mittelalter auf die Rangordnung der Stände gelegt, schuf gerade jenen Zopf des Ständewesens, der dasselbe leider um seinen Credit gebracht hat. Von diesem Zopf muß Jeder absehen, dem es Ernst ist mit der socialen Reform. Würde das Wesen der Stände als verschiedenartiger Formen des socialen Berufes, die nothwendig mit den Formen des geschäftlichen Berufes Hand in Hand gehen, allgemein erkannt, dann würde sich jeder in seinem eigenen Stande stolz und wohl fühlen, und der unselige Drang aus diesem herauszutreten und mit dem äußern Abklatsch der Sitte sich die Pforten eines als höher beneideten Standes erschließen zu wollen, würde aufhören.

Je frischer, selbständiger und kräftiger das Bürgerthum sich entfaltet, um so gediegener wird auch die Aristokratie seyn, um so neidloser werden alle Stände zusammenwirken. Der deutsche Adel ist von demselben Augenblicke an zurückgegangen, wo das Bürgerthum verfiel, und je mehr beide Stände sich verflachten, um so weiter wurde die trennende Kluft zwischen beiden. Wie die ständische Gliederung, deren festester materieller Rückhalt im Bürgerthum sitzt, sich auflöste, schwand der Aristokratie mehr und mehr ihr eigentlicher Beruf, diese Gliederung auch formell selbstbewußt zu erhalten. In der socialistischen Welt, die kein Bürgerthum mehr kennt, schafft sich der Adel von selber ab; denn nur in der historisch gegliederten Gesellschaft hat er überhaupt einen Beruf, einen Sinn. Das Geheimniß der Kraft und Unverwüstlichkeit der englischen Pairie liegt darin, daß in England auch die Bürger sich noch als feste, wohlgegliederte Körperschaft wissen und fühlen, daß die Organisation der Gesellschaft sich noch ihren inneren historischen Bestand gerettet hat. Mit diesem gegenseitigen Kraftbewußtsein der verschiedenen Gruppen hängt es auf's innigste zusammen, daß, wie Montesquieu sagt, Mäßigung die Cardinaltugend der englischen Aristokratie ist. In Deutschland hat sich das Bürgerthum seit dem unseligen dreißigjährigen Kriege mehrfach veräußerlicht und verflacht, naturnothwendig also auch der Adel, der Stoff zu einer vollwichtigen deutschen Pairie wird sich erst dann wiederfinden, wenn sich der Stoff zu einem vollwichtigen deutschen Bürgerthum wieder gefunden hat. In Frankreich, wo der ständische Geist im Bürgerthum am meisten erloschen ist, wo das geschichtsfeindliche Proletariat seine entscheidendsten Siege feiert, ist auch der Adel am meisten verblaßt. In Spanien, wo sich umgekehrt der Ehrgeiz der Standesbegeisterung zur Donquixoterie überhoben hat, will jeder Bürger ein Hidalgo seyn.


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