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Viertes Kapitel.

Die Proletarier der materiellen Arbeit.

Das Geistesproletariat ist bis jetzt in Deutschland der eigentliche Grundstock des vierten Standes, es ist in socialem Betracht das Stammproletariat, das Arbeiterproletariat hingegen das abgeleitete. Der deutsche Arbeiter, auch der untersten Stufe, hat lange gekämpft und an den letzten Resten ächt bürgerlichen Herkommens festgehalten, bis er dem Geiste des vierten Standes Eingang gab. Die socialen Lehrsätze des vierten Standes sind in Deutschland nicht unter den Arbeitern selber weitergebildet oder gar ausgebrütet worden, sie wurden ihnen von außen her beigebracht, namentlich durch die französischen Leidensgenossen.

Aber merkwürdig genug nahm der deutsche Arbeiter, so wie er sein Vaterland verließ, überaus rasch den socialen Charakter des fremdländischen Proletariers an. Ja er steigerte denselben noch. Die proletarische Entartung unter den eingewanderten deutschen Arbeitern in Paris soll tiefer gefressen haben als bei den eingeborenen Pariser Genossen. Ueberhaupt muß man ins Ausland gehen, um das deutsche Proletariat der materiellen Arbeit von seiner dunkelsten Schattenseite kennen zu lernen. Auch die literarische deutsche Emigration in Paris, London und der Schweiz gestattet oft tiefere Blicke in die schaurigen Mysterien des deutschen Geistesproletariates, als der Originalstamm ihrer Leidensgenossen in Deutschland selber. Die Auswanderung ganzer Massen verkommener Leute nach außerdeutschen europäischen Hauptstädten wirkt gar traurig auf die Heimath zurück. Diese Verstoßenen sind die Dolmetscher, welche die Irrlehren der auswärtigen Social-Demokraten dem gemeinen Manne in Deutschland erst verdeutscht haben. Nicht bloß aus Paris, London und der Schweiz, auch aus Petersburg und Konstantinopel, aus Polen und den Donaufürstenthümern tönen die Klagen über die sociale Auflösung, welche diese deutschen Emigranten des vierten Standes überall rasch in sich aufnehmen, steigern und fortpflanzen, und wenn der Engländer die Schmach des deutschen Namens bildlich darstellen will, dann zeichnet er ein hessisches Besenmädchen.

Das Geistesproletariat hat, ich wiederhole es, bei uns den ersten Schritt zur Entwicklung des »vierten Standes« gethan, der Arbeiter folgt bloß nach. Eine allgemeine Charakterfigur des deutschen Arbeiters, wie etwa des französischen Ouvriers, existirt nicht, dagegen wohl eine Charakterfigur des deutschen Geistesproletariers. Der deutsche »Arbeiter« ist nur ein übersetzter »Ouvrier.« Man hat mit Recht den allgemeinsten Ausdruck – Arbeiter gewählt, denn wir haben noch gar keine fest gezeichnete Persönlichkeit des Proletariers der materiellen Arbeit. Er ist noch in eine unendliche Menge von Sondercharakteren zersplittert; die Zersplitterung unserer Industrie schon in geographischer Hinsicht bringt das mit sich. Man hat vor einigen Jahren Arbeitervereine (z. B. in Köln) zu gründen versucht, zu dem Zwecke, ein sociales Gemeinbewußtseyn des deutschen Arbeiterproletariats herzustellen. Die Sache mußte scheitern, weil alle äußern Vermittelungspunkte eines solchen Gemeinbewußtseyns noch fehlen. Nur bei einzelnen Gruppen des Arbeiterstandes gelang etwas dergleichen, wie hei den Schriftsetzern und Buchdruckergehülfen. Aus dem zähen Widerstande, welchen diese social wie gewerblich durch ganz Deutschland organisirte Genossenschaft den Arbeitgebern in Berlin, Leipzig und anderwärts entgegensetzte, kann man einen Schluß ziehen auf die ungeheure Macht, welche dem gesammten Arbeiterproletariat zufallen würde, sofern es sich in ähnlicher Weise zu einem socialen Gemeinbewußtseyn erheben könnte. Darin beruht eben großentheils die vorwiegende Macht des Geistesproletariats, daß es durch das wunderbare elektrische Telegraphennetz des literatischen Verkehrs ein stetes Gemeinbewußtseyn frisch erhält.

Die Erschütterungen des Jahres 1848 wären in Frankreich von Anbeginn socialer Natur, in Deutschland erhielten sie erst allmählich diesen Charakter. Das Gemeinbewußtseyn des Arbeiterproletariats fehlte, die Arbeiter konnten erst nach und nach im Verlaufe der Revolution reif gemacht werden für den socialen Umsturz. Aber obgleich nun auch aller Orten der Arbeiter nachzudenken begann über das Verhältnis »der Arbeit zum Capital,« obgleich der Communismus überall verkommene Leute bestrickte, so konnte doch ein Gemeinbewußtseyn dieser »Errungenschaften« nicht hergestellt werden. Der französische Ouvrier ward sich vollkommen klar darüber, was er wenigstens mit seiner gesellschaftlichen Theorie will, wenn er auch nicht begreift, was diese Theorie selber will; dem deutschen Arbeiter erscheinen die Verheißungen der socialen Reform wie Zauberbilder, die formlos in mystischem Helldunkel schweben. Er opfert dem Idol der gesellschaftlichen Reform, und müßte doch auf den Altar schreiben wie weiland die Männer von Athen: dem unbekannten Gott!

Darum kann man wohl sagen, die deutschen Lohnarbeiter wurden berührt, nicht aber erfüllt vom Geiste des vierten Standes.

Das lehrreichste Uebergangsgebilde von dem gewerbtreibenden Bürger zum Arbeiterproletariat ist uns in den wandernden Handwerksburschen gegeben. Nicht als ob alle wandernden Handwerksburschen Proletarier oder gar Glieder des vierten Standes wären. Im Gegentheil, es ist einer der größten polizeistaatlichen Schnitzer, wenn man sie vorweg dafür ansieht. Von dem Augenblicke an, wo man ein Recht hätte, die wandernden Handwerksburschen schlechtweg in den vierten Stand zu verweisen, wäre der vollkommene Ruin des deutschen Gewerbestandes besiegelt. Wurde doch im Jahre 1846 von einem norddeutschen Staate ein Antrag auf Paßfreiheit innerhalb des Bundesgebietes gestellt, wobei man unterschieden haben wollte zwischen bescholtenen und unbescholtenen Personen. Zu den »unbescholtenen und sichern,« denen das Ehrenrecht eines Generalpasses zu ertheilen sey, sollten die Beamten, die durch Stand und Verhältnisse Ausgezeichneten, die fest Ansässigen, wegen entehrender Verbrechen nicht Bestraften gezählt werden. Dagegen zu den »Unsichern« (also muthmaßlich Bescholtenen!) die Handwerksbursche, das Gesinde, die gemeinen Soldaten! Dieser Urpolizeigedanke, wäre er in solcher Formlosigkeit ausgeführt worden, würde die Handwerksbursche in der That zu dem gemacht haben, was sie bis jetzt nur in der Minderheit sind, zu Gliedern des vierten Standes. Es gemahnt jener Polizeigedanke an eine abscheuliche Redewendung, die im Deutschen trivial geworden ist, und die man häufig am Eingang schlecht geschriebener Biographien findet, wenn es heißt: »Er war von armen, aber ehrlichen Eltern geboren« u.s.w. – als ob die Armuth selbstverständlich auf Spitzbuberei schließen lasse!

Das Handwerkerproletariat findet sich viel mehr beiden kleinen Meistern als bei den Handwerksburschen, und ist von jenen erst auf diese übertragen worden. Und unter den Handwerksburschen sind wiederum nicht diejenigen die eigentlichen Candidaten des vierten Standes, welche barfuß mit dem Ranzen auf dem Rücken durch die Welt laufen, und auf welche jeder Thorschreiber und Polizeidiener ein besonderes Anrecht der Amtsautorität zu haben glaubt, sondern jene vornehmthuerische Classe, welche nicht mehr »auf die Wanderschaft geht,« sondern »zu ihrer Ausbildung reist,« welche sich schämt, der Genossenschaft der Wanderburschen anzugehören, über ihren Stand hinaus will und daher jedem socialen Agitator eine gefundene Beute ist.

Solange der Handwerksbursche noch nicht vornehm geworden ist, solange er noch »fechten« kann, ist er nicht reif zum modernen Proletarier. Denn gerade dadurch, daß er über seine Armuth nicht ergrimmt, nicht philosophirt, sondern das Betteln selbst in den ritterlichen, burschikosen Begriff des »Fechtens« aufgehen läßt, stellt er sich ganz auf den Standpunkt der armen Leute der ältern Zeit, die auch nicht zähneknirschend bettelten, wie unser Proletariat. Das Almosen erschien als stiftungsmäßige Pflicht der Klöster, als religiöse und moralische Schuldigkeit des begüterten Einzelnen, es war kein erniedrigender Act persönlicher Gnade. Nur der wandernde Comödiant und der Handwerksbursche schmeckt das unaussprechlich Niederdrückende des Bettelns noch nicht, beide betteln allein noch mit Humor. Und selbst der mittelalterliche Gedanke einer gleichsam stiftungsmäßigen Pflicht zum Almosengeben an die Wanderburschen hat sich nicht nur in den Zehrpfennigen erhalten, welche viele Stadtkassen nach hundertjährigem Brauch immer noch auswerfen, nicht bloß in allerlei Unterstützungskassen der Zünfte und Meister, sondern auch in der Sittenregel, welche in dem Bürgerstande vom Vater auf den Sohn forterbt, daß man jedem Straßenbettler die Gabe immerhin versagen möge, nur dem Handwerksburschen nicht. In den Handwerksburschenliedern finden wir tausend humoristische Bezeichnungen für den Zustand des Burschen, dem »das Moos« ausgegangen ist, aber kaum je eine bittere Klage oder gar einen Racheschrei. Wer über sein Elend noch scherzt, der ist kein ächter moderner Proletarier. Wie fürchterlich steht diesem Humor der stille Groll des hungernden Fabrikarbeiters gegenüber!

Der Handwerksbursche dagegen, welcher »zu seiner Ausbildung reist,« welcher zu vornehm geworden ist zum »Fechten,« wird, wo ihn das Elend trifft, alsbald auch dem wirklichen Proletariat verfallen. Er schämt sich der Sitte seines Standes, er schämt sich seiner Berufsgenossen, also auch insgeheim seines Berufes selber, sein Ehrgeiz zielt dahin, mit einer höhern bürgerlichen Stellung zu prahlen, als ihm gebührt, er fährt in einen Gasthof und ist eben darum ein Candidat des vierten Standes, und der Wanderbursche, welcher vielleicht barfuß in die Gesellenherberge einzieht, ist ein Candidat des soliden Bürgerthums. Diese Gesellenherbergen sind von jeher ganz besonders geeignet gewesen, den Stolz und den Gemeingeist des Gewerbestandes zu heben und die Wanderburschen vor proletarischer Zerfahrenheit zu bewahren. Schon auf dem Schilde prangten die Wahrzeichen des Gewerbes, und von der Decke des Zimmers hing meist ein kunstreiches altes Meisterstück herab, die geschichtliche Erinnerung an frühere Handwerkstüchtigkeit fortpflanzend. Der Wirth war selber ein halber Handwerksmann. Er war mindestens eine eben so gute Quelle für alle ins Fach einschlagenden Nachfragen wie ein modernes Commissionsbureau. Gesellen aus aller Herren Ländern trafen da zusammen und einer hörte vom andern etwas gutes und nützliches. Man zechte auch miteinander und fühlte sich stolz in dieser Genossenschaft. Was würde wohl ein Student dazu sagen, wenn man ihm zumuthete, daß er, statt in die erste beste Burschenkneipe zu gehen, in einem »Gasthofe« kneipen solle!

Vor längeren Jahren kam ein reicher Pariser Schneidergesell »zu seiner Ausbildung« nach Frankfurt a. M., wo, wenigstens damals, noch viele der alten Zunftvorschriften mit Strenge aufrecht erhalten wurden, und stieg in einem der ersten Gasthöfe ab. Als er nachgehends als arbeitsuchender Geselle sich einschreiben ließ, wurde ihm bedeutet, daß er nach der Zunftordnung in der Schneidergesellenherberge seinen Aufenthalt zu nehmen habe. Der feine Mann aber aus dem Heimathlande der souveränen Taglöhner und der socialen Schwindelei war so entrüstet über diese deutsch-mittelalterliche Anmuthung, daß er sofort wieder nach Paris zurückfuhr. Er mag seinen vaterländischen Schneidern ein schönes Bild von der deutschen Barbarei entworfen haben. Solches hätte aber neben dem Franzosen nur dem vornehmen deutschen Handwerksburschen-Proletariat begegnen können, denn ein wirklicher Handwerksbursche wäre viel zu stolz gewesen, an der Herberge vorbeizuziehen, die seines Gewerbes Zeichen trägt, und hätte sich geschämt, mit fremden Leuten zu tafeln, wo er mit seines Berufes Genossen an einem Tische hätte sitzen können.

Ich habe vielfach die Gelegenheit wahrgenommen, die Gesellenherbergen in verschiedenen deutschen Staaten durch eigene Anschauung kennen zu lernen und das Treiben in denselben zu beobachten. Ich fand, daß z. B. in Oberdeutschland, wo sich noch viele Reste der alten Genossenschaftssitten beim Gewerbe erhalten haben, diese Herbergen nicht selten noch mit all den unschätzbaren Vorzügen ausgestattet sind, die ich oben von jenen der älteren Zeit rühmte, während in den Staaten des mittleren Westdeutschlands, wo oft jede Art von Gewerbeorganisation seit Menschenaltern zertrümmert lag, diese Gesellenherbergen in den kleinen Landstädten vielfach eher Gaunerherbergen genannt zu werden verdienen, und als wahre Hochschulen für das nichtsnutzigste Handwerksburschenproletariat erscheinen. Der am meisten heruntergekommene Wirth im Orte ist immer noch zum Herbergsvater gut genug. In seinem Hause nehmen dann versoffene Orgelleute, lüderliche Harfendirnen und ähnliches fahrendes Gesindel aller Art den Handwerksburschen in Empfang, und daß dieser in solcher Atmosphäre nicht eben gerade zu Zucht und Ehre des Bürgerthums vorgebildet wird, ist wohl einleuchtend. Auch von der Reinlichkeit, Billigkeit, wirthschaftlichen Ordnung und Gediegenheit, welche viele der alten oberdeutschen Gesellenherbergen immer noch auszeichnet, ist da wenig zu verspüren. Wenn es der Polizei ja so sehr auf der Seele brennt, sich der Handwerksburschen ganz besonders anzunehmen, dann kann sie das nicht besser thun, als indem sie diese Schlupfwinkel des Vagabundenthums säubert und wirksame Mittel ergreift zur Wiederherstellung der gediegenen Herbergen des alten Styls. Früher fiel freilich ein solches Geschäft der Polizei nicht zu, sondern die Zünfte sorgten dafür, daß ihre Herbergen gediegen waren. Und so sollte es von Rechtswegen auch heute noch seyn.

Zu dem proletarischen Hochmuth, welcher die Scheidelinie gezogen hat zwischen dem »reisenden Handwerksbeflissenen« und dem Wanderburschen, fügt sich meist der gleich verderbliche Dünkel, daß ein solcher Gesell nicht mehr in der Familie des jeweiligen Meisters leben will. Leider ist freilich das Familienleben vieler unserer kleinern Handwerksmeister oft schon der Art heruntergekommen, daß der Geselle nur noch auf dem Umwege des schlechten Beispiels Zucht und Sitte lernen könnte. Aber darin liegt ja gerade der große Vorzug des Handwerksburschen, der selber noch um seine Existenz ringt, vor dem proletarischen Fabrikarbeiter, der sich äußerlich in ganz gleicher Lage befindet, daß jener von Familie zu Familie wandert und solchergestalt immer das anschaulichste Musterbild eines im Kleinen wohlgegliederten Daseyns vor Augen hat, während der Fabrikproletarier in der Genossenschaft seiner Mitproletarier sich in der Regel vereinsamt fühlt. Und weil ihm das Leben in der naturgemäßen Beschränkung der Familie verwehrt ist, wie es ihm meist auch immer verwehrt bleibt sich selber eine Familie zu gründen, so verfällt er in krankhaftem Drange um so leichter auf das Phantasiegebilde einer communistischen Familie der Menschheit. Das Leben in der Familie ist das beste Schutzmittel vor allen socialen Verirrungen, und wenn diese jetzt so übermächtig allwärts emporwuchern, so ist dies das sicherste Zeichen, daß das Heiligthum des Hauses gar vielfach zertrümmert seyn muß. Wenn Owen in seiner Musterfabrik zu Neu-Lanark die Genossenschaft seiner Fabrikarbeiter auf eine Höhe des Selbstgefühls, der Zufriedenheit und Tüchtigkeit erhob, wie wir das sonst nur im gediegensten Handwerkerstande zu finden gewohnt sind, so erzielte er ein solches Resultat doch hauptsächlich nur dadurch, daß er die ganze Arbeitergenossenschaft in eine große Familie verwandelte, aber nicht in eine communistische, sondern in eine patriarchalische Familie, in welcher der Fabrikherr fast ganz die Rolle der alten Handwerksmeister spielte. Es war ein wohlthätiger Zwang, es war die Macht der Persönlichkeit des Meisters, also das genaue Widerspiel zu dem abstrakten Socialismus, wodurch der in seinem gemüthlichen Wesen dem Deutschen verwandte Owen die anfangs widerstrebenden Fabrikarbeiter in die Bindung einer großen Familie einführte. Und bekanntlich wurden nicht nur die Fabrikarbeiter veredelt und ihre materielle Wohlfahrt im Einzelnen erhöht, sondern auch der kaufmännische Gewinn des Unternehmens wies sich in ganz andern Ergebnissen aus, als wir sie bei den Schauspielertruppen zu Tage kommen sehen, wenn dieselben als communistische Familie auf Theilung spielen. Bedeutende Staatsmänner erkannten zur Zeit der Owen'schen Musterfabrik, wo eben die erste große Angst über den Dämon des Fabrikproletariats das ganze Geschlecht zu schütteln begann, das Praktische in dem Beginnen dieses Mannes an, und es ist ein wahres Unglück, daß derselbe durch die socialistischen Schwärmereien und unpraktischen Versuche seines späteren Lebens die großen Lehren von Neu-Lanark selbst wieder fälschte und zum Argwohn auch gegen dieses merkwürdige Unternehmen herausforderte. Es will mir wenigstens nicht einleuchten, wie das Fabrikproletariat auf irgendeine Weise nachhaltig gefestet und der communistischen Luft entzogen werden könne, außer indem man die Fabrik nach Art der alten Werkstätten zu einer großen patriarchalischen Familie durchbilde, damit der proletarische Arbeiter in dem beschränkten Kreise dieser Familie das finde, was er in dem Phantasiebild der socialistischen Familie der Menschheit vergeblich sucht. Darin liegen die großen Gegensätze zwischen dem armen Handwerker und dem armen Fabrikarbeiter, daß der Handwerker sich immer noch durch die Familie gefesselt hält und beschränkt durch die alte Sitte der Genossenschaft, während der Fabrikarbeiter in der Regel familienlos ist, heimathlos und seine Genossenschaft nicht in der Vergangenheit oder Gegenwart, sondern in den unbegrenzten Weiten der Zukunft sucht. Er hat keine Geschichte; das ganze Wesen der durchaus modernen Maschinenindustrie lenkt seinen Sinn vom Historischen ab. Es gilt also, ihm allmählich eine Geschichte zu schaffen, eine Heimath, eine sociale Schranke, und das alles findet sich von selber, wenn man ihm eine Familie schafft, nicht eine solche Familie, wie er sie wohl öfters leider besitzt, nämlich ein hungerndes Weib und verkümmernde Kinder, sondern ein Familienbewußtseyn, wie es auch der Handwerksbursche besitzt, der darum doch nicht mit Kindergeschleppe durch die Welt zieht.

Es gibt ewige Handwerksbursche, welche niemals Aussicht haben einen eigenen Herd zu gründen, und doch vermag bei ihnen der Geist des vierten Standes den Geist des Bürgerthums nicht zu verdrängen, während die meisten Fabrikarbeiter eben dadurch proletarisch werden, daß sie an der Hoffnung auf den eigenen Herd zu verzweifeln beginnen. Der ewige Handwerksbursche erscheint in seinen alten Tagen in der Regel weit mehr als ein durch und durch »gepichter Kerl« denn als ein zerfahrener Proletarier. Er wandert freilich heimathlos von Land zu Land, aber überall findet er in der Familie seines Meisters auch für sich ein Stück Familienleben wieder und in jeder Werkstatt ein Stück Heimath. Er vergißt darüber doch seinen ursprünglichen vaterländischen Boden nicht, wie denn die perennirenden Handwerksbursche oft die bedeutsame Sitte haben, sich nicht durch ihre Namen, sondern durch ihre Landsmannschaft gegenseitig zu bezeichnen. Wenn dieses genossenschaftliche Leben der Familie auch in jeder Fabrik heimisch würde, dann könnte der Fabrikarbeiter nicht mehr um deßwillen proletarisch werden weil er keine Familie, kein Vaterland, keine Geschichte besitzt. Ganz ähnlich wie mit den ewigen Handwerksburschen verhielt es sich mit den ewigen Studenten, die früher häufiger vorkamen, jetzt wohl fast ganz ausgestorben sind. Eine höchst lehrreiche Reliquie dieser Art lebte noch vor wenigen Jahren in Gießen. Es war ein Mann, der gerade ein Vierteljahrhundert ununterbrochen akademischer Bürger gewesen war, und als er, stark in den Vierzigen, sein bereits ergrauendes Haupt zur Ruhe legte, ward er – als Student begraben. Mit achtbaren Geistesgaben und einem seltenen Fleiße ausgerüstet, hatte er fast alle Facultäten mehrfach durchstudirt und einen nicht gewöhnlichen Schatz wissenschaftlicher Kenntnisse erworben, aber so oft er auf den Punkt gekommen war sich einer Prüfung für den öffentlichen Dienst zu unterziehen, wurde er durch körperliches Elend und Geldnoth wieder zurückgeschleudert. Wenn lediglich das Mißverhältniß der Arbeit zum Kapital den Proletarier machen könnte, dann wäre dieser Mann, der sich von Correcturen für Buchhändler, von schlecht bezahlten Privatstunden und den milden Gaben seiner Studiengenossen fünfundzwanzig Jahre lang das Leben fristete, ein Proletarier im vollsten Sinne des Wortes gewesen. Namentlich zum literarischen Proletarier waren gewiß alle Wege aufgeschlossen. Und dennoch verfiel dieser Dulder niemals dem Geiste des vierten Standes, er war und blieb ein ganz gediegener akademischer Bürger, der ewige Student, wenn auch der ärmste. Es erging ihm wie den ewigen Handwerksburschen: die Hochschule war seine Heimath geworden, die Genossenschaft der Studenten, wo er bei jedem einzelnen in den letzten Jahren füglich Vater hätte seyn können, seine Familie. Er stand als die wunderlichste Ausnahme in der bürgerlichen Gesellschaft und gehörte doch nicht zu dem großen Stande der Ausnahmen, zum vierten Stande. Ein subalterner Staatsbeamter in seinem Elend, in seiner Hoffnungslosigkeit würde ein literarischer Proletarier geworden seyn, ein Fabrikarbeiter in seiner Lage ein Communist: der ewige Student war und blieb ein ganz conservativer akademischer Bürger. Das ist der Zauber eines, wenn auch nur geträumten, Familienbewußtseyns, der Zauber des genossenschaftlichen Lebens!

Einen Beleg, wie sogar ein blos scheinbares Leben in der Familie den Fabrikarbeiter vor dem proletarischen Geist bewahrt, liefern uns die westphälischen Hüttenarbeiter, die als die gesuchtesten Männer ihres harten Berufes ins Rheinland ziehen, um dort an den Hochöfen zu schaffen, und durch Fleiß und Sitte gleich ausgezeichnet sind. Diese Leute sind meist die nachgebornen Söhne westphälischer Bauern, welchen nach Landesbrauch entweder gar nichts von dem väterlichen Gute zufällt oder nur ein so geringer Theil, daß sie keine Familie ausschließlich durch dessen Bewirthschaftung ernähren könnten. Sie bleiben jahraus jahrein auf dem Hüttenwerk und bekommen außer einer kurzen allsommerlichen Ferienzeit (wo der Ofen kalt steht) niemals Urlaub. Diese Ferien von wenigen Wochen sind dem Haus und der Familie gewidmet, das ganze übrige Jahr gehört dem Beruf. Die Familie aber wohnt daheim in Westphalen, sie sitzt auf dem kleinen Bruchstücke von einem Gütchen, mit welchem der Vater abgefunden worden ist. Der Mann sieht also Weib und Kind eigentlich im ganzen Jahre nur ein einzigesmal. Und dennoch nimmt er von diesem Jahresbesuch das Bewußtseyn des Familienlebens und des gediegenen westphälischen Bürger- und Bauernthums mit in sein Fabrikleben, und erhält sich das ganze Jahr über fest und tüchtig kraft dieses Bewußtseyns. Wenn die Bursche eben erst confirmirt sind, kommen sie oft schon auf das auswärtige Hüttenwerk und sehen für ihr ganzes Leben die Heimath nur in den jährlichen Sommerferien wieder, sie verheirathen sich in diesen Ferien daheim, und es ist schon vorgekommen, daß ein solcher Hüttenmann, der mit seiner Frau – aus der Entfernung – in musterhafter Ehe lebte, die Frau, als sie ihn in einem Anflug von jener ehelichen Sentimentalität der gebildeteren Stände einmal auf der Hütte besuchen wollte, sofort wieder heimschickte, weil ihm ein solcher Besuch weder mit seiner Stellung als Hüttenarbeiter, noch mit der seiner Frau als Bewirthschafterin des kleinen heimathlichen Gütchens vereinbar schien. Bei diesen Hüttenarbeitern sieht man, wie Bauernmajorate nach beiden Seiten hin nützlich sind, und nicht nur den Bauernstand vor dem Ruin bewahren, sondern auch das beste Mittel bieten, das industrielle Proletariat von Grund aus zu reformiren.

Das englische Arbeiterproletariat steht einem an seiner Sitte festhaltenden, im beschränkten Kreise sich begnügenden Bauernthum noch viel näher als das französische, welches sich wohl am meisten »städtisch« emancipirt hat; es ist darum auch trotz seiner Masse noch nicht so gefahrdrohend geworden für die Gesellschaft wie letzteres.

Die Arbeiter in den Bergwerken, welche in neuerer Zeit dem industriellen Proletariat immer näher gerückt sind, haben sich doch im Durchschnitt musterhaft gediegen bewahrt, weil der Gedanke, die ganze Genossenschaft als eine patriarchalische Familie zu fassen, bei ihnen ein uralt überlieferter ist. Der Bergwerksarbeiter ist nicht nur wie jeder Fabrikarbeiter den Schwankungen des Marktes preisgegeben, auch Krankheit, Verstümmlung oder Tod steht bei seinem Geschäftsbetrieb jeden Augenblick in Gottes Hand. Dieses drohende Unglück faßt er auf als sein Schicksal: das Unglück plötzlicher Brodlosigkeit erscheint so gering daneben, daß ihm hier leicht gemacht ist zu entsagen. Aber eben weil ihm der Umsturz der Gesellschaft muthmaßlich nur einen sehr geringen Theil von der Gefahr seiner Existenz abnehmen könnte, greift er einstweilen bei dem Praktischen und Erreichbaren zu, um sein Loos zu bessern. Die persönliche Gefahr erzeugt wie auf dem Schlachtfelde die Mannszucht unter diesen Arbeitern, und der gemeine Bergmann will nicht gescheidter seyn als der erfahrene Steiger, weil er diese Vermessenheit mit seinen gesunden Gliedern bezahlen könnte. Er fährt mit Gebet in den Schacht, wo sein Genosse in der Fabrik mit einem Fluch an die Arbeit geht. Darum findet man zwar häufig, daß ganze Knappschaften pietistisch, selten aber socialistisch sind. Die Hülfsvereine der Bergwerksarbeiter, die Knappschafts- und Bruderkassen, wie sie in Belgien, in Schlesien, am Harz, in Nassau, Westphalen und anderwärts bestehen, sind wahre Musteranstalten in ihrer Art. Bei vielen Knappschaftskassen werden nicht nur regelmäßige Geldbeiträge erhoben, sondern auch ein paar Kuxe zum Besten der Kasse gebaut. Dies ist vortrefflich. Indem der Bergmann auch jezuweilen die Haue dafür ergreifen muß, daß er ein Gnadenbrod erhält wenn er schwach, und Arznei wenn er krank wird, und ein ordentliches Leichenhemd wenn man ihn in den Sarg legt, wird es ihm mit jedem Schlage, den er gegen das Gestein führt, einleuchtender werden, daß für einen Gulden genossenschaftliche Hülfe, die man selber hat miterarbeiten helfen, mehr werth sey als ein Wechsel von Millionen auf die künftige »Organisation der Arbeit« ausgestellt.

Nicht bloß die Handwerksbursche sind durch das Leben in der Familie des Meisters lange Zeit vor proletarischer Zerfahrenheit bewahrt worden, auch bei den Dienstboten und selbst bei den ständigen Taglöhnern fand bis fast auf unsere Tage hin das Gleiche statt. Das ist gerade ein glänzender Zug der germanischen Völkerstämme, daß ihnen der Diener des Hauses wenigstens zu unserer Väter Zeiten noch auch als ein Glied des Hauses erschien. Die Dienenden sind erst dadurch eigentlich proletarisch geworden, daß man sie aus dem Hause, aus der Familie schob. Zu welch lüderlichem Proletariat, zu was für unstät von einem Dienst zum andern wandernden Miethlingen sind die meisten Dienstboten herabgesunken! Die Sache hat ein schweres sociales Gewicht. Die Verderbniß der Dienstboten ist für Deutschland, wo der Ruin der kleinen Gewerbe und des kleinen Bauern mit jedem Tag eine Schaar neuer Knechte und Mägde schafft, kaum minder wichtig als der Wachsthum des Fabrikenproletariats. Es wird selten ein schlechter Brauch aus der Stadt auf das Land vertragen, daß dies nicht durch Knechte oder Mägde geschieht. Und es handelt sich hier sogar um die Verdunkelung eines nationalen Ruhmes, denn was man im schönen alten Wortsinn das »Hausgesinde« nennt, dieses ächt patriarchalische Verhältnis des treuen Dienstboten zu der Familie ist, wie gesagt, doch stets ein besonderer Ruhm deutscher Völkerschaften gewesen.

Die deutschen Schriftsteller, welche sich mit der socialen Frage, namentlich in der Tagespresse, befassen, bleiben in der Regel viel zu ausschließlich nach dem Vorgange der Franzosen bei dem industriellen Proletariate stehen. Nicht in dem Verhältniß der Arbeit zum Capital liegt für uns der Kern der socialen Frage, sondern in dem Verhältniß der Sitte zur bürgerlichen Entfesselung. Die sociale Frage ist zuerst eine ethische, nachher eine ökonomische. Der Arbeiter bricht zuerst mit seiner Sitte, und nachher fühlt er sich arm, nicht aber umgekehrt bricht er darum mit seiner Sitte, weil er sich jetzt erst arm fühlte, denn arm ist er immer gewesen, meist sogar früher viel ärmer.

Die Dienstboten erhalten in der Regel einen weit höhern Lohn als vordem und ihre Arbeit ist meist kleiner geworden, und dennoch blieben sie früher Glieder des Bürger- und Bauernthums, aus welchem sie hervorgegangen, während sie jetzt in die Reihen des vierten Standes einzurücken beginnen. Nicht das Mißverhältnis der Arbeit zum Capital macht hier den Proletarier, sondern der Umstand, daß der Einzelne bei erhöhtem Lohne familienlos, heimathlos geworden ist. Unser Familienleben ist untergraben, darum verderben unsere Dienstboten. »Der Herr muß vorauf!« sagt ein norddeutsches Sprüchwort. Wo man von der Verderbniß des Gesindes redet, da soll man zuerst Nachfrage halten nach dem Verderbniß der Herrschaft.

Unsern Familien ist der ächte Begriff des »Hausregiments« abhanden gekommen. Sonst wurde kraft dieses Hausregiments in und mit der Familie das Gesinde erzogen. Jetzt halten es die Familienhäupter für nobler, das Gesinde ganz bei Seite liegen zu lassen, als ihm in der That vorzustehen. Es ist eine wahre Ironie auf unser wohlgeschultes und doch so schlecht erzogenes Geschlecht, daß man sich neuerdings hier und da genöthigt sah, eigene »Dienstbotenschulen« zu errichten, welche dem Gesinde den Uebergang aus der Familie des väterlichen Hauses in die Vereinsamung ihres weiteren Lebens vermitteln sollen! Jene alten Prachtexemplare von Mägden und Knechten, die gleichsam als unveräußerliches Stück des Hausinventars durch ganze Geschlechter in der Familie blieben, werben bald ganz ausgestorben seyn. Sie mußten ihr Lebtage fremdes Brod essen wie der ewige Handwerksbursche, wie der ewige Student, und wurden doch so wenig proletarisch wie diese. Wir verlangen moralische Dienstleistungen von dem Gesinde, wir verlangen die Hingabe einer ganzen Persönlichkeit an uns – und was ist es denn für ein moralischer Gegendienst, den wir bieten? Oder welches Musterbild der großen gesellschaftlichen Gliederung der Welt findet das Gesinde in der Regel noch in der Familie, daß es sich daran ein Exempel nehmen könnte? »Der Herr muß vorauf!« Wir wollen, daß unsere Knechte wahre Spartaner seyen, da dieselben doch täglich sehen, daß die Herrschaft ihr Standquartier keineswegs in Sparta, sondern in Capua aufgeschlagen hat. Und in solchem Widerstreit von Lehre und Beispiel wird dann auch zwar kein Spartaner herausgebildet, wohl aber ein vollwichtiger moderner Proletarier. »Der Herr muß vorauf!«

Dem Leben und Wirken des Arbeiters in und mit der Familie des Herrn steht das maschinenmäßige Gebrauchen und Verbrauchen des Fabrikproletariers von Seiten des Unternehmers am schroffsten entgegen. Jener Fabrikarbeiter, welcher nichts gelernt hat, welcher gar keine persönliche Fertigkeit besitzt, sondern bloß als einfache mechanische Kraft eingereiht ist unter die übrigen mechanischen Kräfte der Maschine, der sich gewärtigen muß, daß man seine Stelle morgen durch ein Kind ersetzt und übermorgen durch einen neu eingefügten Hebel, eine Schraube, dieser Arbeiter, mit dem der Unternehmer im Grunde gar nichts weiteres anfangen kann, als daß er ihn eine Weile abnutzt, um ihn dann als überflüssig bei Seite zu werfen, ist unstreitig äußerst günstig vorbereitet zum Eintritt in den vierten Stand. Es ist ihm aber weder durch höhere Löhne, noch durch kürzere Arbeitszeit zu helfen, sondern allein dadurch, daß er mehr lernt, sich mannichfaltige Handfertigkeiten erwirbt; und dazu kann ihm niemand besser den Weg bahnen, als die Genossenschaft der Fabrikarbeiter selbst, die sich im Sinne der gegenseitigen Erziehung, Unterstützung und Förderung zu einer patriarchalischen Familie, aber nicht im Sinne der Theilung des Gewinnes zu einer communistischen zusammenthäte. Aristoteles sagt in seiner Ethik: »Der Sklave ist ein beseeltes Werkzeug, das Werkzeug ein unbeseelter Sklave.« So ist denn jener Fabrikarbeiter oft viel weniger noch als ein Sklave, denn seine Arbeit sinkt häufig genug auf gleichen Rang mit der Verrichtung des seelenlosen Maschinenteiles herab, den man auch herauswirft, sobald man ihn durch einen bessern ersetzen kann. Wir sahen die Fabrikarbeiter selber ihre eigenen Maschinen zertrümmern. Es war die Wuth des selbst zum seelenlosen Werkzeug herabgesunkenen Sklaven, der seinen übermächtigen, wenn schon nur aus Holz gehauenen, aus Eisen geschmiedeten Nebenbuhler zerschmettern will. Der Fabrikarbeiter hat häufig ganz dieselbe Furcht vor jeder Verbesserung der Maschine – und wenn ein solcher Fortschritt gleich ihm allein zum Nutzen wäre – als etwas dämonischem, als einer ziellos entfesselten Kraft, wie der Bauer vor dem Lernen. Als in den Spindelschleifereien von Sheffield eine Verbesserung eingeführt werden sollte, lediglich um den verderblichen Einfluß des Eisenstaubes auf die Lungen der Arbeiter zu beseitigen, widersetzten sich diese aufs äußerste. Aehnlich erging es mit der Einführung der Davy'schen Sicherheitslampe. Jacquard wurde fast gesteinigt, weil er den kunstvollen Mechanismus an den Seidenwebstühlen, der seinen Namen trägt, erfunden hatte, und der in erster Linie die beklagenswerthen Arbeiter an den früheren Seidenwebstühlen, die sogenannten tireurs de lacs, welche den ganzen Tag in den unnatürlichsten Gliederverrenkungen verharren mußten, von ihrem qualvollen Geschäft erlöste.

Als im März 1848 ein brodloses Lohnkutscherproletariat die Schienen der Taunuseisenbahn aufriß und gleich daneben hungernde Schiffszieher die Dampfboote des Rheins und Mains beschossen, sah ich einen Maschinenarbeiter, welcher die vollendete Verwüstung höhnisch überschaute, und mit der dämonischen Siegesgewißheit eines Propheten des Proletariats ausrief: durch dieses Land wird keine Maschine mehr fahren. Es lag ein sittlicher Grimm in diesem Ausruf, denn es war vielleicht des Mannes eigene Existenz, die vor ihm mit der Eisenstraße in Trümmern lag, und doch begrüßte er freudig diesen Ruin, weil die unheimliche Nebenbuhlerschaft der Maschine zugleich die tiefste Demüthigung für das Menschenbewußtseyn des Arbeiters ist.

Der proletarische Handarbeiter faßt die stets riesenhafter aufsteigende Maschinenindustrie mit dem Seitenblicke des geheimen Grauens auf als den vermessenen Wettkampf eines riesenhaften Weltcapitals mit der schwachen Arbeitskraft des Einzelnen. Wie ganz anders der arme Bauer, der oft nicht minder scheuen Blickes zu den räthselhaften Eisenstraßen mit dem schnaubenden Teufelsrappen hinüberschaut! Cholera und Kartoffelkrankheit, verkehrte Witterung, Erdbeben, theure Zeit, Krieg und Aufruhr der letzten Jahrzehnte sind seinem Aberglauben häufig genug als das natürliche Gefolge dieser titanischen Neuerung erschienen. Da ist ihm der Bau der Eisenbahn das letzte Wahrzeichen der himmelstürmenden Vermessenheit, mit welcher der übermüthige Mensch den ewigen Naturgesetzen Gottes eine Wette anbietet. Sie ist ihm der Thurmbau von Babel ins Neumodische übersetzt. Auch der Thurm von Babel, »deß Spitze bis an den Himmel reiche,« sollte der Einigungsdom aller Völker der Erde werden. »Und der Herr sprach: – sie haben das angefangen zu thun; – sie werden nicht ablassen von allem, das sie fürgenommen haben zu thun. Wohlauf! lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren; daß keiner des andern Sprache vernehme. Also zerstreute sie der Herr in alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der Herr daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreuet von dannen in alle Länder.«

Und der einfältige Bauer hat so seine eigenen Gedanken darüber, daß dieser babylonische Ausgang spät oder bald auch die Eisenbahnen treffen werde. Wollt ihr diese Einfalt schelten? Es liegt in ihr der tiefe Gedanke verborgen, daß die Geschichte von der modernen Industrie eigentlich nur die neue Auflage der alten Tragödie vom Doctor Faust sey. Aber nun halte man gegen einander das Ende, welches hier der religiöse Kindesglaube der Bauern, dort der sociale Kindesglaube des Proletariers diesen Riesenwerken der modernen Cultur prophezeit! Das zeichnet beide Stände.

Jenes äußerste Elend der Fabrikarbeiter, welches häufig doch auch daher rührt, daß sie zu wenig gelernt haben und zu beschränkten Geistes sind, läßt sich nur auf dem Wege der körperschaftlichen Organisirung des ganzen Standes bekämpfen. Indem man die »Arbeiter« selbständiger macht, entreißt man sie dem vierten Stande. Die reichste Unterstützung von außen hilft dem Arbeiter nichts, solange er sich in sich selber hülflos fühlt, und gerade das Bewußtseyn dieser Hilflosigkeit erzeugt den proletarischen Geist. Im Jahre 1848 hat man in manchen deutschen Staaten die Ueberzahl der brodlosen Arbeiter dadurch zu beschäftigen und ihr Mißvergnügen zu beschwören gesucht, daß man ihnen völlig nutzlose Wegbauten u. dgl. zuwies; in Paris ließ man gleichzeitig durch eine ganze Heerschaar von Arbeitern Erdarbeiten ohne allen Sinn und Zweck ausführen, man ließ die Leute arbeiten, damit sie überhaupt nur die Hand rührten, wie reiche Leute sich mitunter eine Drehbank oder Schnitzbank anschaffen, um zur Beförderung der Verdauung zwecklos daran zu bosseln; man schuf sich einen Vorwand, um jenen Arbeitern einen Lohn auszahlen zu können, der wenigstens nicht ganz wie ein Almosen aussah. Das war ein höchst gefährliches Spiel. Denn wenn etwas, dann mußte diese sinnlose Arbeit dem Arbeiter das Elend seines Daseyns recht anschaulich vor die Seele führen. Ein unverhülltes Almosen wäre weit weniger bedenklich gewesen. Wo vollends gar der Anblick des vollendeten Tagewerks selber dem Arbeiter zuruft, daß er überzählig sey in der Gesellschaft, da wird selbst der reichste Lohn den Geist der proletarischen Empörung in ihm nicht ersticken können!

Ein musterhaftes neues Institut von hohem socialem Werthe, welches die armen Arbeiter unterstützen will, indem es ihnen einerseits Mittel zur Selbsthülfe gibt, andererseits einen eigenen Herd sichert, ist die Berliner »gemeinnützige Baugesellschaft.« Sie baut Häuser für Handwerker, Fabrikarbeiter, Taglöhner etc., deren Erbauungscapital durch den billigen Miethzins von 6 Procent nicht nur verzinst, sondern auch getilgt wird, so daß der Bewohner nach 30 Jahren das Haus als freies Eigenthum erhält. Bei genossenschaftlicher Miethe in den größeren Häusern der Gesellschaft erhält der Einzelne nach 5, 10 Jahren etc. eine entsprechende Geldprämie. Die sämmtlichen Insassen eines Hauses treten zu einer Genossenschaft zusammen und wählen einen Hauswirth, der dann wieder unter der Oberaufsicht eines von der Gesellschaft ernannten Hausvorstehers steht. Die materiellen und sittlichen Vortheile einer gemeinsamen Wirthschaft des ganzen Hauses unter strenger Aufsicht von Außen sind einleuchtend. Ebenso werden die von einer einzelnen Familie bewohnten kleineren Gesellschaftshäuser mächtig dazu beitragen, den Familiengeist unter diesen Arbeitern neu zu beleben. Auf solche Weise wird in der That der »Arbeiter« bewahrt vor dem vierten Stande; es wird einer gesunden gesellschaftlichen Organisirung der Lohnarbeiter, einem künftigen wahren und ächten vierten Stande, vorgearbeitet. Das Unternehmen, welches, auf alle größeren Städte Deutschlands ausgedehnt, ein Capital von vielen Millionen zu Gunsten der Armuth flüssig machen würde, setzt darum nicht das mindeste Geldgeschenk des Reichen an den Armen voraus, sondern nur einen auf sicherer Hypothek ruhenden rückzahlbaren Vorschuß. Es entzieht die Unbemittelten den Schlingen des Wohnungswuchers, leitet sie zu erhöhtem Familienleben, zur gefesteten Genossenschaft, und stellt ihnen als Prämie den Erwerb eines freien Grundeigenthums oder eines kleinen Capitals in Aussicht. Es wird mit der Zeit aus abhängigen Lohnarbeitern vielfach wieder selbständige Bürger machen! Ich halte diesen Versuch für einen der glücklichsten zur Besserstellung der arbeitenden Klassen; denn er gibt die Unterstützung nicht als ein Almosen, sondern er ermöglicht dem Bedrängten die rechte Selbsthülfe.

Es haben diese Bauten der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft eine bemerkenswerthe Ähnlichkeit mit der kleinen Stadt der Armen, wie sie einst das reiche Patriciergeschlecht der Fugger mitten in den größeren Ring der Stadt Augsburg hineingebaut hat, mit der Fuggerei. Hier wie dort wird unbescholtenen armen Arbeitern ein billiges Obdach gegeben. Aber im sechzehnten Jahrhundert gründete das einzige Geschlecht eine ewige Stiftung, wo im neunzehnten eine Gesellschaft zu einem Actien-Unternehmen zusammentritt. Und doch ist diese moderne Gesellschaft weiter gegangen als jene alten Patricier, denn sie macht es dem Armen möglich, daß derselbe das dargeliehene Gut zuletzt als Eigenthum erwerbe. Indem sie ihren Plan nicht auf die Erbauung einer gewissen Häusermasse beschränkt, sondern es offen läßt, ihn je nach Bedürfniß zu erweitern, indem sie den Armen nicht im Sinne der Fugger eine stiftungsmäßige Spende gibt, sondern, was höher ist, die Möglichkeit, sich selber die Spende zu erringen, zeigt sie, wie weit wir vorgeschritten sind, das Wesen der Armuth im Zusammenhange mit dem socialen Leben zu erkennen und hiernach auf Mittel zur Abhülfe zu sinnen.

Der geschäftliche Beruf des Fabrikarbeiters trägt fast in allen Stücken noch das Gepräge des Halben, Unfertigen, Werdenden. Daraus entspringen die entscheidendsten socialen Folgen. Der Fabrikarbeiter ist kein Handwerker mehr, auch kein bloßer Taglöhner, er ist eine dritte gesuchte Größe, ein X in der gewerblichen Welt, wie der vierte Stand in der socialen.

Ihr sagt: die Maschine nimmt alle grob mechanische, gedankenlose Handarbeit den Menschen ab – welcher Fortschritt zur Veredelung des gesammten Menschendaseyns! Wo der Handarbeiter früher tagelang fast unausgesetzt den Arm schwingen mußte, daß ihm der Schweiß über den ganzen Körper rann, da sitzt jetzt der Fabrikarbeiter an der Maschine, die jenen Arm darstellt, und regelt nur dieselbe mit Bequemlichkeit, braucht nicht zu schwitzen, auch nicht so unausgesetzt körperlich thätig zu seyn. Wenn der Handarbeiter alten Styles drauf los schlug, daß ihm der Kopf dampfte, so konnte er wenig denken, und mit dem Schweiß der körperlichen Anstrengung gehen nicht bloß allerlei überflüssige Säfte ab, sondern auch die überflüssigen Gedanken.

Während dagegen die Maschine für den Arm des Fabrikarbeiters hämmert, stößt, webt, spinnt, bleibt ihm selber Muße genug, mit seinen Gedanken zu weben und zu spinnen. Ist das nicht ein ungeheurer Fortschritt? Aber gerade dieses Spiel des Denkens, dieses Brüten, Sinnen und Träumen, wie es sich bei dem Bildungsstandpunkte des Fabrikenproletariats in den arbeitslosen Minuten bei der Maschine von selbst ergibt, ist das social gefährliche bei dem Fabrikenproletariat im Vergleich zu den Proletariern der Handarbeit. So sind auch diejenigen Handwerker, denen bei einer sitzenden Lebensart und geringem körperlichen Kraftaufwand das Brüten und Sinnen den ganzen Tag über gestattet ist, z. B. die Schuster und Schneider, am öftesten mit communistischen und socialistischen Vapeurs geplagt. Von dergleichen Krankheitsanfällen bei Grobschmieden, Steinmetzen, Holzhauern, kurzum bei Arbeitern, die allezeit im Schweiße ihres Angesichts schaffen müssen, habe ich noch wenig gehört. Ich verkenne wahrhaftig den großartigen Fortschritt der Gesittung nicht, welcher darin liegt, daß die gröbste Arbeit mehr und mehr der Menschenhand abgenommen wird. Aber solange die Fabrikarbeiter noch auf der gegenwärtigen Stufe gewerblicher Halbschlächtigkeit sich befinden, wird dadurch mittelbar ein furchtbar ungesunder Dilettanismus der Bildung bei den Massen des Arbeiterproletariates gehegt. Da man nun den Leuten das Denken nicht verbieten soll noch kann, so wird die einzige Rettung darin liegen, daß man ihrem Geiste gesunde und naturgemäße Bildungsstoffe zuführt. Wir sehen manchmal Barren und Reck für die Erholungsstunden versessener und verkrümmter Fabrikarbeiter neben den riesigen Maschinenschornsteinen aufgebaut. Wohlan, schaffet den in ihrer Gedankenwelt versessenen und verkrümmten Leuten aus den Fabriken nicht minder die gehörigen geistigen Turnplätze! Gerade durch ihre Bildungsarmuth werden die großen Massen der untersten Fabrikarbeiter, die meist aus der Knabenschule unmittelbar an die Maschine kommen, so hülflos, durch die Bildungsarmuth werden sie dann auch weiter nicht selten so verschroben in all ihrem Dichten und Trachten. Weil diese Fabrikarbeiter, die an gewerblicher Ausbildung meist noch tief unter dem gröbsten Handarbeiter stehen, doch so viel mehr Muße zum Nachdenken haben als dieser, muß ihnen auch ein weit umfassenderer Stoff des Nachdenkens gegeben werden. Der Staat, die Gemeinde und die Genossenschaften der Fabrikherren wie der Fabrikarbeiter selbst haben hier das gleiche Interesse, Arbeiterschulen zu gründen, damit diese Proletarier aus so elendem Zwitterwesen herausgerissen werden, welches das materielle Wohl der einzelnen Arbeiter nicht weniger als die Sicherheit der ganzen Gesellschaft bedroht. Wie wenig ist noch geschehen für die geistige und sittliche Erziehung des Fabrikenproletariates! Und hintendrein kommen dann die Leute, fürchten sich vor der socialen und politischen Verschrobenheit der Fabrikarbeiter, und klagen unsere stolze Maschinenindustrie als den allgemeinen Sündenbock an, da sie doch selber keine Hand gerührt haben, den etwaigen verschrobenen Arbeitern die Kopfe zurechtzusetzen! Hier gilt es innere Mission zu üben, nicht bloß des Glaubens, sondern auch einer gesunden volksgemäßen Intelligenz.

Das Proletariat der Fabrikarbeiter ist auf halbem Wege auch in seinem Genossenleben stehen geblieben. Es hat so viel Gemeinbewußtseyn gewonnen, daß es über das Maß seiner Leiden und Gebrechen ziemlich einverstanden ist, aber den zweiten Schritt, sich auch über die Abhülfe derselben aus sich heraus zu verständigen, vermag es nicht zu thun. Es gehört also auch in diesem Betracht in das unendliche Capitel von den modernen Halbheiten. Es gibt eine große Masse des gewerblichen und industriellen Proletariats, welche noch viel elender und hülfloser ist als die Fabrikarbeiter im Ganzen genommen, und doch die Gesellschaft vorderhand durchaus noch nicht gefährdet, weil sie jenen ersten Schritt zur Corporation noch nicht gethan, und also auch wenigstens jenes negative Gemeinbewußtseyn noch nicht gewonnen haben. Die wandernden Scheerenschleifer z. B., die fahrenden Zinngießer, Kesselflicker, Korbflechter etc., welche unter Sonnenbrand und Regenguß an den Straßenecken ihr jämmerliches Verdienst sich erarbeiten, sind oft weit schlimmer daran als die Fabrikarbeiter, aber sie leben zerstreut, sie sind noch zu keinem Gemeinbewußtseyn gekommen, sie fassen ihre Noth nur vereinzelt, persönlich, sie werden daher auch höchstens nur für sich persönlich rauben oder stehlen, wenn sie auf jener Stufe der Verzweiflung angekommen sind, wo der Fabrikarbeiter als Communist den Raub an der ganzen Gesellschaft vollziehen will.

An das Gewerbeproletariat schließt sich das Handelsproletariat. Hier hat man am frühesten wahrgenommen, welche bürgerliche und geschäftliche Nichtsnutzigkeit das fahrende Leben erzeugt, und schon seit Jahrhunderten eifrig dagegen gearbeitet. Unsere alten Polizeigesetze enthalten meist die schärfsten Verfügungen gegen die wandernden Trödler, Hausirer u. dgl., welche allezeit den Ruin des Bauern fördern halfen, früher aber noch weit mehr als jetzt. Es ist dies eine Classe des Proletariats, deren schädliche sociale Einflüsse nicht mehr im Wachsen, sondern im Abnehmen begriffen sind. Mit jeder neuen Eisenbahnanlage wird auch eine neue Landschaft von einem Theil des Krebsschadens der Hausirer befreit. Dagegen können wir uns wohl ein Bild von dem Unheil machen, welches früher diese Leute bei den Bauern stifteten, wenn wir lesen, wie jetzt der einsame Siedler in den Wäldern Amerikas von den Hausirern betrogen und verdorben wird. Noch Justus Moser zeichnet ein Bild von der Landplage der Hausirer, dessen Farben jetzt schon allzu grell erscheinen dürften. Namentlich übten noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die wandernden Specereihändler, »ohnbekannte Hausirer, Theriakkrämer, Storger und Landfahrer« einen so verderbenden Einfluß auf das Landvolk, daß wenigstens das Hausiren mit Gewürzwaaren fast überall unterdrückt wurde, »dieweil dies Hausiren nicht allein unsern Hintersaßen, Bürgern und Gewerbsleuten, sondern auch dem gemeinen Hausmann, als welcher zu Zeiten, auch ohnnöthiger Weise, zum Kaufen angereizt und um das Seine gebracht wird, zu sonderem Schaden und Nachtheil gereicht.« Ein gutes Theil des traurigen Umstandes, daß der Bauer da und dort von seiner alten Tracht und Lebensweise gelassen hat, und damit schließlich proletarischer Verlüderlichung und Zerfahrenheit verfallen ist, haben diese »Landfahrer« auf dem Gewissen. Sie sind die rechten Apostel des vierten Standes unter den Bauern gewesen, und haben hier mit ihren schlechten Cattunen, mit ihrem modischen Flitterzeug und früher mit ihren Specereien, namentlich mit ihrem Kaffee, mindestens eben so stark die Gesellschaft unterwühlen helfen, als anderwärts die Geistesproletarier mit ihren Büchern und Zeitungen. Welch schlechten Begriff man früher von diesen Hausirern gehabt, geht daraus hervor, daß die alten Gesetzgeber die Fälschung der Waare und die Ausgabe falscher oder beschnittener Münze fast als Regel bei ihnen vorauszusetzen scheinen, und darnach ihre Maßregeln treffen. Das proletarische Bewußtseyn ist bei diesen Leuten selten zum Durchbruch gekommen, gerade wie bei den wandernden Korbflechtern und Scheerenschleifern, weil sie zerstreut leben; aber desto mehr haben sie mittelbar darauf hingewirkt, das proletarische Bewußtseyn unter dem gemeinen Manne zu verbreiten. Weniger was sie sind, als was sie gethan, verdient die Beachtung des socialen Forschers.

Ganz eigenthümlich stehen die wandernden Schacherjuden inmitten dieses Handelsproletanats. Am buntesten zeigt sich hier die seltsame Mischung des umherschweifenden Lebenswandels der Heimathlosigkeit mit einem gleichsam idealen Nationalitätsbewußtseyn; ein körperschaftliches Zusammenhalten, da sie doch in der Zerstreuung leben, und beiläufig meist trotzdem wieder einer den andern in seinem Geschäft aufs giftigste verdächtigt und anfeindet. Wir finden weiter eine historische Heilighaltung der Familie im Vagabundenleben, die sie von fast allen andern fahrenden Proletariern vortheilhaft unterscheidet und eine tiefere Sittlichkeit erwarten ließe, verschmolzen mit allerlei Nichtsnutzigkeit, wo es den Betrug des Bauern gilt, mit jenem hündischen Wesen, welches sich stoßen und schlagen läßt und dem Zuchtherrn die Hand noch küßt, wenn nur dabei ein Kreuzer verdient wird. Der wandernde Schacherjude fängt mit nichts an, wie der Fabrikarbeiter, er lernt auch nichts, er bringt nur sein angestammtes Rechentalent mit ins Geschäft, er läßt sich aber durch die Kluft zwischen Arbeit und Capital nicht abschrecken, sondern schindet sich frischweg und ohne alle Socialphilosophie, bis er zuletzt selber – Capitalist geworden ist. Die Unverdrossenheit des Schacherjuden, der schwerbepackt von Dorf zu Dorf läuft und an den jämmerlichsten Gewinn die größten Strapatzen setzt, sticht seltsam ab gegen die sonstige Scheu des Juden vor jeder harten Arbeit und körperlichen Anstrengung. Noch mehr, der Schacherjude auf dem Lande, von allen Seiten gefährdet, gehaßt, angespieen, die Ueberlieferung vielhundertjähriger Schmach und Verfolgung im Herzen, empört sich nicht, wird weder Socialist noch Communist. Und doch hätte er ein unendlich größeres Recht zum Kampfe wider die historische Gesellschaft als der Fabrikproletarier. Er läßt sich um Gotteswillen anspeien und hofft auf den künftigen Messias, auf die Freuden Zions, die für einen sonst so realistischen und auf gleich baare Zahlung haltenden Mann in verzweifelt nebelgrauer Ferne liegen. Der Schacherjude fühlt die Pein nicht, daß er keinen rechten Platz in der Gesellschaft wie im Staate hat, da ihm beide höchst gleichgültig sind und ein solcher Platz durchaus nichts baares abwerfen würde. Der Fabrikarbeiter fühlt sich als Paria; der Schacherjude aber in seinem Stumpfsinn gegen das ganze abendländische Culturleben ist ein wirklicher Paria, ohne daß er daran denkt. Die innern Widersprüche des vierten Standes sind also für ihn gar nicht vorhanden. Der jüdische Geistesproletarier, den ich oben zeichnete, ringt nach einer Stellung in dem modernen Staate, in der modernen Gesellschaft; für den fahrenden Schacherjuden hat ein solches Ringen gar keinen Sinn. Der jüdische Geistesproletarier hat mehrentheils gebrochen mit seinem alten Volksthum, mit seiner väterlichen Sitte, er sucht eine neue und steht solchergestalt zwischen Thür und Angel. Der Schacherjude lebt aber trotz aller äußern Störungen in seiner alten Sitte, er hat in dem Bewußtseyn derselben jenen festen Platz ererbt, den er in der modernen Gesellschaft nicht erst zu suchen braucht. Er lebt in dem Traum der Vergangenheit, wie der jüdische Geistesproletarier im Traum der Zukunft. Der Traum der Vergangenheit ist die Reaction, der Traum der Zukunft die Revolution. Das corporative Zusammenhalten mit seinen Genossen hat ihn dem Bauersmann so gefährlich gemacht, der Gesellschaft im Ganzen wird er durch das nämliche unschädlich. Er ist ein armer Teufel, ein heimathloser, geschundener, mit Füßen getretener Mensch, er lebt mit den bevorrechteten Gliedern der Gesellschaft auf dem Kriegsfuße, aber nicht mit den Vorrechten der Gesellschaft, das modern proletarische Bewußtseyn der innern Widersprüche seiner Stellung fehlt ihm, und darum ist er doch immer nur – Candidat des vierten Standes.

Ganz ähnlich wie mit dem wandernden Schacherjuden verhält es sich mit dem Zigeunerproletariat, welches sich in einigen Gebirgsgegenden Deutschlands noch erhalten hat. Auch hier gibt der Nachhall der alten Clanverfassung und das Familienleben dem verkommenen und verdorbenen Wandervolke einen eigenthümlichen socialen Halt. Bei dem Landvolke herrscht in manchen Gegenden die Ansicht, welche früher wenigstens wohlbegründet gewesen seyn mag, daß man den Zigeuner ohne Furcht vor Diebstahl bewirthen dürfe, sofern er auch sein Nachtlager im Hause nehme, daß er aber allezeit da zu stehlen suche, wo er bloß Speise und Trank zu sich nehme und dann wieder weiter ziehe. In dieser Ansicht ist jedenfalls die zwiefältige sociale Stellung, welche der Zigeuner mit dem Wanderjuden theilt, sehr gut versinnbildet. Sofern er der Familie, dem Haus, und sey es auch nur für eine Nacht, angehört, ist er ein Freund der gesellschaftlichen Ordnung; wo er sich's aber bloß gönnt, im Vorbeigehen seinen Wanderstab hinzustellen, wird er sofort ein Feind dieser Ordnung, wenn auch nicht der Gesellschaft selber.

In dem Maße als dieses niederste wandernde Handelsproletariat in neuerer Zeit abgenommen hat, beginnen übrigens die vornehmen wandernden Handelsleute zuzunehmen. Die vagabundirenden Makler und Agenten, die hausirenden Handlungsdiener, die fahrenden Subscribentensammler und Actienschwindler sind für die Städte eine eben so große Plage geworden, wie weiland die »Storger und Theriakkrämer« für das Land, und haben theilweise bereits ganz ähnliche Polizeiverfügungen hervorgerufen, wie ehedem ihre minder eleganten Genossen.

Von dem entarteten Bauer habe ich in dem Abschnitt von den Bauern ausführlich geschrieben. Wir haben noch kein Recht, die entarteten Bauern unter der Rubrik vom »vierten Stande« abzuhandeln. Das Gemeinbewußtseyn eines »Bauernproletariats« haben sie wenigstens in Deutschland noch nicht gefunden. Aus dem Gesichtspunkte des vierten Standes betrachtet, fallen sie daher in eine Klasse mit jenen proletarischen Künstlern und Handwerkern, die zwar zum Ruin der Künstlerschaft und des Gewerbestandes sattsam beitragen, doch ohne darum bereits die Rolle einer bewußt verneinenden Gesammtgruppe gegenüber der Gesellschaft übernommen zu haben. Das Bauernthum erscheint uns hier wohl verwittert, aber das verwitterte Bruchstück hat sich noch nicht zu einer socialen Neubildung abgelöst.

In einer Zeit, wo eine bedeutsame industrielle Erfindung die andere drängt, ist es natürlich, daß dieser Erfindungsgeist seinen Charlatanismus und ebendamit auch sein eigenthümliches Proletariat erzeugt hat. Eine ganze Gruppe großstädtischer Proletarier lebt von diesem Charlatanismus und prellt durch die fortlaufende Schwindelei mit neuen Entdeckungen, Erfindungen und Enthüllungen den arglosen Philister der Art, daß dieser Berufszweig ebenso gut dem Gebiete der Criminalstatistik als der socialen Wissenschaft anheimfällt.

An jeden neuen Anstoß im gewerbenden, wissenschaftlichen und politischen Leben hängt sich sofort ein eigenes Proletariat, welches wenigstens auf ein paar Monate Profession aus der neuen Errungenschaft macht. So hat unsere letzte politische Bewegung ein selbständiges Proletariat geschaffen, welches von der Revolution nicht bloß geistig, sondern auch mit Mund und Magen zehrte. Zu den sieben freien Künsten, die Rabanus Maurus als bei den Deutschen im Schwange gehend aufzählt, war als achte die Kunst der Wühlerei erfunden, und sie nährte geraume Zeit besser ihren Mann, als manche andere Kunst. Dies gehört eben auch zu dem ewig schwankenden, unfertigen Wesen des vierten Standes, daß in stetem Wechsel neue Gruppen desselben über Nacht wie Pilse aufschießen und am nächsten Abend schon wieder verfault sind, um andern Platz zu machen.

Wie der Begriff des vierten Standes sich nur annähernd geben läßt, so wird die Bilderreihe seiner einzelnen Bestandtheile noch viel weniger vollständig seyn können. Wer vermag beispielsweise den Umfang jener in sich selbst verschwommenen Gesellschaftsgruppe auszumessen, welche man in der Stadt unter dem Namen der »Bummler,« auf dem Land unter dem Namen der »Strohmer« zusammenfaßt!


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