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Zweites Kapitel.

Das aristokratische Proletariat.

Der Schwerpunkt des vierten Stands liegt in Deutschland nicht bei den Tagelöhnern oder Fabrikarbeitern, wie in Frankreich und England, noch weniger bei den verdorbenen Bauern. Denn nicht die untern Schichten der Gesellschaft sind bei uns am meisten zerbröckelt und verwittert, sondern die höheren. In der Aristokratie, im gebildeten Mittelstande Deutschlands ist die Existenz des Einzelnen durchschnittlich weit mehr gefährdet, ein zermalmender Wettkampf weit übermächtiger als bei den Handwerkern und im Bauernstande. Die Proletarier des Geistes sind für Deutschland dasselbe Schreckgespenst, was für Frankreich die brodlosen Handarbeiter, für England die Fabrikleute. Die gebildeten Proletarier sind bei uns der Sauerteig, der das gesammte übrige Proletariat immer erst in Gährung versetzt. Das eigentlich gefährliche Proletariat unseres Vaterlandes geht nicht in der Blouse, sondern in Oberrock und Frack, es fängt bei apanagirten Prinzen und mediatisirten Reichsfürsten an und geht bis zum letzten hungrigen Literaten abwärts.

Der verarmte und zurückgekommene Adel hat sich in Deutschland erstaunlich breit ausgewachsen. Die Ursachen sind von mir oben in dem Kapitel von dem Adel bereits angedeutet worden. Der seit Jahrhunderten so widernatürlich erschwerte Uebergang des Edelmannes, der seinen aristokratischen socialen Beruf zu erfüllen nicht mehr im Stande ist, zum Bürger- und Bauernthum, erzeugte zuletzt das Vorurtheil, daß es nobler sey, als aristokratischer Proletarier zu vegetiren, denn als tüchtiger Bürger einem ehrenwerthen Erwerb sich hinzugeben. Ein proletarischer Baron aber ist ein Widerspruch in sich selber, er glaubt einem Stande anzugehören, dessen socialen Beruf er doch keineswegs mehr üben kann, und fällt durch diesen Gegensatz seiner scheinbaren und seiner wirklichen Existenz nothwendig dem vierten Stande anheim.

Denn wer ist in materiellem Betracht ein Proletarier? Dessen möglicher Erwerb ihm keine annähernde Gewähr für die dauernde Deckung seiner Bedürfnisse gibt. Aber diese Bedürfnisse sind höchst relativ. Vielleicht hat sich irgend ein Social-Demokrat durch einen Physiologen ausrechnen lassen, wie viel Centner Kartoffeln, Brod, Fleisch der Mensch zum mindesten jährlich braucht, um seinen Verdauungswerkzeugen zu genügen und also sein Daseyn fristen zu können, und setzt nun eine Normalsumme von so und so viel Centnern Kartoffeln jährlich fest, bei deren Nichterwerb das Proletariat beginnt. Allein der Bettler, wenn er nur diese Portion Kartoffeln hat, ist ein Fürst, der Fürst aber, wenn er bloß eine solche Portion Kartoffeln hätte, wäre weit ärmer als der ärmste Bettler. Denn nicht da beginnt das sociale Elend, wo der Hunger in den Eingeweiden zu brennen beginnt, sondern wo die Kraft des Einzelnen nicht mehr ausreicht, die körperlichen und geistigen Güter zu erwerben, welche ihm durch seine gegebene Stellung in der Gesellschaft – über die einmal keiner hinauskommt – als das geringste Maß des Bedürfnisses bezeichnet werden. Der Vornehme hat unter dieser Tyrannei seiner eigenen Geschichte weit mehr zu leiden als der Geringe. Je höher er steht, um so näher ist ihm die Grenzlinie gerückt, wo er aus seinem Stand herausgestoßen wird, ohne in eine andere Gesellschaftsgruppe eintreten zu können, wo er dem Chaos des vierten Standes verfällt. Ihr sprecht, indem das geringste Maß des Bedürfnisses des Menschen sich nicht nach so und so viel Centnern Kartoffeln bestimme, sondern bedingt sey durch seine gesellschaftliche Stellung, durch die Sitte, in welcher er aufgewachsen, sey es eben bedingt durch ein Vorurtheil. Ja wohl, alle gesellschaftliche Sitte ist ein Vorurtheil, und doch würde der Mensch zur Bestie werden, wenn ihr dieses Vorurtheil glatt wegrasiren könntet.

Es gedenkt mir aus meinen Kinderjahren eines armen Mannes. Ob er schon keinen Beruf hatte und nichts that und in abgetragenem Rocke umherging, hatten doch die Leute einen gewissen Respekt vor ihm; denn der arme Mann war ein Reichsgraf und dazu der letzte unmittelbare Nachkomme eines großen Kriegshelden und gewaltigen Geistes, dessen Name unter den Besten in der deutschen Geschichte genannt wird. Das Besitzthum dieses Grafen war zerronnen bis auf einen kleinen Rest, auf dem nur noch ein einziger Pächter saß, und dieser kleine Rest so überschuldet, daß der Graf weit ärmer war als sein eigener Pächter. So ward dieses Gut zuletzt auch noch Eigenthum des Pächters. Und der vordem reichsunmittelbare Graf wanderte eines Tages zu Fuß auf jenes, einst sein kleinstes, Gut, um sich bei der Wohlthätigkeit seines frühern Pächters, der unlängst noch sein Unterthan gewesen, ein Unterkommen zu suchen. Dieser nahm ihn auf und gab ihm das Gnadenbrod von dem Acker, den er einst von ihm zu Lehen getragen; allein der Acker hätte den Grafen auch nicht mehr standesmäßig nähren können. Und ob der Graf auch nichts mehr hatte, begleitete ihn doch noch – sein Privatsekretär! Er lebte von treuer ehemaliger Dienstleute Barmherzigkeit und lebte dennoch wie ein Graf; niemand konnte sagen, daß der Kostgänger des Hofbauern, der kein Gefolge mehr besaß als einen Privatsekretär, zur Aristokratie gehöre, und doch war er auch kein Bürger, kein Bauersmann. Die Bauern sagen heute noch, er sey so eigentlich kein Graf mehr gewesen, aber wenn man ihn dann schlechtweg bei seinem Namen nannte, fielen sie einem doch gleich berichtigend in's Wort und sagten: der Herr Graf! Und in diesem Widerspruche deckten's die Bauern auf, weß Standes Glied der Graf eigentlich gewesen: er war ein Glied des Standes der Widersprüche, des vierten Standes.

Eines Tages bewegte sich ein Karren, davor zwei Kühe gespannt waren, von dem Hofe gegen das Dorf; des Hofbauern Junge führte das Fuhrwerk, auf dem Karren lag ein Sarg, und hinter demselben gingen der alte Hofbauer und der Privatsekretär als Leichengefolge. Der Sarg umschloß die Hülle des letzten Reichsgrafen aus einem der berühmtesten deutschen Geschlechter. So begruben sie ihn auf dem kleinen armen Kirchhofe zwischen versunkenen Bauerngräbern. Und auf den Kirchhof schaut die stolze Burg herab mit ihrer geborstenen Warte, es war die letzte Burg, die der Reichsgraf da unten besessen, freilich nur, da sie schon halb in Trümmern lag. Das Grab stand längere Zeit ohne Zeichen und Schmuck, und ward vergessen, wie die versunkenen Bauerngräber zur Rechten und Linken. Da kamen eines Morgens Steinmetzen in das stille Thal, brachten einen Grabstein, setzten ihn auf des Reichsgrafen Grab, und keiner weiß bis auf diesen Tag, wer den Stein hat setzen lassen.

Auf der Vorderseite des Steines ist in goldenen Lettern des Verstorbenen berühmter Name zu lesen. Darüber das Wappen des stolzen Geschlechtes. Auf der Rückseite aber steht in schwarzen Lettern: »Er starb im Elend.« Und am Sockel sind die Worte eingegraben: »Von einem Freunde vaterländischer Geschichte.«

Das ist die Mähr vom aristokratischen Proletariat. Der Reichsgraf, welcher zuletzt auf der Welt nichts mehr besaß, war an seiner Geburt gestorben; seines Geschlechtes große Geschichte hatte ihn nicht erhalten, nicht ernähren können. Und ein Unbekannter, ein Freund eben jener zermalmenden Geschichte, nicht ein Freund des Hauses oder des Verstorbenen, erweist ihm die letzte Ehre, weil die Tragödie dieses hochgeborenen Proletariers, den er vielleicht nie mit Augen gesehen, ihn erschüttert hat. Er starb im Elend! Zu dieser Lapidarschrift wollte ich den Social-Demokraten führen, dem das Elend da anfängt, wo das geringste Maß der Kartoffeln aufhört, welches zur Beschwichtigung der Verdauungswerkzeuge erforderlich ist. Dieser Reichsgraf, dem noch ein Privatsekretär folgte, hatte lange Zeit ein schönes Besitzthum, und als er nichts mehr hatte, hatte er doch noch einen Freund, und wenn es auch nur ein geringer Bauersmann, ein ehemaliger Dienstmann war, der ihn pflegte, der ihm die Augen zudrückte; und doch war er unendlich ärmer gewesen als der arme Arbeiter, den oft genug der wirkliche Hunger beißt, den man ohne Hemd begräbt, und dem man trotzdem nur auf sein Grab schreiben würde: er entschlief im Herrn – und nicht: er starb im Elend!

Nicht bloß der Kampf der Arbeit mit dem Kapital bedingt das Proletariat, sondern auch der Schicksalskampf mit der Geburt, mit dem Stande, mit der historisch gegebenen Stellung in der Gesellschaft. Die Geburt ist nichts zufälliges, nichts willkürliches, so wenig als Körperstärke und Geistesgaben; sie ist vielmehr die ehernste Nothwendigkeit, sie ist die erste und festeste historische Schranke, welche das Einzelwesen gefangen hält, damit ihm für's ganze Leben die Lehre im Gedächtniß bleibe, daß das menschliche Streben an geschichtlichen Vorbedingungen hängt, über die keiner hinaus kann und auf welche er, als auf etwas gegebenes, weiterbauen muß. Wollt ihr, daß der Mensch, aller historischen Voraussetzungen bar, bloß nach den todten, allgemeinen Grundsätzen des abstrakten Rechtes und der Billigkeit zum Erringen seiner Ziele Vollmacht habe, dann zertrümmert erst die historische Fessel der Geburt – wenn ihr könnt. Der Arbeiter kämpft nicht gegen die Herrschaft des Kapitals, er kämpft gegen die Herrschaft des Erbrechts, also abermals gegen die eherne Schranke der Geburt. »Vom Rechte, das mit uns geboren ist,« will der Despot des historischen Rechtes nichts wissen, vom Elend, das mit uns geboren ist, weiß der Despot des philosophischen Rechtes nichts. Dieses Elend kann uns vielleicht im Kittel des Arbeiters, es kann uns aber ebenso gut unter einer Grafenkrone mitgegeben seyn.

Der vierte Stand steigt in Deutschland hoch hinauf. Es gibt deutsche Prinzen und Prinzessinnen, welche ein Jahreseinkommen von ein paar tausend Gulden besitzen, und die mit ihren meisten Bedürfnissen auf die Gnade und den Beutel ihres regierenden Vaters oder Bruders angewiesen sind, dessen Einkünfte selber vielleicht wiederum bloß in einer knapp zugeschnittenen Civilliste bestehen. Würden solche fürstlichen Personen sich unter einander verheirathen und neue, weiter auseinander gehende Familienzweige begründen, so käme zu der bereits vorhandenen Candidatur des vierten Standes im zweiten, dritten Glied bereits der leibhaftige vierte Stand. Denn in den Bürgerstand eintreten und die Rente, vor welche mit jedem neuen Sprößling ein weiterer Divisor gesetzt würde, durch einen bürgerlichen Erwerb wieder steigern, könnten und würden diese armen Leute nicht. Das Bedürfniß würde fürstlich bleiben, das Einkommen immer bürgerlicher werden. Solche Prinzen werden sich mit Fug und Recht nicht einmal verheirathen wollen und sollen. Ein Tagelöhner aber, dem man das Heirathen untersagen möchte, muß schon sehr arm und hülflos seyn. Indem den fürstlichen Familien der große Grundbesitz mehr und mehr abhanden kommt, wird ihnen zugleich das einzige Mittel entzogen, ihr Vermögen zu mehren und für eine ausgebreitetere Nachkommenschaft zusammenzuhalten. Die Domänenfrage, über welche man hier und dort so heftig gestritten, ist nicht bloß eine staatswirthschaftliche, sie schließt zugleich die Frage in sich, ob die weitere Descendenz des Fürsten dem vierten Stande verfallen oder in den Reihen der Aristokratie bleiben solle. Ein kleiner Fürst ohne Privatbesitz wird durch seine Civilliste mit der Zeit zur Abdankung gezwungen werden; eine Civilliste ohne erhebliche landesherrliche Domänen ist das natürliche Gegengift wider den dynastischen Partikularismus. Wer mag seinen Kindern und Kindeskindern ein so unsicheres Brod wie eine moderne Prinzenapanage in Aussicht stellen! Der constitutionelle Staat hat den nachgeborenen Prinzen, namentlich in den kleineren und kleinsten Ländern, nicht nur die Grundlage einer festen aristokratischen Existenz entzogen, sondern ihnen meist auch die Möglichkeit irgend eines Berufes abgeschnitten. Denn rechnen wir den Kriegsdienst ab, so fällt jede andere praktische Thätigkeit, der in alten Zeiten ein Prinz mochte obgelegen haben, jetzt den verantwortlichen Ministern zu. Ein nachgeborener Prinz ist in der Regel gezwungen, berufslos zu bleiben gleich dem bedenklichsten Theile der Proletarier, und wenn auch er noch so eifrig musicirt, malt, dichtet oder den Wissenschaften obliegt, so wird er doch niemals ein rechtschaffener Musikant, Maler, Dichter, Gelehrter, ja nicht einmal ein Literat von Fach; man wird seine Thätigkeit eine »Passion« nennen, keinen »Beruf,« und wo er etwas angreift, bleibt er sein Lebtag zum Dilettanten verurtheilt. Die Begeisterung aber für einen festen, praktischen Beruf allein kann den strebenden Menschen in sich befriedigen. Diese Befriedigung erzeugt den ächt conservativen Geist; sie ist den nachgeborenen Prinzen versagt, wie einem großen Theile der Proletarier. So ragt die Candidatur zum vierten Stande überall auch in die höchste Schicht der Gesellschaft. Nicht als ob dort das wirkliche Proletariat schon eingebrochen sey, aber die Vorbedingungen desselben kündigten sich bereits an: der Geist des vierten Standes, der durch die ganze moderne Welt geht, hat auch die Thür zu den Königsschlössern gefunden, auch zu den Fürstensöhnen ist das Mißbehagen im eigenen Stande, die Berufslosigkeit und Zerfahrenheit, der Zwiespalt zwischen der äußeren Existenz und der gesellschaftlichen Stellung durchgedrungen, und wenn just die Prinzen auch nicht den Kampf gegen die historische Gesellschaft beginnen werden, so legen sie doch Zeugniß ab von der Gewalt der alles umstrickenden Idee des vierten Standes.

Die früheren Erwerbsquellen der hohen und niederen Aristokratie sind mehr als zur Hälfte vertrocknet. Die Bedürfnisse haben sich verdoppelt. Der Eintritt in den geistlichen Stand sicherte vordem Tausenden von Adeligen ein standesmäßiges Leben. Sie trachteten nicht bloß, wie das heutzutage in katholischen Ländern freilich auch noch der Fall ist, die obersten Würdenträger der Kirche zu werden, sondern griffen im Mittelalter auch zu der wirklichen geistlichen Arbeit in Klöstern und an kleinen Pfarreien. In dem rheingauischen Dorfe Lorch war noch im sechzehnten Jahrhundert ein Pfalzgraf und Herzog – Georg von Bayern – Pfarrer. Eine solche Dorfpfarre würde jetzt selbst dem neuesten Baron zu gering seyn. Von der ehrenvollen Ausnahme, welche hier immer noch einzelne Adelsgruppen machen, habe ich oben bereits geredet. Das eben ist der Fluch der nobeln Faullenzerei, der sich der Adel im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in den zahllosen, damals neu geschaffenen Hofämtern und Sinecuren aller Art hingab, daß fast alle Berufsarbeit, welche früher noch innerhalb der Grenzen der Aristokratie stand, jetzt aus denselben herausgetreten ist. So lange ein Baron des Mittelalters noch ein Brevier lesen oder einen Degen führen konnte, gab es für ihn kein Proletariat. Walther von Habenichts war auch ein armer Teufel, er führte die Proletarier nach dem gelobten Land und ließ sie von den Türken todtschlagen, aber er selber war darum noch lange kein Proletarier. Die Ritter, welche vom Stegreif lebten und wegelagerten, wußten wenigstens, was sie thun und treiben sollten, um zu leben, und das weiß das moderne Adelsproletariat eben nicht. Der Bauer, den jene bestohlen und geschunden, erkannte noch immer das Aristokratische ihres Berufes an, denn in seinem Glauben sausten seine Quälgeister nach ihrem Tode doch wiederum als feurige Ritter durch die Flur, und die Hölle selbst mußte also Respekt vor ihrem Rang und Wappen gehabt haben. Beim Adel des Mittelalters war der adelige Beruf an den Besitz gebunden, und doch hing er andererseits auch wieder bei weitem nicht in dem Grade vom Besitz ab, wie bei der modernen Aristokratie. Der alte Ritter verpfändete Burg und Hof und Wamms und Tressen dazu und blieb doch ein Ritter, wenn dagegen der moderne Baron seinen Mantel aufs Pfandhaus trägt, so ist damit seine aristokratische Stellung jedenfalls sehr zweifelhaft geworden.

Das aristokratische Proletariat ließ sich seit langer Zeit am besten in den deutschen Kleinstaaten beobachten. Dort drängte es sich aus aller Welt Enden zusammen, um Hofämter und Officierstellen zu erhalten. Auch die kleinsten Höfe wollten sich mit dem Glanze alter Namen umgeben. Ein eigentlicher Landesadel war oft nicht mehr vorhanden, die weiland reichsunmittelbaren Familien blickten mit dem ganzen Groll der Mediatisirten auf ihre ehemaligen Collegen, die so glücklich waren, ihre Souveränetät zu retten, und würden sich's nie und nimmer verziehen haben, bei denselben Hof- und Militärdienste anzunehmen. Wie die Bureaukratie alle Schleußen aufzog, damit das bürgerliche und bäuerliche Proletariat in's Land einströme, und durch die Erhöhung der Bevölkerungsziffer den Schein des Staatswohlstandes erhöhe, so wurde von den Höfen die ganze Fluth des adeligen Proletariats in diese kleinen Ländchen geleitet. Aber diese Versorgung eines armen Barons, dessen Güter, wie die Bauerngüter zu Zeiten des armen Konrad, auf der Fehlhalde und dem Hungerberg, am Bettelrain und zu Nirgendsheim lagen, mit einer Lieutenants- oder Kammerjunkersstelle führte eigentlich nur wieder zu einer neuen Sorte von Proletariat, die auf das vorhandene gepfropft wurde. Denn das militärische Proletariat, wie es in den Tagen der Landsknechte Deutschland in Schrecken setzte, ist von den Gemeinen zu den Officieren avancirt, und fängt jetzt bei den Cadetten, Fähndrichs und Lieutenants an, wie vordem bei den Troßbuben und Stallknechten. Bekanntlich sind unsere niederen Officiersgagen darauf berechnet, daß der Inhaber der Stelle etwas eigenes Vermögen mitbringe, aus welchem er zusetzen könne. Die meisten Militärverfassungen sprachen es selber aus, daß diese Stellen proletarisch dotirt seyen, indem sie nur Söhne der vermögenderen Classen in die Cadettenschulen zuließen, und die niederen Officiere, außer gegen Hinterlegung einer hohen Caution, zum Cölibat verurtheilen. Ein Bürgerlicher schlägt sich noch am ersten durch in diesem Officiersproletariat, da ihm Entsagen und Arbeiten von Haus aus näher liegt. Statt dessen nun besetzte man in den kleinen Ländchen solche Stellen fast durchgehend mit den von nah und fern herzugerufenen verkommenen und verdorbenen Adeligen. Diese kamen in einen Beruf und fanden doch keinen. Da sie nicht wegen ihrer Kriegstüchtigkeit, sondern wegen ihres Namens herbeigezogen worden waren, so lag ihnen gemeiniglich die Kriegswissenschaft zu hoch, die Gamaschenknöpferei aber zu niedrig. So recht bequem lag dagegen das Wirthshaus. Sie glaubten eine Existenz gefunden zu haben, und hatten doch keine, da schon der »Standesaufwand« allein, den man von ihnen forderte, die schwindsüchtige Gage überstieg. Proletarier im Besitz, Aristokraten im Genuß, sind diese Officiere bereits wirkliche Mitglieder des vierten Standes. Mit grenzenloser Frivolität nahm man seitens der obersten Militärbehörde in der Regel die Sache hin, wie sie eben war, und stellte wohl gar »halbofficiell« die Behauptung auf, ein Lieutenant, der keine Schulden mache, sey ein schlechter Officier. Dies ist das Widerspiel zu jener würdigen »aristokratischen Depense,« von welcher ich oben redete.

Nicht wenige Glieder des Officiersproletariats haben wir wiedergefunden in den Insurgentenheeren der Jahre 1848 und 1849. Der Schritt von dem geheimen Zerfallenseyn mit der Gesellschaft zum offenen Kampf gegen dieselbe war diesen Männern wahrlich weit leichter gemacht als den verführten Handarbeitern und Taglöhnern, die unter ihrem Commando fochten. Der Kasernendienst mit ein paar hundert Gulden Gage ist freilich noch ebenso gut eine Zufluchtsstätte für den heruntergekommenen Adel, wie es das ritterliche Kriegshandwerk für den in der Erbschaft todtgetheilten Junker des Mittelalters war. Aber es ist dies eine Zufluchtsstätte, die in andern Formen uns allen offen steht – die Zufluchtsstätte des vierten Standes. Viele mittellose adelige Subalternofficiere haben das empfunden und sind in den Friedensjahren nach Amerika gegangen, wo sie das wenigstens ganz seyn können, was sie hier seyn müssen und doch zu seyn nicht scheinen dürfen – Proletarier. Noch mehr, ein heruntergekommener Edelmann kann in Amerika sogar Bürger oder Bauer werden, er kann dort die Last seines Namens, seiner Geburt, seiner Geschichte von sich werfen, und es bleibt ihm noch ein Drittes übrig neben der Wahl, ein vornehmer Herr oder ein Lump zu seyn.

Indem die kleinen Fürsten das aristokratische Proletariat hegten und sein Wachsthum förderten, haben sie zugleich die ganze sociale Stellung der Aristokratie verrückt. Nur durch festes Zusammenziehen des ganzen Standes kann man die conservative Macht der Aristokratie erhöhen. Sie ist nur in ihrer Beschränkung stark und in diesem Betracht das gerade Widerspiel des vierten Standes, der in seinem riesigen Wachsthum nach außen, in seiner Corpulenz so erstaunlich sich kräftigt. Man kann ein Wortspiel daraus machen und sagen, der vierte Stand würde dann erst eigentlich ein »Stand« werden, wenn es aufhört, »Stände« zu geben. Wenn Karl Vogt in der Paulskirche den Antrag stellte, man möge, um den Adel aufzuheben, nur jedwedem freigeben, den Adelstitel anzunehmen, so könnte man glauben, er habe den kleinen Höfen das Verfahren abgelauscht, wie man die Aristokratie am besten um den Credit bringt. Die Bevorzugung des aristokratischen Proletariats – nicht der Aristokratie – ist es, was vorzugsweise den Groll aller andern Stände gegen den Adel erzeugt hat. In Marburg hatten die adeligen Studenten bis vor kurzem – vielleicht auch noch – nur ein einziges Vorrecht, nämlich – doppelte Immatrikulationsgebühren bezahlen zu müssen. Ein solches Privileg ist jedenfalls der Aristokratie am förderlichsten. Ich deutete schon in dem Abschnitte von der Aristokratie an, wie oft gerade der gediegene, conservative Bürger, der nichts weniger als Staat und Gesellschaft umstürzen will, einen gründlichen Haß auf den Adel geworfen hat. Diese Stimmung, welche mit dem ganzen übrigen socialen Charakter jener Bürger in Widerspruch steht, ist hervorgerufen durch das aristokratische Proletariat, die Feindseligkeit gegen dieses überträgt sich unbewußt auf die ganze Aristokratie. Es muß den Zorn des ehrenfesten Bürgers herausfordern, wenn er sieht, wie etwa der hergelaufene proletarische Hofcavalier in nobler Verschwendung sich anläßt, als seyen ihm die Thaler in Scheffeln zugemessen, indeß er Brod und Fleisch auf jahrelangen Borg nimmt; es muß sein sittliches Gefühl empören, wenn er bemerkt, wie der proletarische Baron aus dem achtzehnten Jahrhundert nicht bloß die Tradition der adeligen Berufslosigkeit und Sinecurenjägerei überkommen hat, sondern wie er dazu auch an der weitherzigen Moral der höhern Stände aus jener verderbten Zeit mit dem Conservatismus der Lüderlichkeit festhält, und wie der zerfahrene militärische Müßiggänger alten Namens, aber nicht alter Ehrenfestigkeit, den schleichenden Betrug an einem armen Handwerker durch Schuldenmacherei für einen Zug vornehmen Wesens hält. Es reizt den Spott des Bürgers und Bauern, der in seinem reichlichen Erwerb sich behaglich fühlt, wenn er auf den erwerblosen Adeligen blickt, der auf silberner Schüssel täglich Kartoffeln mit Salz ißt.

Der trefflich gezeichnete arme Baron in Immermanns Münchhausen spekulirt auf die Fabrikation von Luftsteinen, indeß die wirklichen Steine seines Rittersitzes an allen Ecken auseinanderbersten. Aber der Leser wird sich erinnern, daß dieser Immermann'sche Baron keineswegs unsere sittliche Entrüstung herausfordert, im Gegentheil, sein harmloses Wesen erregt in uns ein Gemisch von Heiterkeit und Mitleid. Dieser Baron ist aber auch kein Proletarier, er ist nur ein armer Teufel, er bleibt dabei ein ächter Aristokrat; in dem Maße, als seine Besitzthümer mehr und mehr dem Reiche der Phantasie anheimfallen, treten auch seine Bedürfnisse und Ansprüche mehr und mehr in das Reich der Phantasie hinüber; in seinen Überlieferungen, in seiner Gedankenwelt, in seinen Sitten, in seinen Grillen hat er die genauesten Grenzmarken seines Berufes und Standes gefunden, und er fühlt sich über die Maßen behaglich innerhalb derselben; die Pfeiler seines baufälligen Hauses wanken unter seinen Füßen, aber die Pfeiler seiner socialen Existenz stehen ihm, in seiner Einbildung, fest wie die ewigen Berge.

Dieses Bild bezeichnet uns nicht bloß eine einzelne Figur, es schildert eine ganze Gattung. Der heruntergekommene grundbesitzende Adel wird höchst selten dem vierten Stand verfallen, er wird darbend und entsagend an dem Schattenbilde seiner gesellschaftlichen Stellung und an der überlieferten Sitte festhalten und nicht, wie mehrentheils der proletarische Hof- und Militäradel, dieselbe in Unsitte verkehren, er wird allenfalls den Humor herausfordern, gemischt mit einer Rührung des Mitleids, aber nicht den Haß und Groll der übrigen Stände. Er ist dem ordentlichen Bürger und Bauern nur ein verblaßtes Abbild der vollgültigen Aristokratie, vor deren geschichtlichem Charakter, vor deren Beruf als der selbständigsten und bewußtesten Hüterin des erhaltenden Princips im Staate, als betraut mit den Interessen des großen Grundbesitzes, der großen Industrie, des massenhaften Kapitals, der Mann des kleinern Gewerbs und des kleinern Ackerbaues immer Respekt gehabt hat. Aber gerade darum ist ihm das aristokratische Proletariat in tiefster Seele verhaßt, denn hier tritt ihm die Bevorzugung eines Standes entgegen, der kein Stand, kein Beruf mehr ist, nur noch eine alte Formel, ohne allen Kern, und weil das aristokratische Proletariat leider zahlreicher geworden ist als die Aristokratie selber, so kommt er leicht dazu, beides untereinander zu mengen.

Als die hessischen Bauern im März 1848 die Standesherren im Vogelsberg so hart bedrängten und ihre Besitzungen plünderten, konnten Viele diese Wuth der Bauern nicht begreifen, welche sich plötzlich gegen Leute richtete, von denen die ganze Gegend schon lange weit mehr Vortheil gezogen, als die unbedeutenden besondern Lasten der standesherrlichen Bezirke ausmachten. Die Feindseligkeit der Bauern zielte aber gar nicht auf die Standesherren als solche, sie zielte auf die Bevorzugung des aristokratischen Proletariats, welche ihnen gleichbedeutend geworden war mit dem Begriff der Aristokratie überhaupt und ihren Vorrechten. Die Herren auf dem Lande erhielten den Streich und den Herren in der Stadt galt er. Man sieht daraus, daß es ein Akt der Selbsterhaltung für die Aristokratie ist, den in der rauhen Luft dieser Zeit immer reichlicher abwitternden Theilen ihres Standes den Uebertritt in die Bürgerschaft und das Ergreifen einer bürgerlichen Hantierung zu vermitteln, und nicht durch Ansprüche und Zugeständnisse ohne Sinn und Verstand die verdorbenen Aristokraten für die Reihen des vierten Standes systematisch zu pressen.

Mit Dekreten kann man auch hier nicht einschreiten. Nun es einmal zur Sitte geworden, daß auch der nachgeborene Sohn den Adelstitel führe, läßt sich das nicht flugs auf dem Wege der Gesetzgebung abschaffen, denn die Sitte ist gewaltiger als das Gesetz. Aber der Adel selber muß dazuthun, wie ich schon oben angezeigt, statt verkehrter Sitte rechte Sitte herauszubilden. Und wohl können auch die Höfe und Ministerien dahin wirken, daß die Bevorzugung des aristokratischen Proletariats aufhöre, welche dem Bürger ein Ärgerniß ist, dem Adel ein Ruin. Wenn die künstlichen Hegestätten des aristokratischen Proletariats, wie wir sie namentlich in den kleinen Ländchen beobachten, allmählig eingehen, dann wird es auch der verdorbene Baron nachgerade klüger finden, in die neue Welt zu wandern, oder in der alten einer nährenden Thätigkeit sich zu widmen, als berufslos von eines kahlen Namens hungrigen Renten zu zehren. Der Haß des Bürgers gegen den Adel wird mit dem aristokratischen Proletariat von selber schwinden, und die ganze gesellschaftliche Stellung der Aristokratie eine würdigere und einflußreichere werden. Oder sollte dies gerade das dämonische Schicksal des Adels seyn, daß ihm nur die Wahl gelassen bleibe zwischen des Besitzes Fülle und dem Bettelstab?


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