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Drittes Kapitel.

Die Proletarier der Geistesarbeit.

Die Proletarier der Geistesarbeit sind in Deutschland die eigentliche streitende Kirche des vierten Standes. Sie bilden die große Heersäule der Gesellschaftsschicht, welche offen und selbstbewußt mit der bisher überlieferten socialen Gliederung gebrochen hat. Die Beweise liegen jetzt genugsam vor, daß der proletarische deutsche Handarbeiter im Großen und Ganzen noch keineswegs zum hellen Bewußtseyn seines socialen Standpunktes gekommen ist. Er kann im schlimmen Falle ahnen und wittern, daß er ein Vorkämpfer des Umsturzes der Gesellschaft sey, wie der Bauer instinctiv der Kämpe des conservativen Principes ist. Das Geistesproletariat dagegen weiß und fühlt sich als vierten Stand, es will die alte Gesellschaftsordnung in der Praxis wie in der Theorie niederreißen.

Ich fasse auch diese Gruppe des vierten Standes in ihrer ganzen Consequenz, im weitesten Rahmen. Beamtenproletariat, Schulmeisterproletariat, perennirende Predigtamtscandidaten, verhungernde akademische Privatdocenten, Literaten, Journalisten, Künstler aller Art, von den reisenden Virtuosen bis zu den wandernden Komödianten und den Drehorgelleuten und Bänkelsängern abwärts. Ueberschlägt man in Gedanken diese Legion der deutschen Geistesproletarier, dann muß man wohl zu dem Resultate kommen, daß in keinem Lande Europa's die in Rede stehende Gruppe des vierten Standes zahlreicher und mannichfaltiger vertreten sey als bei uns. Es liefert dies den Beweis, daß der Umsatz des materiellen Capitals der Nation unverhältnißmäßig zurücktritt neben dem Groß- und Kleinhandel, Schacher und Wucher, der mit dem geistigen Pfunde getrieben wird. Deutschland erzeugt mehr geistiges Produkt als es brauchen und bezahlen kann. Eine solche Überproduktion, die nicht bloß vorübergehend ist, sondern andauernd, ja stets im Wachsen begriffen, zeugt von einem krankhaften Zustande der gesammten Nationalarbeit, von einer widernatürlichen Vertheilung der Arbeitskräfte. Das Geistesproletariat ist eine weit schärfere Satyre auf den Nationalwohlstand als alles Fabrikarbeiter- und Bauernelend.

Wir stehen hier vor einem Zirkel. Die Geistesarbeit schießt ins Kraut, weil ihr der materielle Erwerb nicht hinreichend breite und tiefe Wurzel bietet, und diese Wurzel kann wiederum nicht zur rechten Entfaltung kommen, weil jeder Überschuß von Kraft aufwärts in das endlose Blätterwerk treibt. Darin liegt mancherlei Gefahr für Deutschlands sociale Zustände. Wie der vierte Stand in andern Ländern durch den plötzlichen und übergewaltigen Aufschwung der Industrie erzeugt wurde, so ist er in Deutschland wesentlich das Ergebnis einseitig überwuchernder geistiger Erhebung. Wir sahen oben, daß auch der deutsche Bürgerstand seinen überwiegenden Einfluß in der modernen Gesellschaft den zwei großen Tatsachen der geistigen Erhebung durch die Reformation und die classische Periode der neueren Nationalliteratur verdankt, während erst in jüngster Zeit die Industrie ihr Gewicht zu Gunsten des Bürgerthums in die Wagschale zu werfen beginnt. Das Ueberwuchern des Geistesproletariates ist die Kehrseite jenes fröhlichen Aufschwunges im Bürgerthum.

Andere Völker brauchen uns eben nicht zu beneiden um das Uebergewicht des Geistesproletariates über die Proletarier der materiellen Arbeit. Denn der Mensch wird viel leichter überstudirt als er sich mit seinen Händen krank arbeitet, und gerade das Geistesproletariat erzeugt die bösartigeren Krankheitsstoffe. Der Widerstreit des Erwerbs mit dem Bedürfnisse, der eingebildeten gesellschaftlichen Stellung mit der wirklichen ist bei dieser Gruppe des vierten Standes am unversöhnlichsten.

Die Proletarier der Geistesarbeit waren da, seit man überhaupt des Geistes Weben und Schaffen als Arbeit zu betrachten und auf den Markt zu bringen begann, und gar viele Männer, deren Bildsäulen die Geschichte in dem Pantheon des nationalen Ruhmes aufgestellt, waren nichts anderes als solche Proletarier. Aber in den Zeiten, wo das deutsche Nationalbewußtseyn fast nur in der Literatur und Kunst noch lebendig war, mußten die Proletarier der Geistesarbeit eine immer höhere Meinung von ihrer Bedeutsamkeit bekommen, und immer schneidender den Widerspruch empfinden, worin ihre materielle Stellung hierzu stand. Daß der Geist des vierten Standes in diese Proletarier gekommen, ist eine neue Thatsache. Weil das Zeitalter die Intelligenz auf den Thron gehoben, glaubten die großen und kleinen Leute, welche aus der Intelligenz Profession machten, daß sie selbst nun auch wenigstens auf Sammetpolstern sitzen müßten. Was von socialen Bewegungen im Sinne des vierten Standes in neuester Zeit in Deutschland auftauchte, das ist von den Proletariern der Geistesarbeit ausgegangen oder angeregt worden. Es ist eine furchtbare Ironie auf unsere Staatseinrichtungen, wenn man erwägt, wie im Jahre 1848 Subalternbeamte – also die eigensten Pflegekinder des Staates – in Masse für die Zerstörung der historischen Gesellschaft wühlten, während Bürger und Bauern und Taglöhner sich ruhig verhielten; und man könnte kein beißenderes Epigramm auf unsere öffentliche Erziehung schreiben, als wenn man die Durchschnittsziffer der verdorbenen Literaten ermittelte, welche alljährlich durch unsere gelehrten Staatsschulen zum Kriege gegen die Gesellschaft eingeschult werden. Gerade diejenige Gesellschaftsschicht, mit welcher sich der Staat in Deutschland zunächst befaßt und an der er fast ausschließlich seit Jahr und Tag gedoctort hat, das studirte Bürgerthum, ist am gründlichsten social zerfahren. Im Frankreich erlebten wir neuerdings auf anderm Gebiet ein Gegenstück hierzu. Je mehr sich zur Zeit der provisorischen Regierung der Staat als solcher mit den brodlosen Arbeitern befaßte, um so proletarischer, um so gefährlicher für die Gesellschaft wurden sie.

Die aristokratische Truppenschaar zum vierten Stande erschien uns als der verwitternde Abfall einer längst bestehenden und abgeschlossenen Gruppe der Gesellschaft: in dem Proletariat der Geistesarbeit dagegen erblicken wir eine ganz neue Gruppe, die sich, durch neue Culturströmungen emporgetrieben, erst zum Leben aufringt. Daher konnte ich die aristokratischen Proletarier nur nach dem schildern was sie nicht mehr sind, während ich die vorliegende Gruppe hauptsächlich nach dem schildern muß, was sie werden will. Dort bedingte der Mangel an Lebensthätigkeit den socialen Krankheitszustand, hier die Ueberfülle des widernatürlich auf einen Punkt gehäuften Schaffensdranges. Das aristokratische Proletariat geht zu Grunde, weil es am unrechten Orte in der Vergangenheit lebt, die Geistesproletarier, weil sie über dem Phantasiebild einer socialen Zukunft die Gegenwart vergessen. Während aber bei dem aristokratischen Proletariat, wie bei den schlechtweg sogenannten Arbeitern immer noch Trümmer von gesellschaftlicher Organisation des Standes übrig geblieben sind, indem jene noch an der Tradition der vollgültigen Aristokratie, diese an der Ueberlieferung des Handwerks, dem sie verwandt, in gewissem Grade festhangen, fehlt bei dem Geistesproletariat auch jeder Gedanke einer geschichtlichen Gliederung des Standes und der Arbeit, weil hier überhaupt eine Geschichte erst geschaffen werden soll. Es ist dieses daher in der That der vollendeteste Mikrokosmus des ganzen vierten Standes; die Idee desselben ist hier am umfassendsten verwirklicht.

Das Geistesproletariat rekrutirt sich aus allen Ständen; hier herrscht schrankenloseste Gewerbefreiheit, hier gilt keine Zunft, kein Fach, kein Meister, kein Geselle. Nicht bloß verdorbene Schneider, wie Weitling, auch verdorbene Grafen, wie St. Simon, versuchten es, nachdem sie andere Formen des Proletariates bereits durchgemacht, zuletzt noch einmal unter den Literaten. Und es ist, beiläufig bemerkt, charakteristisch genug, daß diese dunkle, unmeßbare Größe des vierten Standes, in welcher die Gegensätze zertrümmerter und neu aufsprossender Gesellschaftsschichten vereinigt liegen, in neuerer Zeit ihren ersten begeisterten Propheten in eben diesem Grafen St. Simon fand, dem heruntergekommenen Aristokraten, dem phantastischen Schwärmer, zur Hälfte in jugendkühnem idealistischem Aufschwung, und schon halb im Todeskampfe sein letztes Buch, »das neue Christenthum« verfassend.

Es schien mir lehrreich, eine aus dem Kleinen herausgearbeitete Musterung des Künstlerproletariates dem Leser vorzuführen. Nicht als ob dessen sociale Bedeutung so hervorragend wäre. Aber gerade in der Art und Weise wie sich aus den einzelnen Künstlerberufen die Ansätze zum Proletariate entwickelten, däuchte mir so anziehendes Material zur Erkenntnis der Genesis des vierten Standes überhaupt gegeben, wie kaum irgendwo anders.

Es wird uns nämlich die beachtenswerthe Erscheinung begegnen, daß der Künstler, je mehr er sich von seinem alten und natürlichen Zusammenhang mit dem bürgerlichen Handwerk losgerissen, je mehr er sich von der strengen äußerlichen Zucht technischer Lehr- und Gesellenjahre frei gemacht hat, und je mehr die alten künstlerischen Genossenschaften sich auflösten, immer entschiedener dem Proletariat in geistigem und materiellem Betracht verfallen ist.

Die Männer der bildenden Kunst, welche durch die ganze Technik ihres Kunstbetriebes gezwungen sind, auf dem festen Boden des Handwerks zu stehen, haben bis zu dieser Stunde den Geist des vierten Standes am meisten aus ihren Reihen fern gehalten. Die Musiker dagegen und Schauspieler, welche sich von der alten socialen Zucht der Corporation und des Handwerks fast ganz befreiten, haben dadurch eine förmliche eigene Familie des Künstlerproletariates ausgebildet.

Wir werden von den social gebundensten Künstlerberufen zu den social am meisten entfesselten vorschreiten.

Bei den bildenden Künsten kommen vorweg die Jünger der Baukunst hier kaum in Betracht. Der innigste Zusammenhang ihrer Kunstübung mit dem Handwerk und der Wissenschaft hat sie seit dem Mittelalter sehr entschieden in die Reihen des gewerbenden Bürgerstandes eingewiesen. Der zünftige Charakter war bei den Baukünstlern des Mittelalters aufs förmlichste ausgebildet. Die Bauschulen und Bauhütten sorgten dafür, daß nicht Jeder konnte zugelaufen kommen. Je leichter das Lehrgeheimniß einer Kunst zu ergründen scheint, desto mehr wird sie dem Zulauf solcher Leute ausgesetzt seyn, die nachgehends auf halbem Wege stehen bleiben, um sich dann als künstlerische Proletarier der wirklichen Künstlerschaft beizugesellen. Wenn die mittelalterigen Baugewerke ihr Lehrgeheimniß mit größter Eifersucht bewahrten, dann lag wenigstens der einfache Sinn darin, daß keiner sich für einen Eingeweihten der Kunst halten solle, der sich nicht in strenger Zucht zur Künstlerschaft hinaufgearbeitet hatte. Das Mittelalter hatte in seinen Corporationen ein Organ, um das Maß dieser Zucht festzustellen. Uns fehlt ein solches Organ und an dem Mangel desselben klebt das künstlerische Proletariat.

Man wird noch keine Sylbe von einem Proletariat der Baukünstler als einer socialen Gruppe gehört haben, während sich uns ein ganz eigen geprägtes Musikantenproletariat, ein Schauspielerproletariat merklich genug aufdrängt. Man wird auch nirgends von einem besondern Proletariate der Bildhauer hören, obgleich es schier mehr verdorbene als gerathene Bildhauer in Deutschland gibt. Denn auch bei diesem Künstler ruht die Hälfte seiner Meisterschaft im Handwerk. Er hat harte Lehrjahre durchzumachen, er arbeitet mühselig und langsam, während das Proletariat nur da sich einnistet, wo man gleich ernten kann, nachdem man gesäet hat. Sowohl das Studium als die Ausübung der plastischen Kunst setzt einen gewissen Capitalbesitz, eine »Auslage« voraus. Der Volksmund würdigt die Gediegenheit der Berufsgeschäfte mit gutem Mutterwitz nach dem Maße dieser Auslage, und stellt im Sprüchwort das Geschäft der Barbiere und der Musikanten als die leichtesten und lüderlichsten hin, weil beide keine Auslage haben. Der plastische Künstler errichtet eine Werkstätte, wo Lehrling und Geselle unter den Augen des Meisters arbeiten; dadurch ergibt sich schon ein Anflug von natürlicher Organisation in dieser Künstlergenossenschaft. Er kann auch nicht, wie die Musiker und Schauspieler, bei unstätem Vagabundiren seine Kunst ausüben, sondern ist dazu an den bestimmten Ort gefesselt. Durch seinen Bund mit dem Handwerk ist zugleich seiner Existenz ein fester Boden geschaffen. Er meißelt ja nicht bloß griechische Götter, sondern, wenn es etwa augenblicklich mit den reinen Kunstwerken nicht recht gehen will, achtet er es seiner Ehre nicht zu gering, auch im künstlerischen Handwerk sein Heil zu suchen. Und mit einer so realen Grundlage der Kunst geht am sichersten ein gediegenes bürgerliches Leben Hand in Hand.

Man kann es nicht genug preisen, daß die meisten alten Maler, namentlich die deutschen, sich so erstaunlich concentrirten in der Wahl ihrer Stoffe. Es gehört zum Wesen des Geistesproletariates, daß es nicht bloß in allen Ländern umher vagabundirt, sondern auch in allen Zweigen seiner Kunst oder Wissenschaft. Die Literaten, welche alles wissen und auf Verlangen in allem arbeiten, bezeichnen darum den Gipfel dieses Proletariates. Ein Meister, der bloß Madonnen und Heilige, oder bloß nüchterne und betrunkene Bauern, oder bloß Hirsche, bloß Rindvieh, bloß Schafe malt, wie das meist die alten gethan, kann gar nicht von dem auf weitester Peripherie herumtaumelnden Schwindelgeiste des vierten Standes angesteckt werden. Indem er seine Schöpferkraft energisch auf Einen Punkt zusammenfaßt, wird ihm auch im socialen Leben der Gedanke des unstäten Umherfahrens ein Gräuel seyn. Die treffliche künstlerische und sociale Rückwirkung einer strengen technischen Schulzucht zeigt sich leuchtend bei den Meistern der altitalienischen und altdeutschen Malerschulen. Diese Leute wußten ganz bestimmt, was sie lernen und bei wem sie lernen sollten; die Meister einer Kunstschule hielten auch äußerlich als in einer festgeschlossenen Genossenschaft zusammen, sie setzten ihrem Wirkungskreis aufs genaueste Maß und Schranke und standen darum in der Kunst wie im socialen Leben fest auf den Beinen. Bei dem modernen Geistesproletariat wird man niemals von einer bestimmten »Schule« reden können, da stäubt alles auseinander. Es wird z. B. niemand einfallen, von einer Berliner, Leipziger Literatenschule zu sprechen, weil hier zuletzt wohl doch wieder nur die allgemeine Zerfahrenheit das gemeinsam Charakteristische wäre. Es ist sehr bemerkenswerth, daß von dem Augenblicke an, wo man wieder von besondern Schulen der modernen Malerei zu reden begann, nicht bloß der proletarische Geist des Kunstideales schwand, sondern auch ein großer Theil der Maler, die vordem in der wirklichen Vasallenschaft des vierten Standes gestanden, sich wiederum zu größerer wirklicher bürgerlicher Selbständigkeit aufzuringen begann. In einer langen Zeit künstlerischen Verfalles war der Maler, sofern er nicht in Hofdiensten stand, dem ganzen Jammer des vierten Standes fast rettungslos preisgegeben. Mit den Malerschulen ist wieder Genossenleben und Genossenhilfe erwacht. Der Corporationsgeist bei den Malern hat bereits die Anforderung einer strengen technischen Schulzucht bedeutend gesteigert, damit die engere Genossenschaft rein erhalten bleibe von dem Eindringen meisterloser Schwindler, welche überall die wahren Apostel des Künstlerproletariates sind. Mit Freuden bemerkt man, daß seit dem höheren Aufschwung der modernen Malerei jene Schwärme halbreifer Porträtmaler bedeutend abgenommen haben, die ohne irgend eine feste Existenz gleich Irrlichtern im Lande umherfuhren, namentlich die Provinzialstädtchen und reicheren Dörfer brandschatzten und mit dem leichterworbenen Verdienste von der Hand zum Mund lebten, bis sie allmählich im Elend untergingen. Dagegen lebt jetzt eine verwandte Art des Proletariats unter den zahllosen Daguerreotypisten und Photographen auf. Allein insofern bei ihnen der Erwerb gewisser Handfertigkeiten fast ganz an die Stelle der künstlerischen Begabung tritt, gehören sie mehr dem Proletariats jener Fabrikarbeiter an, deren ganze Existenz von einer einzigen Manipulation abhängt, die nur so lange ihren Werth behält als die Maschine, womit sie arbeiten, in ihrem jeweilig unvollkommenen Zustande bleibt. Bei den Musikern stoßen wir vorerst auf ein vollständig ausgeprägtes Künstlerproletariat. Die Musiker bildeten bis tief in's achtzehnte Jahrhundert hinein eine ziemlich festgeschlossene Genossenschaft. Wer ein Meister der Tonkunst werden wollte, der mußte als Calicant, als Chorsänger, als Stadtpfeifer oder Zinkenist – also beim Handwerk – seine Künstlerlaufbahn beginnen; dann stand ihm aber auch in den zahlreichen fürstlichen und gräflichen Privatcapellen, die fast sammt und sonders eingegangen sind, und in den gleichfalls bedeutend verminderten Cantoren- und Organistendiensten die Aussicht einer gesicherten bürgerlichen Existenz offen. Man pflegt so selten vom socialen Standpunkte aus einen Blick auf die Kunstentwickelung zu werfen, und doch ist es z.B. unzweifelhaft, daß der Verfall des heiligen römischen Reiches nicht wenig zum Verfall der ächten deutschen Kammermusik beigetragen hat; denn als es nicht mehr so viele Fürsten im Reiche gab, wie Tage im Jahr, gab es auch nicht mehr so viele Hofcapellen; dadurch ward wiederum der Instrumentalmusik recht eigentlich ihr festes Brod entzogen, der alte solide Kammermusikus verwandelte sich in den modernen fahrenden Virtuosen, und mit der socialen Stellung der Künstler ward Weg und Ziel der ganzen instrumentalen Kunst vollständig verrückt. Der musikalische Lehrling des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts suchte die Meister auf und arbeitete bei ihnen ganz so, wie es bei den Gewerken, wie es bei den alten Malerschulen Sitte war. Der musikalische Dilettantismus war erst im dürftigsten Keime vorhanden, und es fiel keinem Dilettanten ein, der etwa in seiner bürgerlichen Existenz Schiffbruch gelitten, nun flugs unter die Musiker zu gehen und da als Meister sein Brod zu gewinnen, wo er doch niemals als ordentlicher Lehrling gearbeitet hatte. Die musikalischen Körperschaften schlossen sich sehr strenge ab. So hatten z.B. die sogenannten »gelernten Trompeter,« welche durch eine strenge, bis auf's Tüpfelchen geordnete Schulzucht gegangen waren und ihre Zungenstöße als ein heiliges Lehrgeheimniß bewahrten, ihre besondern bis zu Josephs II. Zeit erneuerten kaiserlichen Privilegien und ließen keinen »ungelernten« mit sich blasen, der, nicht zur Zunft oder, wie sie es nannten, zur »Kameradschaft« gehörte. Das mag Zopf gewesen seyn; es steht aber doch kunstgeschichtlich fest, daß es diese Leute bei ihrer strengen Zucht zu einer fabelhaften Kunstfertigkeit brachten, und einem modernen Trompeter müssen sich die Haare sträuben, wenn er liest, mit welch wunderbaren Fanfaren so ein alter gelernter Hoftrompeter die hohen Herren alltäglich zu Tafel blies. Und wenn man erwägt, daß Händel und Bach und die andern ehrwürdigen Altmeister in der Zucht eben solch strenger Schule aufgewachsen sind, und in der Beschränkung eines engen, aber gefesteten bürgerlichen Daseyns gewirkt haben, dann müssen diese zopfigen Verhältnisse doch wohl auch mit der freien künstlerischen Genialität verträglich gewesen seyn.

Gegen all dieses halte man nun einmal die Spitze des modernen musikalischen Proletariats, das fahrende Virtuosenthum. Künstler, die heimathlos durch die alte und neue Welt ziehen, nicht aus ihrer Kunst selber, sondern aus dem äußerlichsten Gaukelspiele mit derselben Profession machend, angespornt durch den Ehrgeiz des augenblicklichen Erfolges, in das Abenteuerliche ihrer Maske nicht selten den ganzen Zauber ihres Künstlerthums setzend; nach raschem, leicht verdientem Gewinn begierig, in ihrer ganzen Existenz der Grille eines täglich wechselnden Publikums preisgegeben! Die Erntetage des Virtuosenproletariats traten immer da ein, wo die Nation in ihre tiefste Erniedrigung versunken war. So florirte das Proletariat der Gesangvirtuosen, das Kastratenthum, an den Höfen zur Zeit ihrer größten Verderbtheit im achtzehnten Jahrhundert, während sich die gediegene Tonkunst gerade damals in den Schooß des tüchtig gebliebenen Bürgerstandes zurückgezogen hatte. Die Instrumentalvirtuosen hatten ihre besten Tage in den beiden Restaurationsepochen der zwanziger und dreißiger Jahre. Mit dem höhern Aufwallen des nationalen und politischen Lebens in dem eben verstrichenen vierten Jahrzehent nahmen diese Nomadenzüge zusehends ab. In den Tagen des literarischen und musikalischen »jungen Deutschlands« war jenes Virtuosen-Proletariat, welches in der Buhlerei mit der eigenen kleinen Persönlichkeit die Spitze seiner Kunstleistungen fand, zum letztenmale wie Unkraut an allen Wegen aufgesproßt. Schlägt man in den Geschichtsbüchern der Tonkunst die Lebensläufe der fahrenden Virtuosen nach, dann ist es einem als ob man in ein großes Spital von bürgerlich, sittlich und künstlerisch Kranken träte, in ein Musterhospital, bequem eingerichtet zum Studium der ausgesuchtesten socialen und sittlichen Gebrechen. Es gibt nur eine Gruppe, die in solch pathologischem Betracht vielleicht noch etwas lehrreicher ist, die Gruppe der fahrenden Literaten. Die fahrenden Virtuosen klammern sich an einen Beruf, der nie und nimmer eine volle Manneskraft erfüllen kann, sie sind dabei genöthigt, einen Glanz des äußern Lebens zu erheucheln, der ihnen in Wirklichkeit gar fern liegen mag, und gelangen durch diesen inneren Widerspruch zu jener bürgerlichen und künstlerischen Zerfahrenheit und Blasirtheit, welche heute in der Stimmung eines Opiumrausches auf Welt und Menschen herabblickt, und morgen in der Stimmung eines Opiumkatzenjammers. Der fahrende Virtuose will sich befreien von den bürgerlichen Schranken des Künstlers, er will seine Kunst befreien von der Zucht der Schule wie des Gedankens, er ist das schlagendste Exempel des vierten Standes unter den Künstlern, der über sich selber hinaus, der alle geschichtliche Organisation des Kunstschaffens und Künstlerlebens niederreißen will.

Als ein merkwürdiges Phänomen erscheint es übrigens, daß das fahrende Virtuosenthum bei den Musikern historisch ist, und sich durch die ganzen zwei letzten Jahrhunderte verfolgen läßt. Wir finden im siebzehnten Jahrhundert musikalische Abenteurer in ferne Meere verschlagen, wir lesen im achtzehnten von »Kunstreisen« nach der Türkei, nach Armenien. Und in der Regel begegnen wir dabei denselben Charakteren voll innern Zwiespaltes, in bürgerlicher und künstlerischer Zerfahrenheit zu Grunde gehend, wie bei dem modernen Virtuosenproletariat, nur mit dem Unterschiede, daß jene proletarischen Musiker der alten Zeit als Ausnahme, wenn auch in stätiger Reihenfolge auftreten, während sie bei uns zur überwiegenden Masse zu werden drohen. Der alte Neubauer, der, um als freier Künstler zu leben, bettelnd von Kloster zu Kloster zieht, und, mit Schillers Geiger Miller zu reden, »das Concert für was warmes gibt,« und für eine Nachtherberge seine Tonsätze verschleudert, die er anfangs im Weinrausche, später branntweintrunken in Kneipen oder auch auf den Hausfluren liegend, abgefaßt hat – dieses denkwürdige Exempel einer tief angelegten, aber verlüderlichten Genialität ist ein rechtes Musterbild des alten fahrenden Musikantenproletariats. Und als hätte dieser wunderliche Mann empfunden, daß es mehr ein socialer als ein künstlicher Zwiespalt sey, der in seiner und seines Gleichen Person in die Künstlerwelt geschleudert werde, forderte er seinen entschiedensten socialen Gegenfüßler zum musikalischen Zweikampfe heraus, den ehrsamen Bückeburger Bach, der ein so schnurgerechter Bürger und Musiker war, daß er sich ein für allemal die Stunden festgesetzt hatte, in welchen an jedem Tage componirt werden mußte. Hier öffnet sich dem Freunde der Culturgeschichte eine ganz neue Welt voll der schroffsten Gegensätze. Die gemeine Redeweise sagt: jeder Musikant habe einen Sparren zu viel im Kopfe; das heißt in's Schriftdeutsche übersetzt: die Geschichte der Musik ist unendlich reich an socialen Originalstücken – und keiner hat sie noch bis jetzt nach dieser Richtung ausgebeutet.

Das fahrende Virtuosenproletariat zieht sich durch alle Stufen des Ranges abwärts vom feinsten Salonspieler bis zu den wandernden Kirmesmusikanten und den Drehorgelleuten. Man hört bei den Landleuten neuerdings wieder häufig die Klage, daß seit der Revolution »Alles von der Musik leben wolle.« Dies zielt auf die eben bezeichnete unterste Hefe des musikalischen Proletariats, welches sich in der That erstaunlich zu mehren beginnt. Der Bauer empfindet das Unheimliche dieser Erscheinung, denn er weiß, daß jeder dieser Jahrmarktsvirtuosen eine gebrochene bürgerliche Existenz darstellt.

Es gibt aber auch eine Klasse fahrender Musiker, die keineswegs zum vierten Stande zählt, ob die Leute gleich nur in Kitteln aufziehen. Dies sind die seßhaften Dorfmusikanten, die in einer außerordentlich großen Zahl über ganz Deutschland verbreitet sind, und entweder im Sommer den Ackerbau treiben und im Winter die Musik, oder im Winter ein Handwerk und die Musik im Sommer. Da selbst in den kleinsten Dörfern in der Regel wenigstens Ein solcher Künstler sitzt, der dann in den statistischen Tabellen als »Musikant« aufgezählt wird, wo er doch viel richtiger unter die Bauern zu zählen wäre, so kommt gewöhnlich bei den Bevölkerungslisten eines Landes eine ganz fabelhafte Zahl von Tonkünstlern heraus. Es liegen mir z B. solche Listen über das Herzogthum Nassau vor, wornach in diesem ackerbautreibenden, von großen Städten ganz entblößten Land je auf tausend Einwohner – also Weiber und Kinder mitgerechnet – Ein Musikant käme, was ein entsetzliches musikalisches Proletariat erwarten ließe, wenn nicht diese Ueberzahl von Künstlern nebenbei an der Hobelbank, am Webstuhl oder hinter dem Pfluge einer ganz leidlichen bürgerlichen Existenz sich erfreute. So sind die meisten jener böhmischen und fuldischen Musikanten, welche in so großer Zahl die Welt durchziehen, keineswegs vagabundirende Proletarier, sondern meist Leute, die daheim eine Werkstätte oder ein kleines Gütchen wieder finden, wann sie nach jeder Wanderfahrt auf eine Weile nach Hause gehen. Diese vielbesungenen wandernden Musikanten tragen daher auch nichts weniger als das Gepräge der Blasirtheit und socialen Zerrissenheit, vielmehr finden wir bei ihnen meist die gesunde Natur des Bauern oder Handwerksmannes wieder, nur durch die künstlerische Nebenarbeit in eine gemüthlichere und liebenswürdigere Form gegossen.

Ich komme zu den Schauspielern. Sie waren früher das Künstlerproletariat als solches, die von der bürgerlichen Gesellschaft Ausgestoßenen, die Parias der Künstlerwelt, der historische und uranfängliche vierte Stand unter den Künstlern. Das ganze Wesen der dramatischen Kunstübung drängt zur Genossenschaft, und in der That hat sich früher ein ziemlich strenges Zunftwesen bei den Komödiantentruppen, die unter dem eisernen Scepter des »Komödiantenmeisters« standen, durchgebildet. Allein die Zunft auf der Bühne vermochte höchstens für die strenge handwerkliche Zucht der Einzelnen einige gute Früchte zu tragen, sonst sind die alten Schauspieler dabei so proletarisch und armselig gewesen, wie nur irgendwann. Dies ist ganz natürlich. Nicht aus dem Drang, sich in der Genossenschaft einen festeren bürgerlichen Bestand zu gründen, waren die alten Komödiantenbanden zu einer Zunftordnung getrieben worden, sondern einmal durch die gebieterische Notwendigkeit der Bühnendisciplin, und dann durch den socialen Verruf, welchen ihnen die ganze bürgerliche Gesellschaft entgegengeschleudert hatte. Die Bürgerschaft selbst hatte den Schauspielern den vierten Stand aufgedrungen, indem sie dieselben aus ihrem Kreise ausgeschlossen hatte. Das Genossenleben der Schauspieler übte also viel mehr künstlerische als sociale Einflüsse. Der Komödiant, dem man kein ehrlich Begräbniß gönnte, zählte überhaupt kaum im socialen Leben. Schon das ewige Wandern, zu welchem die ganze Genossenschaft verdammt war, mußte den proletarischen Geist bei derselben einbürgern. Erst allmählig begann durch die Hoftheater und stehenden Stadtbühnen für den Schauspieler die Möglichkeit, sich bürgerlich seßhaft zu machen und aus den proletarischen Verhältnissen herauszutreten. Allein die Wandertruppen haben wohl heute noch wenigstens der Masse, wenn auch gottlob nicht dem künstlerischen Einfluß nach, das Uebergewicht. Und daß die Vorliebe für die Seßhaftigkeit selbst unter den Mitgliedern der stehenden Bühnen noch nicht allzugroß geworden, dafür bürgt wenigstens der Umstand, daß das einzige gemeinsame Band, welches bis jetzt (1851) die größeren Bühnen Deutschlands umschlingt, ein Kartellvertrag – wider das Durchgehen der Schauspieler ist!

So arm und elend aber die wandernden Schauspieler in der Regel sind, so deutlich alle Wahrzeichen des vierten Standes bei ihnen hervorleuchten, so finden wir hier doch durchschnittlich keineswegs jenes gefährliche Proletariat, welches aus Neid, Zorn und Aerger die ganze Gesellschaft über den Haufen werfen will, oder wenigstens gleich dem nobeln musikalischen Proletarier, heute abgespannt, morgen überreizt, übernächtigen Blickes dreinsieht, als habe es, wie die Rheinländer sagen, die Pfalz vergiftet. Der wandernde Komödiant ergibt sich in sein Elend mit Humor, er hat es gar nicht besser haben wollen, er ist in dem Bewußtseyn zu seiner Truppe gegangen, daß er hiemit jeder Anwartschaft auf eine feste bürgerliche Stellung entsage, er hat wohl gar seinen Familiennamen mit einem Phantasienamen vertauscht, weil er selbst den Zusammenhang mit seiner Familie im Bühnenleben vergessen will. Ob er gleich in der Regel blutwenig Kenntniß von der Geschichte seiner Kunst und seines Berufes besitzt, so weiß er doch das eine mindestens, daß die wandernden Komödianten seit unvordenklichen Zeiten die vollgültigsten Proletarier gewesen sind. Er stellt sich geflissentlich auf jenen naiven Standpunkt der guten alten Zeit, wo der Elende sein Elend hinnahm als etwas Gegebenes, bei welchem man nicht nach dem Warum fragt, als eine Thatsache der ewigen Weltordnung, darüber kein Grübeln und kein Protestiren hinaushilft. Obgleich die fahrenden Schauspieler vielleicht die allergrößte Ursache hätten, über einen durch Jahrhunderte an ihnen verübten Frevel der historisch-bevorrechteten Gesellschaft empört zu seyn, so verfallen sie doch am wenigsten auf diesen modernen Gedanken. Wie der mittelalterige Proletarier sein Elend hinnahm aus Gottergebenheit, so nehmen sie das ihrige hin aus Leichtsinn. Diese wandernden Komödianten, welche nicht einmal über den Jammer ihres Standes hinaus wollen, sondern gerade in ihrer Pariastellung sich ebenso behaglich fühlen, wie der Zigeuner in seinem Landstreicherleben, sind eine der seltsamsten Ausnahmen in dem modernen socialen Leben und darum der höchsten Beachtung werth. Viele der fahrenden Schauspieldirektoren, namentlich bei den kleinern und wildern Truppen, welche man in Oesterreich »Schmieren« nennt, machen ihren periodischen Bankerott, der alljährlich im Frühjahr so gewiß eintritt, als etwas später der Wald grün wird. Wenn sich die Mitglieder im Herbste zu einer solchen »Schmiere« anwerben lassen, dann wissen sie recht gut, daß sie trotz ihres Contraktes in den ersten Monaten auf volle, in den spätern auf halbe Gage und in den letzten auf Theilung spielen werden. Sie nehmen das vorweg als eine vollendete Thatsache hin, über welche kein Mensch hinaus kann, und werden durch dieses proletarische Leben mindestens nicht zum Communismus bekehrt, denn sie wissen aus alter Erfahrung, daß bei dem Spielen auf Theilung noch weniger für den Einzelnen herausspringt, als bei dem vorhergegangenen Stadium der halben Gage. Mit dem einbrechenden Lenze, wo ja überhaupt die Wanderlust erwacht, wandert dann die versprengte Truppe in dem großen Collektantenschwarm, der die festangestellten und gutbesoldeten Collegen in den Hauptstädten periodisch heimsucht, in's Weite. Dieses Collektiren der Schauspieler, wobei oft weit erklecklichere Summen herauskommen als wenn man auf Theilung spielt, ist ein höchst interessanter Ueberrest des allen genossenschaftlichen Wesens. Selbst dem geizigsten Mitgliede der Hof- und Stadt-Theater ist es in der Regel Ehrensache, dem collektirenden Bruder in Apollo reichlich zu geben: bei vielen Theatern bestehen nebenbei auch noch eigene Hülfskassen zu diesem Zwecke, und nur wenn man sich einmal überzeugt hat, mit welch schönen Ziffern diese Collektantenlisten meist bedeckt sind, begreift man, wie es zugeht, daß nicht ein bestimmtes Procent der wandernden Komödianten allsommerlich Hungers stirbt. Dem Hofschauspieler erscheinen diese Spenden wie eine Art progressiver Einkommensteuer, die von der gesammten deutschen Bühnengenossenschaft stillschweigend auf seine hohe Gage gelegt ist.

Man sieht also, daß hier in aller Unordnung und Auslösung doch wieder ein Schatten gemüthlichen Genossenlebens übrig bleibt, an welchem manche andere Gruppe des vierten Standes sich immer noch ein Exempel nehmen könnte. Bei diesem Schatten hat es dann freilich sein Bewenden. Die im Großen und Ganzen wenigstens gescheiterten Plane neuester Zeit zur Herstellung umfassender Pensions- und Hülfskassen für den gesammten deutschen Schauspielerstand, und überhaupt zu einem durchgebildeten, die materielle Existenz des Einzelnen festigenden Corporationswesen, haben abermals den Beweis geliefert, daß mit den stehenden Bühnen noch lange nicht der in's Weite schweifende proletarische Geist bei der großen Mehrheit des begünstigteren Schauspielerstandes gebrochen ist. Man kann mit Kreuzern, man kann auch mit Louisd'ors von der Hand zum Mund leben. Wenn ein Hofschauspieler, der sich mit seiner kinderreichen Familie einen vergnügten Neujahrsabend machen will, sechs Flaschen Champagner kommen läßt, dazu aber auch für sechs Kreuzer Scheitholz einzukaufen befiehlt, damit man den Feuerwein im Warmen genießen könne, so ist damit das Proletariat im Schooße des Ueberflusses wohl greifbar, genug gezeichnet. Und dieses Beispiel ist nicht erfunden, es ist geschichtliche Thatsache, zu der sich noch viel lustigere fügen ließen. Nirgends sehen wir öfter aus baarem Muthwillen eine festbegründete materielle Existenz aufgeben, als bei den seßhaften Schauspielern, für die das Wanderproletariat noch seine Poesie hat. Männer, die sich von der Pike heraufgearbeitet hatten und bürgerliche und künstlerische Ehren die Fülle besaßen, haben sich noch in alten Tagen zurückgesehnt nach dem Vagabundenleben der Wandertruppe, sie haben die alten Genossen wieder beneidet, welche auf Martini volle Gage beziehen, zu Weihnachten auf halben Sold gesetzt werden, um Lichtmeß auf Theilung spielen und um Johanni betteln gehen.

Wir haben nach alle dem in den wandernden Komödianten Candidaten des vierten Standes vor uns, welche von Alters her wie außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehend angesehen, wurden und dennoch keinen Groll auf dieselbe werfen – Proletarier, welche in Leichtsinn und Humor ihr sociales Elend verwinden, wie die andern in Groll und Rachsucht oder in dem harmloseren Schwindel einer allgemeinen Weltverbesserung; Leute, welche mit der historischen Gesellschaft zerfallen und doch nicht mit ihr verfeindet sind, indem sie die geheime Schmach in ihrer Pariastellung wegspielen, weggaukeln, wegträumen, wegtrinken und den seßhaften Philister verachten, den sie nicht beneiden können. So war es schon vor Jahrhunderten, als Kaiser Heinrich III. seinen Palast zu Ingelheim bei dem Zuströmen einer unendlichen Menge der histriones und joculatores nicht anders rein halten konnte, als indem er befahl, diesen dramatischen Künstlern nichts mehr zu essen und zu trinken zu geben: so ist es heute noch. Weil, gegen die lange Leidensgeschichte dieses Standes sein modernes sociales Elend wie eine Spielerei erscheint, so ist es ihm leicht gemacht, spielend die socialen Kämpfe der Gegenwart zu verlachen.

Die Leute, welche auf die Dichtkunst ihren ausschließlichen Erwerb gründeten, sind, wie bekannt, allmählich ausgestorben seit im sechzehnten Jahrhundert die Zunft der Hofpoeten in die Zunft der Hofnarren aufzugehen begann. Das weitgespannte Zelt des Literatenthums herbergt jetzt auch denjenigen, der vordem als poeta laureatus in fürstlichem Brod gestanden haben würde. Wir gehen also zu dem wunderlichen socialen Phänomen der modernen Literaten über.

Man kann sagen, das Literatenthum in Deutschland ist erst beiläufig zwanzig Jahre alt. Denn so lange mag es ungefähr her seyn, daß eine ganze zahlreiche Klasse von Gebildeten die Schriftstellerei als Gegenstand des alleinigen Erwerbes, als Grundlage eines vollen materiellen Bestandes aufzufassen begann. Zu unserer Großväter Zeiten noch war mit Büchern und Zeitungen für den Schriftsteller blutwenig Geld zu verdienen, und wenn sich ja einmal ein armer verunglückter Student ausschließlich in den Tagelohn der Buchhändler begab, so verstand sich bei ihm das obligate Loch im Rockärmel und die Dachstube von Hogarths gequältem Dichter ganz von selber. Die kümmerlichen Honorare, welche die Heroen unserer klassischen Literaturepoche für ihre dem Verleger mitunter sehr einträglichen Meisterwerke bezogen, sind vielfach im einzelnen bekannt. Wer sich überzeugen will, daß selbst die geistvollste Tagesschriftstellerei in den hiefür doch am empfänglichsten gestimmten Tagen der ersten französischen Revolution nur einen gar mageren Verdienst gewährte, der mag Georg Forsters kummervolle Briefe nachlesen. Dabei darf man aber auch nicht vergessen, daß zu selbiger Zeit in den zahlreichen Sinecuren von Historiographen, Bibliothekaren, fürstlichen Privatsekretären und besoldeten Titularräthen aller Art dem bekannteren Schriftsteller nicht selten eine sorgenfreie literarische Thätigkeit vergönnt wurde, und daß diese Stellen jetzt in eben dem Maße zusammengeschrumpft sind, wie die ehemaligen Hofcapellisten- und Organistendienste, und, wollte man sie erneuern, gewiß die landständische Censur nicht mehr passiren würden. In etwas späterer Zeit sehen wir wohl eine Reihe publicumsbeliebter Roman- und Schauspielschreiber auftreten, die sich ein ganz hübsches Auskommen zusammengeschrieben haben mögen: allein das waren dazumal eben so rare Ausnahmen, wie heutzutage ein Literat, der durch seine Feder reich wird. Kein Mensch dachte bis gegen die neueste Zeit daran, durch ein Zeitungsunternehmen schriftstellerische Existenzen zu garantiren. Die Originalartikel jener culturgeschichtlich bedeutenden Zeitungen des achtzehnten Jahrhunderts sind wohl größtentheils milde Gaben gewesen, wenn auch aus den Federn der gefeiertsten Schriftsteller. Vollends bei den meisten politischen Tageblättern vertrat bis tief in die Gegenwart herein der Rothstift und die Papierscheere ausschließlich die Stelle des Honorarbudgets. Die Periode des eigentlichen modernen Journalismus hatte sich seit den Befreiungskriegen vorbereitet: sie brach herein als mit der Julirevolution die Geister aufs neue aufgerüttelt wurden. Mit dem Journalismus kamen die eigentlichen Literaten, und ihre Masse wuchs mit der von Jahr zu Jahr mehr anschwellenden Corpulenz desselben. Aber der Journalismus war noch keine selbständige Macht, und doch hatten wir nun schon eine Journalisten-Genossenschaft, welche eine selbständige Macht seyn wollte. Es hätte von Rechtswegen umgekehrt gehen müssen. Der Journalismus war im vormärzlichen Staate nur geduldet wie weiland die Schutzjuden; die Literaten aber wollten keineswegs Schutzjuden seyn. In dem Seitenblick auf englische und französische Preßverhältnisse schwelgend, begann das deutsche Literatenthum sich zu fühlen, und doch waren solche Zustände in Deutschland noch gar nicht vorhanden. Die Nation war reicher geworden an politischem Geiste; aber reicher für die Tagesschriftsteller war sie darum durchaus nicht. Nicht die Steigerung der buchhändlerischen Rente, sondern der sehr unangenehme äußere Zwang der gesteigerten Concurrenz hatte die Buchhändler bestimmt, der schriftstellerischen Industrie mindestens einen Bettelpfennig zu gewähren. Das Literatenthum als Profession, als Stand war in Deutschland eine verfrühte Erscheinung, ein sociales Siebenmonatskind.

Daraus läßt sich folgern, daß die deutschen Literaten, ob sie schon mit den ersten Anfängen des Journalismus gleichzeitig auftauchten, doch nicht durch denselben ans Licht gerufen worden seyen. Im Gegentheil könnte man vielleicht richtiger sagen, das vor der Zeit zur Welt gekommene Literatenthum habe selber erst im Drang der Noth die gleich ihm halbreife Zangengeburt des modernen Journalismus zu Tage gefördert.

Das deutsche Literatenthum war in seinen Anfängen der Ausfluß einer socialen Krankheit. Die Ueberschätzung der geistigen Arbeit, die Mißachtung der gewerblichen hatte sich seit dem Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts – von wo die alte kernfeste Tüchtigkeit des Gewerbsmannes allerdings in dem Maße zu wanken begann, als der gelehrt-literarische Aufschwung der Gebildeten seinem Höhepunkte zustrebte – wie ein zehrendes Fieber der ganzen Generation bemeistert. Das ist die Kehrseite des geistigen Aufschwunges im deutschen Bürgerthum. Von oben und unten ward diese krankhafte Einseitigkeit unterstützt, in der wir selber wohl zum größten Theile noch in unserer Jugend befangen waren. Der bureaukratische Staat ignorirte möglichst die selbständigen Mächte der Industrie und des Handels, weil seinem Grundsatze gemäß die Gelehrten- und Beamtenwelt den politischen und socialen Ausschlag geben sollte. In der ganzen langen Restaurationszeit seit den Befreiungskriegen waren die jeweiligen Helden des Tags: Beamte (nicht Staatsmänner), Literaten, Virtuosen und Sängerinnen. Wie in den Tagen der Kreuzzüge alles zum Schwerte griff, und wer kein Schwert gewinnen konnte, wenigstens zum Stecken, wie damals Kinder selbst sich zu einem Kreuzesheere zusammenthaten und die Weiber sich in die Reihen der Kämpfer mischten, so stürmte jetzt alles zum wissenschaftlichen Studium; die Weiber strickten und spannen Bücher, und Kinder spielten mit der Geige und mit der Literatur und wurden, vom Scheitel zur Sohle kaum drei Fuß hoch, doch schon Kunst- und Literaturgrößen. Die Donquixoterie der literarischen Ehrsucht ist einer der bedeutsamsten socialen Charakterzüge der neuesten Zeit. Der Handwerksmann, welcher vordem seinen größten Stolz darein gesetzt hatte, daß Kinder und Kindeskinder in seinem eigenen Gewerbe fortarbeiteten, glaubte jetzt seinem Sohne keinen bessern Freibrief durch's Leben mitgeben zu können, als indem er ihn studiren ließ. Arme Wittwen hungerten und bettelten, um nur ihre Kinder studiren zu lassen, sie weinten vor Freude, wenn sie dieselben für das also gewonnene Schmerzensgeld dem Privilegium – des Beamtenproletariats entgegenführen konnten. Es war als ob der einzige menschenwürdige Beruf nur aus dem Besitz der fadenscheinigen Weisheit irgend einer Brodwissenschaft – oder auch einer brodlosen – quellen könne, als ob andererseits der nur ein halber Mensch sey, der nicht acht Jahre lang seinen Bröder und Buttmann gelernt, um ihn im neunten wieder zu vergessen.

Eines der naturnothwendigen Produkte dieser krankhaften Zeitstimmung war das vorzeitige Entstehen des deutschen Literatenthums. Bei tausend Unberufenen war der Ehrgeiz zur ausschließlichen Triebkraft der Geistesarbeit geworden, und dieser Ehrgeiz konnte in der Tagesschriftstellerei ein rasch und mühelos errungenes, wenn auch noch so geringfügiges Genügen finden. Wer ernten wollte, ohne gesäet zu haben, wurde Literat. Wie das Literatenthum selber eine vorweggenommene Erscheinung war, so steckte es auch wiederum meistentheils sein Ziel dahin, das Idol des Zeitalters, den Ruhm der Geistesgröße vorwegzunehmen. Und der halbfertige Student z. B. nahm seinerseits als Literat sogar noch einen Beruf vorweg, eine Existenz, die ihm von Rechtswegen erst nach weiterer jahrelanger saurer Arbeit zugestanden hätte. Der gefährliche Vorsatz, durchs Lehren lernen zu wollen, schuf zahllose halbreife Literatenexistenzen. Darum haben die guten Mispeln und die schlechten Literaten das Gemeinsame, daß beide schon zu faulen beginnen, wo sie eben erst halb reif sind. So erschien der Literat in wissenschaftlichem Betracht als ein widerspruchsvolles Zwittergeschöpf, wie er das dann auch gesellschaftlich werden sollte; die Spannkraft zu einem ernsten Studium, zu einem tüchtigen, praktischen Wirken ging rasch verloren, während es doch gerade sein eigenster Beruf hätte seyn müssen, das ernste Studium in die Münze des praktischen Lebens umzusetzen. Der Bauer würde von einem solchen halben Manne sagen, er sey für den Wagen zu kurz und für den Karren zu lang.

Der Ehrgeiz als alleinige Triebkraft der Geistesarbeit erzeugt aber auch jenen luftigen Sybaritismus im bürgerlichen Leben, der einen großen Theil unserer Tagesschriftsteller kennzeichnet. Die Prahlerei mit vornehmen Wesen, mit glänzendem Hausrath, mit goldenen Ketten und Champagner haben sie den französischen Schriftstellern glücklich abgeguckt, da sie ihnen doch den Erwerb der hohen überrheinischen Honorare noch nicht haben abgucken können. Und wo diese Vornehmthuerei nicht in natura ausgeführt werden kann, da sucht sie sich wenigstens überall in der Schreibart vorzudrängen. Es läßt sich kaum eine größere Selbstironie denken, als wie sie in jenem hochgebornen Styl steckt, der namentlich in den Zeiten des jungen Deutschlands bei deutschen Feuilletonisten und Belletristen Mode war. Prüft man diese Schreibart, die möglichst mit Salonsausdrücken um sich wirft, die Anschauungen der vornehmen Welt als die natürlichen, angestammten des Autors heuchelt, und die verzwickte, verschnürte Redeweise der sogenannten »feinen Gesellschaft« als etwas neues, geniales und frisches in unser Schriftthum wieder eingeschmuggelt hat, dann sollte man meinen, unsere Literaten seyen allesammt auf Parquetböden großgewachsen, und müßten stolpern, wenn sie einen Fuß auf die grob gehobelten Dielen in eines Bürgers oder Bauern Stube setzten. Und doch ist der Verfasser in der Regel wohl ein ganz armer Schelm gewesen, dem es sauer genug geworden ist, die lebenswarmen Anschauungen, die derben naturwüchsigen Ausdrücke der Gesellschaftschicht, in welcher er aufwuchs, wieder abzustudiren und die fremden vornehmen Phrasen dafür einzutauschen. Das ist eben der Fluch der modernen Schriftstellerei, daß sie – im Geiste des vierten Standes – die Gesellschaftsschicht zu verläugnen sucht, in welcher sie von Alters her ihre Wurzeln getrieben hat.

Vom literaturgeschichtlichen Standpunkt hat man diesen Gedanken schon längst dahin ausgesprochen, daß unsere neuere Nationalliteratur ausschließlich eine Literatur der Gebildeten, nicht des ganzen Volkes geworden sey. Es gilt aber auch, die Wahrheit dieses Satzes vom socialen Standpunkt aus anzuerkennen. Früher war es die Gelehrtenaristokratie, welche sich wissenschaftlich und gesellschaftlich von ihrem natürlichen Boden, dem Bürgerthum, abzulösen suchte, jetzt ist es das Gelehrtenproletariat. So finden wir auch bei den musikalischen Genossen des vierten Standes die Schreibart der sogenannten »Salonsmusik« ausgebildet, in welcher gleichsam der ehrenfeste bürgerliche und volksmäßige Styl der alten Meister zum Baron übergeschnappt ist, da doch die Schöpfer desselben keineswegs Barone geworden, sondern vielmehr durchschnittlich aus dem dritten Stand in den vierten zurückgegangen sind. Die Versöhnung des Schriftthums mit dem Volksthum kann keineswegs auf literarischem Wege (etwa durch das jetzt wieder in Mode kommende Liebäugeln mit volksthümlichen Redewendungen) gestiftet werden, sondern nur auf socialem. Wenn sich der gelehrte Aristokrat oder Proletarier erst wieder einmal in aufrichtiger Hingabe an das Leben des Bürgerthums erfrischt und gekräftigt hat, dann wird sich auch seine Schreibart verjüngen und kräftigen. Aus der Rede und Anschauung des Bauern leuchtet die alte derbe Naturkraft unserer Sprache, aus der Rede des Bürgersmannes die reiche, breite Fülle ihrer frühlingskräftigen Entfaltung, aus der abstrakten, abgeglätteten, gebürsteten und modisch ausgebügelten Redeweise der Bildungsaristokratie die greisenhafte Abgelebtheit. Dr. Martin Luther, der größte deutsche Volksschriftsteller, war auch ein Literat, und zwar nicht etwa ein populärer Verwässerer, sondern ein ganzer Gelehrter, der aus den Tiefen des Geistes heraus der Wissenschaft und dem Leben neue Bahn gebrochen, und doch hat er es in seiner Schreibart nie verläugnet, daß er des Bergmanns von Eisleben Sohn sey; seine ganze Schriftstellerei beweist, daß er seinen socialen Boden im Bürgerthume sich zu wahren wußte, und er ward ein wahrhaft volksthümlicher Schriftsteller, weil er stets neue Kraft und Fülle des Gedankens und Ausdrucks aus der bürgerlichen Lebenssphäre zog, in welcher er einmal durch Geburt und Erziehung mit allen Mächten seines Daseyns festgewachsen war.

Das Literatenthum hat sich aber nicht bloß zur Gesellschaft, sondern auch zum Staate gar eigen gestellt. Die Vermengung und Verwechselung der politischen mit der socialen Opposition, welche einen Grundzug jeglichen Revolutionstreibens der neuesten Zeit bildet, hat in dem literarischen Proletariat ihre natürlichen und eifrigsten Apostel gefunden, und namentlich wußte dasselbe zur entscheidenden Stunde oft genug dem Arbeiterproletariat begreiflich zu machen, daß aus der Gleichheit des Besitzes erst die Gleichheit des Rechtes aufkeime, und letzteres solchergestalt zum Kampfe gegen die historische Staatsordnung zu entflammen, welche demselben leider außerdem ein ganz gleichgültig Ding war und geblieben wäre.

Der aristokratische Proletarier als solcher kümmert sich wenig genug um die Staatsordnung, die ihn mindestens nicht direct in den vierten Stand hinabgestoßen hat, ja er hätte sogar einige Ursache, dem modernen Staate hold zu seyn, denn eben derselbe ist es ja, der ihm fast allein noch ein Hungerbrod bietet, und der ihm insofern auch eine sociale Genugthuung gibt, der für ihn die Rache der Gesellschaft insofern übernimmt, als er die vollgültige Aristokratie immer mehr herabzudrücken, zu entkräften und dadurch den Unterschied zwischen dem Aristokraten und dem aristokratischen Proletarier immer mehr auszugleichen sich befleißt. Das künstlerische Proletariat war niemals gewohnt, Ansprüche an den Staat zu machen, fühlt sich also auch nicht gekränkt, wenn es von demselben vollständig ignorirt wird. Es hat übrigens genügende Ursache, politisch conservativ zu seyn, da der Künstler wohl weiß, daß jede Staatserschütterung seinen materiellen Bestand zuerst mit erschüttern wird.

Ganz anders ist es bei dem literarischen Proletariat. Hierher flüchten sich die Ausgestoßenen nicht sowohl der Gesellschaft als des Staates, die Schiffbrüchigen, welche in »herrschaftliches Brod« zu kommen vergebens hofften. Aus Rachedurst gegen den Staat, der ihm eine Existenz versagt, gegen die Polizei, die ihn für eine verdächtige Person erklärt, wird der literarische Proletarier zur Rache gegen die Gesellschaft getrieben, der Proletarier des Gewerbes, des Tagelohns kommt dagegen umgekehrt erst durch den Groll gegen die Gesellschaft zum Groll gegen den Staat. Nur bei der originellen Gruppe des jüdischen Geistesproletariates finden wir, daß der völlig gleichzeitige, ebenmäßig und gleichbegründete Haß gegen die Gesellschaft wie gegen den Staat den verneinenden Literaten geschaffen hat. Diese jüdischen Literaten, wie wir sie in den letzten Revolutionsjahren immer da in der Vorderreihe fanden wo es galt die Lichter auszulöschen und die Feuer anzuzünden, sind gleich sehr Ausgestoßene der Gesellschaft wie des Staates. Das ächte Judenthum haben sie verlassen und dem Christenthum haben sie sich nicht zugewandt, vom germanischen Staat wollen sie nichts wissen und von der hebräischen Theokratie auch nichts. Sie sind so plötzlich einer überstrengen Schule des religiösen, politischen und bürgerlichen Zwanges und der Beschränkung entlaufen, daß sie überhaupt keine historische Schranke, keine beschlossene Form weder in staatlichen noch in socialen und kirchlichen Dingen mehr anerkennen mögen. Sie sind daher die ächten Literatenköpfe, in Holzschnittmanier gezeichnet, die wahren Vorbilder der modernen Literatenwirthschaft, sie vertreten das Literatenthum in allen Consequenzen des vierten Standes. Daß es auch unbeschnittene Literaten gibt – aber beschnitten im Geist, wie der Apostel sagt – die sich dieser Gruppe angeschlossen haben, braucht so wenig erwähnt zu werden, als daß nicht jeder jüdische Schriftsteller zu ihrer Sippschaft gehört.

Gleich als ob in der Tagespresse das Schwert oder wenigstens der Wespenstachel für jeden gegeben sey, der irgend einmal von obenher verletzt worden, glaubt ein solcher Gekränkter der herrschenden Staatsgewalt nicht besser auftrumpfen zu können, als indem er unter die Literaten geht. Wer politische Einflüsse auf kürzestem und leichtestem Wege gewinnen will, wird Journalist, gleichwie derjenige Tageskritiker wird, der in der Kunstwelt eine Rolle spielen möchte und doch fühlt, daß er zum Künstler verdorben sey. Darin liegt wiederum eine der faulen und giftigen Seiten des modernen Literatenthums, daß so Viele diesen Beruf ergreifen, nicht in der Absicht etwas tüchtiges, die Menschheit förderndes zu wirken, sondern um persönliche Einflüsse zu üben. Der verworfene Schacherer mit Theaterrecensionen, dessen Standort die großen theatralischen Börsenplatze sind, ist wohl längst aller Ehre bar geworden, nur des einzigen Ehrgeizes nicht, auf die Bühnenwelt seinen persönlichen Einfluß zu üben, und wäre es auch nur jener negative Einfluß der jedem allgemein Verabscheuten von selbst zufällt. Er brandschatzt die Künstler, nicht bloß um damit sein Leben zu fristen, sondern auch, weil noch des Bestechens werth zu seyn für ihn der letzte Beweis persönlichen Einflusses, persönlichen Werthes überhaupt ist. Und wer gleich diesem unsaubersten Bodensatz des Literatenthums die Mehrheit einer ganzen Künstlerschaft zu entsittlichen vermag, der kann sich immerhin eben so gut eines persönlichen Einflusses rühmen, wie jene Publicisten mit ihrem herostratischen Ruhme prahlen mögen, denen es gelungen ist, Zucht und Sitte aus ganzen Volksschichten wegzuätzen. Und dennoch finden wir bei den armen Sündern, die ihren ganzen Lebensunterhalt von Schauspielern und Virtuosen erpressen, oft noch eine Ritterlichkeit in der Schurkerei, welche wir bei jenen politischen Tagesschreibern, die lediglich auf »Einflüsse« arbeiten, vergeblich suchen. Das kommt daher, weil die ersteren hauptsächlich durch den Hunger nach Brod, die andern aber durch den Durst nach Rache unter die Waffen, d.h. unter die Feder gerufen worden sind. Man findet z.B. bei den theatralischen Wegelagerern häufig jenes Princip folgerecht durchgebildet, welches das Haupt des Schinderhannes in einer Glorie volksthümlicher Romantik strahlen läßt, daß sie nämlich bloß den reichen Künstlern das Pistol auf die Brust setzen, den ärmern aber wohl gar selber einen Zehrpfennig mitgeben. Ein derartiger »Kunstrichter,« dessen Name in ganz Deutschland bekannt und sprüchwörtlich geworden war, hatte einen vollständigen und wohl proportionirten Tarif, nach welchem er die Schauspieler brandschatzte, und dieser Tarif war – lange vor den Märztagen – nach den Grundsätzen der progressiven Besteuerung des reinen Einkommens entworfen. Der Künstler, welcher 3000 fl. Gage bezog, mußte etwa 30 fl. jährlich für gute Bedienung seitens des Recensenten steuern, der mit 1000 fl. Besoldete dagegen für die gleichen Dienste nicht etwa 10, sondern 2 ½ fl.; wer unter 800 fl. stand, wurde gar nicht mit Geld in Anspruch genommen, und für collectirende Kunstproletarier zahlte der wunderliche Aristarch selber in der Regel einen ganz anständigen Beitrag. Der Mann war also wenigstens doch nobel in seiner Gemeinheit.

Der Literat, welcher Rache zu nehmen hat an den bestehenden Staatseinrichtungen und Staatsgewalten, tritt als die verkörperte, persönlich gewordene sociale Opposition denselben gegenüber. Er macht in Lehre und Leben Profession aus dem glücklich gefundenen Gedanken, den staatlichen Mächten durch die gesellschaftlichen Schach zu bieten. Das radicale literarische Proletariat würde keinen Einfluß auf die verdorbenen, abgewitterten Schichten des Bürgerthums gewonnen haben, wenn es das Geheimniß dieser Taktik nicht besäße. Mit jedem Stück Rückkehr zur genossenschaftlich gefesteten Gesellschaft geht ein Stück von dem politischen Einfluß des literarischen Proletariats verloren. Darum bekämpft ein ächter Staatsmann das Literatenthum, nicht indem er die Literaten ausweist und einsteckt, sondern indem er den Gewerbestand gediegener zu machen, den Arbeiter und Taglöhner zu einer festeren Existenz heraufzuziehen sucht. Das Gedeihen der materiellen Arbeit ist der Todesstoß für das eigentliche Literatenthum. Jede neue Industrieschule, jedes neue Realgymnasium, der moralische und materielle Erfolg jeder Gewerbeausstellung, die Blüthe jedes Gewerbevereines ist jedesmal ein neues Bollwerk wider das Ueberfluthen des Literatenthums. Durch die langjährige krankhafte Entfremdung der Nation von ihren eigenen materiellen Interessen wurde der Bürgerstand und das Arbeiterproletariat empfänglich für sociale Schwindeleien; der nämliche krankhafte Zustand war zugleich Regen und Sonnenschein für das aufwuchernde Literatenthum, und die geschickte Verschmelzung beider Ergebnisse warb dem radicalen Geistesproletariat seinen tiefgreifenden politischen Einfluß. Dieses Literatenthum sieht das Heil der Welt in dem Evangelium des Socialismus und Communismus, weil darin in der That nur sein eigenes Heil, sein politischer Einfluß auf die Massen gegeben ist. Jene Schriftsteller, welche die großen Fragen der thatsächlichen Volkswirthschaft in den dreißiger und vierziger Jahren mit oft übergewaltigem und einseitigem Eifer in der Tagespresse zur Sprache brachten und dadurch nicht wenig beitrugen, daß auch bei dem in der Stubenluft vegetirenden Theile der Nation Handel und Gewerb wieder für eine des »Gebildeten« würdige Hanthierung angesehen wurde, haben sich dadurch unsterbliche ärztliche Verdienste um das deutsche Volk erworben, indem sie die Empfänglichkeit für den Krankheitsstoff des verderbten Literatenthums allerwege minderten. Die radicalen Proletarier der Geistesarbeit haben darum auch niemals sonderlichen Antheil gezeigt für jene praktischen Disciplinen, welche uns auf dem Wege der Geschichte und der Erfahrung zu Aufschlüssen über das materielle Gedeihen der Gesellschaft führen, denn sie würden sich dadurch den Boden der eigenen Existenz unter den Füßen weg demonstrirt haben. Sie wandten sich lieber der Theologie, der Aesthetik, dem Naturrecht zu, oder der philosophischen Staatswirthschaftslehre und Socialtheorie. Sie wurden um ihrer Existenz, um ihres Einflusses willen die Förderer und Mehrer jenes modernen Wahns, daß man durch die Aesthetik Kunstwerke schaffen, durch das Naturrecht ein öffentliches Leben aufbauen, durch die Religionsphilosophie die Kirche ersetzen müsse; nur zu der natürlichen Consequenz wollten sie sich nicht verstehen, daß man auch, statt den Verdauungsproceß zu vollziehen, sich durch physiologische Studien sättigen und so das materielle Essen und Trinken überflüssig machen könne. Es erging ihnen aber mit den auf philosophischem Wege erzeugten Kunstwerken, Staatsbildungen und Religionsschöpfungen wie einem großen Chemiker der Gegenwart, der nicht nur die Theorie vom »Humus,« als gleichsam der gegebenen, historischen und materiell-praktischen Grundlage des Pflanzenlebens, aus der Pflanzenchemie hinausdemonstriren wollte, sondern auch den Versuch unternahm, auf einem wüsten, möglichst humusarmen Sandhügel einen Garten anzulegen, um in demselben die köstlichsten Pflanzen auf dem Wege des chemischen Processes zu ziehen. Die Pflanzen fielen aber genau so aus wie jene modernen Kunstwerke, welche lediglich vermittelst der Kunstphilosophie geschaffen wurden: es war bei ihnen Herbst, bevor es Frühling gewesen war. Der geniale Chemiker hatte eben, wie jene Literaten, von dem physiologischen Moment im Pflanzenleben nichts wissen wollen und mußte doch zuletzt eingestehen, daß auch er bei seiner Gärtnerei über den Humus nicht hinauskomme. Ueberall bei dem vierten Stande drängt sich die verneinende Bedeutung für die Gesellschaft in den Vordergrund und bildet das eigentlich charakteristische der einzelnen Gruppen, während bei der Aristokratie, dem Bürgers- und Bauersmann die positiven Merkmale die charakteristischen sind. So habe ich auch bei dem literarischen Proletariat vorwiegend das Verneinende seines Wesens herausgehoben, womit ich aber keineswegs diese Berufsgruppe als eine an sich unberechtigte, als ein bloßes bösartiges Geschwür im gesellschaftlichen Organismus hingestellt haben will. Die Thatsache, daß allmählich ein unabhängiger, selbständiger Schriftstellerberuf möglich geworden, ist von größter kulturgeschichtlicher Tragweite. Die Gelehrten und die Bureaukraten, beide die engherzigsten aller Zunftleute, würden gar erstarren, wenn tüchtige Literaten nicht fort und fort das Fachwerk der privilegirten Fakultäts- und Amtsweisheit durchkreuzten und verschöben.

Der ächte Schriftsteller vom Fach soll ein Bürger im strengsten Sinne des Wortes seyn, nicht mehr und nicht weniger, wie auch vor Zeiten die größten Maler und Musiker die einfachsten Bürger gewesen. Aber noch ist der Schriftstellerberuf ein Beruf der Selbstentsagung: der deutsche Schriftsteller soll still und um Gotteswillen arbeiten wie die alten Künstler gethan, und wofern er sein Amt faßt als das eines Agitators und nicht als das eines Künstlers, ist er verloren. Die Verkennung dieser Thatsache ist der Fluch des Journalismus. Man muß freilich auch die Journalisten gelten lassen, denn sie sind die wahren Kosaken der modernen Civilisation; es wird nicht jeder zum Gardegrenadier geboren. Nur möchte ich, daß sie dann auch tüchtige Kosaken seyen, und nicht solche, die sich kaum im Bügel zu halten vermögen.

Den historischen Beweis für die Nützlichkeit und Nothwendigkeit des literarischen Proletariates haben uns die deutschen Universitäten geliefert. Diese Anstalten, welche, wie wir gesehen, als das rechte Probestück des Segens einer freien, selbständigen und dabei eng in sich begränzten körperschaftlichen Gliederung dastehen, setzten weislich an die Pforten des akademischen Lehramts ein Stück literarischen Proletariats – die unbesoldeten Privatdocenten, diese jungen Männer, welche vielfach, von ein paar Collegienhonoraren und kümmerlicher Schriftstellerei zehrend, unter Hunger und Noth die Gesellenjahre des akademischen Lehramts durchmachen, sind bei ihrer kläglichen materiellen Existenz das festgeschmiedete Bandeisen, welches die akademische Corporation trotz dem Widerspruch und Gegenzug eines ganzen Jahrhunderts zusammengehalten hat. Die Freiheit des wissenschaftlichen Berufes ist in ihnen gewahrt und doch zugleich eine mächtige Schranke gesetzt, denn wem der Privatdocent den Geschmack am Professor nicht versalzt, der mag einer Professur wohl werth seyn. Die gelehrte Genossenschaft kann nicht ein einzelnes Meisterstück einfordern wie die Gewerbezunft, aber sie fordert das Meisterstück, daß einer jahrelang unter Arbeit und Entsagung zum Lehramt sich tüchtig erweise, und hat das letztere dadurch immer leidlich rein zu erhalten gewußt. Mit dem Geistesproletariat der Privatdocenten würde der ganze Organismus unseres nichts weniger als proletarischen Universitätswesens zusammenstürzen, es würde verschwinden jener wunderbar versöhnte Doppelzug der akademischen Lehrfreiheit und der streng abgemarkten genossenschaftlichen Gliederung. Wir finden aber auch bei dem Privatdocenten in der Regel keineswegs die Schattenseiten des literarischen Proletariats herausgebildet, namentlich nicht jene wissenschaftliche und sociale Zerfahrenheit, jene geistige Halbreife, gemischt mit einbrechender Fäulniß. Dies kommt daher, weil dem Privatdocenten ein festes Berufsziel vorgesteckt ist, weil ihm neben dem freien geistigen Schaffen auch die Zucht des strengen Studiums, neben dem genialen Zeugen auch das wissenschaftliche Handwerk steht. Gerade der edelste Theil der Literaten geht in der Regel an dem Wahn zu Grunde, daß das bloße genial producirende Weben des Geistes ein ausschließlicher und ununterbrochener Beruf fürs ganze Leben seyn könne. Auch der begabteste Schriftsteller, der von seiner Feder leben will, muß ein Handwerk nebenbei treiben, und wenn es auch nur darin bestünde, daß er Übersetzungen liefert oder Landtags- oder Schwurgerichtsverhandlungen aufzeichnet. Jeder Künstler und Gelehrte sollte sichs wohl merken, daß Paulus nicht bloß der eifrigste und begeistertste Apostel, sondern auch ein Teppichwirker gewesen ist; daß Rousseau, obgleich schon ein halber moderner Literat, es doch nicht verschmähte, Notenschreiber zu seyn.

Bei dem hochgestiegenen Einfluß des Literatenthums in den langen Friedensjahren hätte man glauben sollen, dasselbe müßte in den Jahren allgemeiner Gährung und Erschütterung erst recht übermächtig werden. Es zeigte sich aber die auffallende Thatsache, daß in der Revolutionszeit der Einfluß des Literatenthums auf das Arbeiterproletariat zwar zunahm und praktisch wurde, bei den Gebildeten dagegen, wo er früher Wurzel gefaßt, fast ganz aufhörte. Das Literatenthum ist nur so lange staatsgefährlich, als die Staatszustände selber in Zerfahrenheit und Fäulniß dem Literatenwesen wahlverwandt sind. Als der Staat zwei Jahre lang keine Zeit mehr hatte, sich um die Literaten zu bekümmern, hörten sie auf, als solche eine öffentliche Rolle zu spielen. Die Journalistik schwoll übermäßig an, aber in demselben Maße verminderte sich naturgemäß der unmittelbare Einfluß der Journalisten, und die vielen großen und kleinen Parlamente nahmen denselben vollends das Wort vom Munde weg. Die modernen ausebnenden socialen Lehren und der Polizeistaat theilen den Grundfehler, daß beide der Staatsgewalt als solcher zumuthen stracks in die Gestaltung der socialen Lebensmächte einzugreifen. Der Staat kann aber die Gesellschaft nur mittelbar dadurch reformiren, daß er sich selbst reformirt und der materiellen Grundlage des Volkslebens Raum gibt, sich kräftig aus sich selber zu entwickeln. Der Staat kann nur die Hindernisse wegräumen helfen, welche sich der naturwüchsigen Entfaltung der einzelnen Gesellschaftsgruppen in den Weg drängen. Er kann aber noch keinen Bauern direkt in seinem Bauernthume reformiren, geschweige denn einen Literaten. Jeder Versuch der Art führt nur zu neuen socialen Auswüchsen, und wenn das Literatenthum wirklich mit vielen bösartigen Geschwüren behaftet ist, dann hat die quacksalbernde Hand des Staates sicherlich nicht wenige derselben erzeugt.

Eine ganz ähnliche Rolle wie das Literatenthum spielt ein großer Theil des Beamtenproletariates. Diese Accessisten und Referendare, diese studirten Unterbeamten aller Fächer, denen der Staat oft Jahrzehnte lang genau so viel und so wenig Besoldung gibt, als nöthig ist um den sittsamsten Philister in einen verzweifelten Demokraten und Communisten zu verwandeln, haben sich mit den Literaten in die Aufgabe getheilt, den Groll gegen die Staatseinrichtungen in einen Groll gegen die Gesellschaft zu übersetzen. Wir erblickten dieses Beamtenproletariat 1848 oft genug an der Spitze der Kammeropposition, namentlich in den Kleinstaaten. Wie die radicale Partei früher die Staatsdiener als zu servil gerne von den Landtagen verbannt hätte, so würden die Regierungen dieselben damals als großentheils zu radical von der Wählbarkeit gerne ausgeschlossen haben. Diesen proletarischen Unterbeamten ist nur dadurch mittelbar und auf dem langsamsten Wege zu helfen, daß das Uebermaß der geistigen Arbeit überhaupt gemindert und die Ehre der materiellen Arbeit mehr und mehr gesteigert wird. Wie man in Frankreich unlängst im Drange des ersten socialen Sturmes Staatsarbeiterwerkstätten gründete, so wußte man in Deutschland gleichzeitig nichts besseres zu thun, als bedeutende Summen zur Unterstützung des Beamtenproletariats und namentlich der Schullehrer auszuwerfen. Hier wie dort goß man einen Tropfen Wasser auf einen heißen Stein, und mehrte wohl gar nur die Staatsfaullenzer, indem man die Staatsarbeiter fördern wollte. In Paris wiederholt gegenwärtig die kaiserliche Regierung dasselbe Experiment, nicht gewitzigt durch die Erfahrung ihrer republikanischen Vorgängerin. In dem Maße, als man die Stellen für die Anfänger reicher dotirt, wird auch der Zudrang zum Staatsdienste wachsen, und was etwa am Beamtenproletariat gemindert würde, das wird dann am Literatenproletariat dreifach gemehrt.

Das Beamtenelend ist nichts neues. In früherer Zeit waren die kleinen Stellen der öffentlichen Diener noch viel schlechter ausgestattet als heutzutage. Die Subalternbeamten lebten dazu in einer persönlichen Abhängigkeit, welche sich mit unsern Begriffen von der Würde des öffentlichen Dienstes durchaus nicht reimen läßt. Weil jetzt das Schullehrerproletariat so häufig als das schwärzeste Nachtstück modernen socialen Jammers hingestellt wird, so dürfte es vielleicht lehrreich seyn, dessen frühere Zustände dagegen zu halten. Zur Zeit der Reformation hatte der Schullehrer in der Hauptstadt des Nassau-Weilburgschen Landes einen Jahresgehalt von achtzehn bis zwanzig Gulden und war dabei nicht von der Gemeinde angestellt (was den modernen Schulmeistern schon wieder als etwas unwürdiges erscheint), geschweige denn vom Staate, sondern vom Scholaster, der den Schulmeister miethete und die Präbende – für sich bezog. Ein solcher Dienst war, wie fast alle Kirchen- und Staatsdieneranstellungen damaliger Zeit, vierteljährig kündbar; also war an das, was wir etwa »ein festes Brod« nennen, gar nicht zu denken. Der Gehalt wurde nicht regelmäßig ausbezahlt, sondern der Lehrer selber mußte ihn eintreiben, wobei er in der Regel abermals zu kurz kam; ein Theil des Gehaltes, der von den Schulkindern in der Form von Schulgeld gesteuert wurde, konnte fast nie ganz beigetrieben werden. An vielen Orten hatte der Schullehrer zugleich die Kost (das Rundessen bei den reicheren Bauern) und einen Sommer- oder Winterrock als Theil seiner Besoldung, wodurch er dem vermögenderen Theil der Gemeinde gegenüber schier auf eine Bank mit dem Gesinde kam.

Die Klage über das Schullehrerelend ist also sehr alt. Im Jahre 1848 gab es Gemeinden, die ganz treuherzig glaubten, die Schullehrer gehörten zu den abgeschafften öffentlichen Lasten, und demgemäß einkamen, daß man ihnen mit den übermäßigen Steuern auch die Lehrer wegnehmen möge. Auch diese Würdigung des öffentlichen Dienstes ist durchaus nichts neues. Sie ist vielmehr nur ein ganz abgeschwächter Nachklang jener abhängigen Stellung, zu welcher früher selbst weit höher gestellte Beamte sich bequemen mußten, und, ohne darum gleich die Gesellschaft zertrümmern zu wollen, sich auch wirklich bequemten. Zur Reformationszeit hegten die Vorfahren der nämlichen Bauern die gleiche Ansicht auch von den Pfarrern. Mit der neuen Glaubensfreiheit, meinten sie, seyen auch alle Arten von Pfarrern abgeschafft, und wollten ihren Beitrag zum Gehalte des Pfarrers nicht mehr zahlen, indem sie behaupteten, »derselbe habe ja nichts mehr zu thun.« Die Bauern wollten also damals noch so wenig an die Souveränetät der Pfarrer und höheren Beamten glauben, wie sie jetzt an die Souveränetät der Schulmeister und Subalternbeamten glauben wollen, ja sie konnten beiläufig nicht einmal einsehen, daß die rein geistige Arbeit einer Predigt auch eine Arbeit sey, während sie sagten, wenn früher ein Priester die Messe gelesen, dann habe er doch etwas »gethan,« und man habe doch gewußt: wofür der Mann eigentlich sein Geld bekomme.

Ich führe diese historischen Parallelstellen an, nicht etwa als einen Trost für das moderne Beamtenproletariat, wodurch ich in die Logik jenes Philosophen verfallen würde, der in der Voltaireschen Erzählung ein unglückliches Weib damit trösten will, daß er ihr vorhält, wie es vor ein paar tausend Jahren der Hekuba und Niobe noch weit schlechter ergangen sey als ihr. Ich möchte vielmehr durch die geschichtliche Parallele deutlich machen, daß es nicht die Armuth, nicht die abhängige Stellung an sich ist, was so viele Beamte dem vierten Stande und dem Kampf gegen die historische Gesellschaft zuführt. Die modern bureaukratischen Ideen und Idole mußten erst hinzutreten, um den Widerspruch der Ansprüche des kleinen Beamten an Staat und Gesellschaft mit seinen materiellen Mitteln so schneidend zu machen, wie wir ihn nur immer beim Literatenthum vorgefunden.

Was Wunder, wenn der proletarische Beamte die Fehde gegen seine herrische Stiefmutter, die bestehende Staatsgewalt, für gleichbedeutend nahm mit der Fehde gegen die Gesellschaft, und so auf gleichem Boden mit dem radikalen Literatenproletariat zusammentraf? Vergißt dagegen der Beamte die Ansprüche an ganz besonderen Standesrang und Standesehre und faßt sich bescheiden als einen Bürger, der mitarbeitet am Aufbau des Staates, dann schwindet ihm auch beim kümmerlichsten Leben die Gefahr, dem vierten Stande zu verfallen.

Es ist ein großer Unterschied zwischen Beamten die zufällig Proletarier sind, und dem Beamtenproletariat als solchem. Der Schulmeister in alter Zeit klagt oft genug, daß all sein Brod vorgegessen sey, und doch zählt er noch lange nicht zum Beamtenproletariat. Er ist ein Bürgersmann, wenn auch ein armer, er ist vom Scholaster abhängig, und doch fühlt er sich als Bürger, und weiß daß und wo er seine feste Stellung in der Gesellschaft hat, und wenn er nur 20 fl. Gehalt jährlich bezieht, so macht die Gesellschaft auch nur für 20 fl. Ansprüche an ihn, und er braucht sich nicht reicher und vornehmer zu heucheln als er wirklich ist. Der moderne Accessist dagegen, dessen Brod »vorgegessen,« ist ein hochstudirter Mann, ein Mann der zum allerwenigsten einmal Minister werden will, ein Mann dem der Traum von allerlei Rang und Würde auf Stempelpapier decretirt worden ist, der vielleicht 200 fl. Gehalt bezieht und für 400 fl. »Standesaufwand« machen muß, der im Bürgerstande nicht leben soll, im Beamtenstande aber weder leben noch sterben kann, der die Gesellschaft reformiren will, weil er seinen knappen Gehalt nicht reformiren kann, mit einem Wort ein vollendetes Glied des vierten Standes. Nach geläufiger bureaukratischer Ansicht erscheint der »Staat« verpflichtet, jedem Landeskind, welches studirt und sein Examen cum laude bestanden hat, auch eine standesgemäße Existenz zu sichern; der Staat kann dies aber im vorliegenden Falle nicht sofort, folglich kommt ein Unrecht des Staates gegen den Einzelnen zu Tag, welches in gangbarer Begriffsvertauschung zu einem Unrecht der Gesellschaft gegen den Einzelnen umgewandelt wird.

Das geistliche und das Soldatenproletariat des Mittelalters ist ausgestorben, das Literaten- und Beamtenproletariat ist zum reichlichen Ersatze dafür eingerückt. Jene zahllosen fahrenden Anhängsel der Geistlichkeit, die von milden Gaben lebten, und bei denen es allezeit schwer zu entscheiden war, wo der Vagabund aufhörte und wo der (oft nur angebliche) Geistliche anfing, sind sammt den Landsknechten ihrer Zeit eben so gut Kosaken der Civilisation und doch zugleich Landplagen gewesen, wie heutzutage die Literaten und das Beamtenproletariat. Aber sie waren eben auch nur Landplagen, keine Plagen der Gesellschaft; darin liegt der große Fortschritt zum Schlimmern.

Wer die wunderbaren Entwickelungen der letzten Jahre aufmerksam durchstudirt hat, der wird mit uns befürchten, daß Deutschland, namentlich in seinen Kleinstaaten, vorderhand viel eher sociale Beamtenrevolutionen zu gewärtigen hat, als eigentliche Arbeiterempörungen. Wenn die proletarischen Beamten loskommen wollen vom vierten Stand, dann bleibt ihnen unter den gegebenen Staatsverhältnissen keine andere Wahl, als die ganze Gesellschaft in den vierten Stand aufzulösen. Das ist der Communismus, den sie in ihrer Anstellungsurkunde officiell vom Ministerium decretirt erhalten haben.

Das Beamtenproletariat ist weit gefahrdrohender als das literarische. Die Schriftstellerei gehört im vorliegenden Betracht in das Capitel von der Industrie und dem Handel. Das Barometer des buchhändlerischen Marktes wird immer mit der Verwerthung auch die Masse der literarischen Production bedingen, und wenn der Literat noch so viel von dem Urrecht des Menschen auf Arbeit phantasirt, so kommt er damit doch nicht über die Rechnungsbücher des Zeitungsunternehmers oder Bücherverlegers hinaus. Die Regierungen brauchen keine Schutzzölle gegen das Einfluthen der Literaten anzulegen, der buchhändlerische Markt wird von selber bewirken, daß die Zahl der proletarischen schriftstellerischen Existenzen nicht über ein gewisses Aeußerstes steige. Dagegen läßt sich dem übermäßigen Anwuchs des Beamtenproletariats nur durch äußere Repressivmaßregeln ein Ziel setzen, die immer höchst bedenklich sind. Die Anwartschaft auf ein Amt ist ein viel praktischeres, viel verlockenderes und darum auch viel gefährlicheres »Urrecht,« als das philosophische Urrecht des Menschen auf Arbeit. Das hat sich zu allen Zeiten bewährt. Der alte Michael Ignaz Schmidt sagt in seiner »Geschichte der Deutschen« in seiner trockenen Manier von den Hofnarren: »Da die Narrheit anfing, ein Amt zu werden, vervielfältigte sich diese Classe von Leuten so sehr, daß man endlich gezwungen war, von Reichswegen dem ferneren Anwuchs Einhalt zu thun.«


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