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Drittes Kapitel.

Die unächten Stände.

Neben den gewordenen, natürlichen Ständen gibt es auch gemachte, künstliche, unächte. Wenn man jetzt vielfach die vier natürlichen Hauptgruppen der Gesellschaft nicht einmal mehr als Stände gelten lassen will, dann machte man früher alles zu »Ständen.« Die Begriffe von Beruf und Stand wurden ganz willkürlich mit einander verwechselt. Man sprach von einem geistlichen Stand, Gelehrtenstand, Beamtenstand, Richterstand, Soldatenstand, Officierstand, Handwerkerstand etc. Folgerecht hätte man dann auch ins Unendliche weiter fort von einem Schneiderstand, Bürstenbinderstand, Steinklopferstand, Holzspalterstand etc. reden müssen. Der Sprachgebrauch wurde in diesem Betracht ganz confus, und wir behandeln die Worte »Stand« und »Beruf« noch immer als Synonyma. Das ist dann weiter ein Beweis von der Confusion des ständischen und überhaupt des socialen Bewußtseyns selber in dieser Uebergangszeit.

Diese Verwechselung und Fälschung der Begriffe würde wenig zu sagen gehabt haben, wenn sie blos theoretisch geblieben wäre. Aber einzelne dieser fälschlich sogenannten Stände $wurden auch im Leben mit socialen Vorrechten ausgestattet, die lediglich den natürlichen großen Gruppen der Gesellschaft hätten zukommen dürfen. Ja noch mehr, die Regierungsweisheit der Zopfzeit benutzte diese gemachten Stände um sie gleich Keilen zwischen die natürlichen Stände einzuschieben, und deren unbequeme Autonomie dadurch zu zersprengen. So wurde namentlich der Militärstand, der Gelehrtenstand, der geistliche und der Beamtenstand in die Fugen des Bürgerstandes eingetrieben. Mit dieser Verwirrung der ständischen Begriffe ging die Macht, welche dieselben noch in den Gemüthern besaßen, verloren. Es war ein schlauer Kriegsplan, durch die Hegung und Bevorzugung der unächten Stände die ächten unschädlich zu machen. Wenig gehässiges haftet gegenwärtig auf dem Ständewesen, was nicht durch die unächten Stände demselben auf den Hals geladen worden wäre. Sie gaben den Gegnern jeder socialen Gliederung die besten Waffen in die Hand, sie ließen die gesellschaftlichen Mächte gegenüber der Staatsgewalt so verdächtig werden, daß sie recht eigentlich als die Bahnbrecher des ausebnenden Polizeistaates zu betrachten sind, der dann nachgehends auch ihre Privilegien möglichst schonte, während er das Recht der natürlichen Ständegruppen so wenig als möglich gelten ließ.

Der Stoff zur Bildung der unächten Stände ist ausschließlich aus dem Bürgerstande genommen worden. Die bezeichnete Begriffsverwirrung konnte nur hier eintreten, weil sich bei diesem Stande die Begriffe von Stand und Beruf nicht decken, wie anderwärts, sondern der Stand eine Menge der verschiedenartigsten Berufe in sich schließt.

Wir wollen die vier wichtigsten der unächten Stände einzeln näher in's Auge fassen: geistlicher Stand, Gelehrtenstand, Beamtenstand, Soldatenstand.

Einen geistlichen Stand hat es vor Alters wohl in Deutschland gegeben, er war sogar schulgerecht der »erste Stand« des späteren Mittelalters und besteht auch noch in katholischen Ländern des romanischen Südens. Bei uns aber ist gegenwärtig kein eigener geistlicher Stand mehr vorhanden, und bei der modernen Auffassung des Ständebegriffes auch gar nicht mehr möglich. Wir haben nur noch einen geistlichen Beruf. Im früheren Mittelalter, wo der Klerus bei weit schrofferer socialer Abgeschlossenheit zugleich ausschließlich die gebildete Schicht der Gesellschaft vertrat, war das etwas anderes. Schon beim Ausgange des Mittelalters ist diese Absonderung geschwunden; der niedere Klerus gehörte in Abstammung, Denkart und Sitte wesentlich dem Bürger- und Bauernstande an, der höhere wesentlich der Aristokratie. Die kirchlichen Vorrechte des katholischen Klerus vor dem Laien haben aufgehört zugleich auch bürgerliche zu seyn. Jeder der vier natürlichen Stände hat einzelne Gruppen der Geistlichkeit, die ihm besonders angehören: die Aristokratie, Prälaten und Kirchenfürsten: das Bürgerthum, die Hauptmasse des niederen Klerus; das Bauernthum, Klausner und colonisirende Mönchsorden, das Proletariat, die geistlichen Brüderschaften mit dem Bettelsack. Im Großen und Ganzen zählt aber die Geistlichkeit zum Bürgerthum. Die geistlichen Würden stehen jedem Stande offen. Gerade in der Zopfzeit, wo die Aristokratie die höheren geistlichen Stellen als eine Standespfründe in Anspruch nahm, es dagegen keineswegs für angemessen hielt, daß ihre Söhne zu dem Ende die Stufenreihe der Kirchenämter von unten herauf durchmachten, gerade in dieser Zeit faßte man den Klerus mit Vorliebe als einen eigenen socialen Stand auf. Welch seltsame Verwirrung der Begriffe, welche Trübung des socialen Bewußtseyns ist darin ausgesprochen, daß diese beiden schnurstracks einander widersprechenden Ansichten gleichzeitig bei denselben Leuten in Geltung standen! Man rühmt es im Gegensatz hierzu dem bekanntlich hochtoristischen westphälischen Adel nach, daß er gegenwärtig seine nachgeborenen Söhne wieder häufig dem geistlichen Berufe zuführe, und zwar in der Art, daß sich diese jungen Männer, um zu den höheren Würden aufsteigen zu können, den Anfang mit einer bescheidenen Landpfarrei nicht verdrießen lassen. Der dermalige Bischof von Mainz, Freiherr von Ketteler, hat in dieser Weise seine geistliche Laufbahn begonnen.

Der Klerus sollte schon um seiner kirchlichen Stellung willen, als einer über die socialen Besonderheiten hinausgehenden, den Gedanken zurückweisen, daß er einen eigenen gesellschaftlichen Stand bilde.

Wahrhaft wunderbar fügt es sich, daß der katholische Klerus mit seiner festen, selbst über die Schranken der Nationalität hinwegspringenden körperschaftlichen Organisation, mit seinem abgeschlossenen Ordenswesen. etc., wo also alle Grundlagen eines sehr fest begränzten Standes gegeben zu seyn scheinen, dennoch in dieser Organisation selber wieder ein Element birgt, welches ihn niemals zum vollen Abschluß eines eigenen Standes kommen läßt. Ich meine den Cölibat. Denkt man sich bei dem merkwürdigen Organismus des katholischen Priesterthums den Cölibat hinweg, so würde aus jenem längst eine geschlossene erbliche Priesterkaste geworden seyn. Der Cölibat entrückt den einzelnen Priester beinahe ganz der bürgerlichen Gesellschaft, damit das Priesterthum nicht ganz derselben entrückt werde. Die bürgerliche Familie ist eine der obersten Voraussetzungen des socialen Standes. Eine gesellschaftliche Gruppe ohne dieses Familienleben kann ihr Corporationsbewußtseyn niemals zu dem eines selbständigen Standes steigern. Vielleicht fehlt dem katholischen Klerus keine weitere Voraussetzung zu einem besonderen Stande als die Familie.

Bei der protestantischen Geistlichkeit ist hingegen diese Voraussetzung im reichsten Maße vorhanden. Namentlich bei den Landpfarrern erbt fast in der Regel der geistliche Beruf vom Vater auf den Sohn fort. Man spricht da wohl gar von »geistlichem Blute.« Aber hier fehlt wieder die feste und ausschließende priesterliche Organisation der Genossenschaft, Papst und Ordenswesen. So ist von beiden Seiten bestens dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und die Pfarrer im Bürgerthume bleiben.

Der » Gelehrtenstand« hat für unsere Zwecke nur ein historisches Interesse. Denn den Beweis, daß ein solcher »Stand« ein socialer Unsinn sey, wird uns nach dem bisher Gesagten wohl jeder Leser erlassen. Und dennoch haben sich in unseren Staaten bis auf die neueste Zeit Bestimmungen heraufgeerbt, welche gelehrten Corporationen (z. B. den Universitäten) socialpolitische Rechte sichern. Wenn der Klerus fast alle Vorbedingungen zu einem Stande bis auf eine einzige in sich trägt, so fehlen dem sogenannten Gelehrtenstand geradezu alle diese Bedingungen bis auf die einzige, daß er einen Beruf darstellt. Im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert bildeten sich noch eigene gelehrte Standessitten heraus. Aber während die natürliche Standessitte überall das belebende, kräftigende, zusammenhaltende Element der socialen Gruppen ist, war diese Standessitte das austrocknende, abzehrende, erschlaffende. Das war schon die sicherste Probe, daß man sich mit dem Gelehrtenstande verrechnet hatte. Die künstlich gemachte Gelehrtenzunft hat weit mehr zu dem Mißcredit des Zunftwesens beigetragen als die historisch gewordenen Gewerbeinnungen selbst in ihrem äußersten Verfall. Die Gelehrtensitte der Zopfzeit war das Zerrbild einer ächten Standessitte. Selbst die einzelnen Berufszweige der Gelehrsamkeit schlossen sich von einander wieder standesmäßig ab, setzten sich oft genug in Neid und Mißgunst gegenseitig herunter. Der »Klassenhaß,« von dem uns die modernen Gleichmacher so schreckliches zu prophezeien wissen, war allerdings zeitweilig im »Gelehrtenstande« vollauf verwirklicht. Der Klassenhaß ist die alte Roccocokomödie vom Doctor und Apotheker, nicht das moderne Drama von dem Ankämpfen der natürlichen socialen Gruppen wider die unnatürliche Ausgleichung der individuellen gesellschaftlichen Lebensformen. Die natürlichen Stände sind wahre Blitzableiter für den Klassenhaß. Wo man die bürgerlichen Berufsarten, auch die Gewerbe widernatürlich zu Ständen gestempelt, wo man unächte Gesellschaftsgruppen aufgezwungen hat, da hat das Donnerwetter des Klassenhasses auch immer am ärgsten eingeschlagen.

Eine höchst beachtenswerthe Thatsache der socialen Selbsterkenntnis sind für unsern Standpunkt die Gelehrtencongresse gewesen, welche in den vierziger Jahren eine so große Rolle spielten. Da geschah es, daß wenigstens die bessere Mehrheit der deutschen Gelehrten die freie Genossenschaft des wissenschaftlichen Berufes an die Stelle einer falschen Standesabgeschlossenheit zu setzen wußte.

Was war es denn, was z. B. diese Germanisten vereinigte, die doch Leute von allerlei gelehrter Zunft, Geschichtsforscher, Sprachforscher, Rechtsgelehrte und Fachphilosophen unter sich zählten? Vor fünfzig Jahren, wo der praktische Jurist ein Ding wie etwa »germanistische Sprachwissenschaft« für eine unnütze, brodlose Kunst ansehen mochte, und der Sprachforscher die Juristerei als ein Handwerk der Erfahrung und Ueberlieferung, als ein Gemisch von römischem Recht und Mutterwitz wohl gar nicht zu den »rechten« Wissenschaften gezählt hätte, vor fünfzig Jahren würden diese Elemente wie Wasser und Oel mit einander geschwommen seyn. Und nun einigten sich Sprachforscher, Geschichtschreiber und Rechtsgelehrte, des Klassenhasses und des falschen Standesgeistes vergessend, in dem Gedanken, daß sie allesammt unser nationales Leben mit erforschen helfen, und nannten sich Germanisten! Diese Versammlungen waren eingegeben von dem vorwärtsstrebenden universalistischen Geiste des Bürgerthumes im Gegensatz zu dem alten Sonderwesen des usurpirten Gelehrtenstandes. Man hat die Germanistenversammlungen mit Recht als Vorboten jenes berechtigten edleren Kernes der Bewegung von 1848 aufgefaßt, welcher hauptsächlich von dem deutschen Bürgerstande gehegt wurde. Ein bloß wissenschaftlicher Congreß würde solche Bedeutung nicht gehabt haben, wenn derselbe nicht zugleich Form und Ausdruck für eine entscheidende social-politische Thatsache gewesen wäre.

Es war nicht erst seit gestern, daß die germanistischen Wissenschaften theoretisch zusammenwirkten, um den geschichtlichen Gang unsers Volkslebens zu ergründen und auf dieser sicheren Grundlage die nationale Zukunft erbauen zu helfen; aber daß sich die eifrigsten Förderer dieser Arbeit zu einer freien Genossenschaft zusammenthaten, sey es auch nur, um sich einmal im Jahr ein Stückchen der schönen Heimath gemeinsam anzusehen, gemeinsam zu berathen, gemeinsam zu tafeln und zu zechen, das war etwas ganz neues und entscheidendes.

In einem deutschen Kleinstaate wurde es selbst der harmlosesten dieser gelehrten Genossenschaften, den deutschen Land- und Forstwirthen, verwehrt, ihre Versammlungen abzuhalten. Der Polizeistaat hatte den socialen Gehalt dieser Congresse gewittert. Aber die Vergeltung blieb nicht aus. Beiläufig fünf Jahre später veranstalteten Raveaux und Genossen in demselben Saale einen Congreß ganz anderer Art, wo das Polizeiregiment den friedlichen Land- und Forstwirthen zu reden und zu zechen verwehrt hatte.

Die Naturforscher, als der modernste Zweig des gelehrten Berufes, hatten den Reigen der großen Versammlungen eröffnet. Während es heute noch Zunftgelehrte gibt, die einen Denker und Forscher ersten Ranges wie Liebig doch nur für einen geschickt laborirenden Apotheker ansehen, rühmte man gerade den Naturforschern nach, daß ihre Zusammenkünfte die am freiesten gemischten gewesen und die scheinbar widerstrebendsten Richtungen in guter Geselligkeit vereinigt hätten. Der Philolog, im vorigen Jahrhundert noch die eigentliche Charakterfigur des standesmäßigen Gelehrten in Holzschnittmanier, brachte schon einen kleinen Zopf zu der collegialischen Versammlung mit, indem er sie den Congreß der »Philologen und Orientalisten« nannte. Denn dieses Und ist das letzte Zunftzeichen des »classischen« Philologen, der den Mann des unclassischen orientalischen Sprachstudiums doch gerne nur als einen Hintersassen ansehen möchte. Die Feindschaft der classischen Philologen und der Realisten wurde auf den Versammlungen sofort durchgefochten. Das sind solche Ansätze von »Klassenhaß« däucht mir, einem Haß, der wohl über den Neid des Bürgers auf den Baron gehen mag, ja wohl gar über Doctor und Apotheker.

Am unglücklichsten erging es den Philosophen. Sie konnten über den engen Kreis der Schule hinaus gar nicht zum Zusammentritt der Genossenschaft kommen. Das sociale Interesse fiel weg, höchstens stand wie weiland bei den Scholastikern ein wissenschaftliches Turnier in Aussicht. So ist es denn auch geschehen, daß sich die deutschen Philosophen aller Farben regelmäßig bei der Versammlung der Naturforscher, oder der Germanisten, oder der Philologen, oder der Aerzte einfanden, nur auf ihre eigene sind sie nicht gekommen.

Wir gelangen zu dem Luftgebilde eines eigenen Beamtenstandes. Es liegt in der Natur der Sache, daß Männer jedes bürgerlichen Standes berufen und befähigt seyn können, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Man spricht von der Gefährlichkeit eines Staates im Staate. Wohl. Der »Beamten stand« ist ein Stand in den Ständen, und darin liegt wohl noch eine weit größere Gefahr.

Bei den natürlichen Ständen schließt ein Stand den andern aus. Es kann niemand Edelmann, Bürger, Bauer und Proletarier zu gleicher Zeit seyn. Bei den gemachten, unächten Ständen ist das keineswegs der Fall. Der Gelehrte, Beamte, Geistliche, Soldat, läßt sich recht gut gleichzeitig in derselben Person vereinigt denken. Ja manche dieser Berufsarten setzt wohl gar ausdrücklich das Vorhandenseyn einer andern voraus.

So lange der Eintritt in ganze Klassen von Staatsämtern gewissen bürgerlichen Ständen ausschließend vorbehalten war, erschien hierin wenigstens ein Ansatz zur Bildung eines besonderen Beamtenstandes gegeben, so lange überhaupt die Gesellschaft das Höhere war und der Staat das Untergeordnetere. Mit unserm modernen Begriff von der Stellung der Gesellschaft zum Staate verträgt es sich aber durchaus nicht, daß der Beruf des Staatsdienstes zugleich eine sociale Besonderung darstelle. Daß aus jedem wirklichen Stand Leute in den sogenannten Beamtenstand treten, ist die Regel. Daß das Glied eines wirklichen Standes in einen andern wirklichen Stand übertrete, ist eine sehr seltene Ausnahme. Ein Bürger kann sich adeln lassen, aber ein Edelmann im socialen Sinne wird er darum noch lange nicht. Ein Bauer, der das große Loos gewinnt und in die Stadt zieht, um von seinen Renten zu leben, mag wohl den ganzen Rest seines Lebens aufwenden, um den Bauernstand vollends von sich abzustreifen, und wird doch damit nicht fertig. Erst dem Sohne gelingt es in der Regel, den Uebergang von einem Stande zum andern, worin der Vater stecken geblieben ist, zu vollenden. Noch schwieriger ist es aber für den Edelmann, ein Bürger zu werden, oder gar für beide, zu dem naiven Stande des Bauern zurückzukehren. Ackerbau treiben können beide wohl, verbauern können sie auch nicht unschwer, aber wirkliche, vollwichtige Bauern zu werden, wird ihnen in Europa niemals gelingen. Nur in den Urwäldern Amerika's ist es möglich, daß Edelmann und Bürger wieder ganze Bauern werden. Aber dort müssen sie auch vorerst Lesen und Schreiben, wohl gar ihre Muttersprache verlernt, sie müssen ihre ganze alte Gesittung untergeackert haben, ehe der neue Bauer aufkeimt. So tief sitzt der wirkliche Standesunterschied in des Menschen innerster Natur! Nur zu einem Stande ist der Uebergang allen andern Ständen gleich leicht gemacht, und sie brauchen deßhalb nicht nach Amerika zu gehen: zum Proletariat! Proletarier kann jeder werden, noch leichter als Beamter. Aber das Proletariat ist auch noch kein fertiger, es ist erst ein werdender Stand: die Verneinung und Auflösung der Stände als positive sociale Thatsache. Der Uebergang von einer Form der gesellschaftlichen Gesittung zur andern ist erstaunlich schwer, der Uebergang zur Vernichtung aller socialen Cultur erstaunlich leicht. Weitab liegt ein Stand dem andern, nur der Stand des Elendes liegt allen gleich nahe.

Durch die sociale Fiction eines eigenen Beamtenstandes war das politische Phänomen der Büreaukratie erst möglich gemacht. »Büreaukratie« ist ein über die Maßen bezeichnendes Wort. Aus Französisch und Griechisch zu sprachlicher Krüppelbildung malerisch zusammengekuppelt, bedeutet es nicht einmal Schreiberherrschaft, sondern » Schreibstubenherrschaft«. Darin ist ihr ödes mechanisches Wesen vortrefflich erfaßt. Die politischen Thaten der Büreaukratie darzustellen ist ein um des Pikanten willen äußerst verführerisches Thema. Wir haben hier die Büreaukratie bloß als sociale Erscheinung in's Auge zu fassen, Wenn die Regierungen seit dem Anbruch der neueren Zeit ein zäh beharrliches Streben aufgeboten haben, um einen eigenen Beamtenstand und daneben einen eigenen Soldatenstand herauszubilden, so lag dieser Politik principiell eine ganz richtige Voraussetzung zu Grunde, sie griff nur fehl in der Wahl des Gegenstandes und der Mittel. Nichtig war der leitende Gedanke, daß jede Regierungspolitik eine bestimmte sociale Macht herausgreifen müsse, um in derselben ihren besonderen materiellen Rückhalt zu finden. Verkehrt die Anwendung, daß man nun, statt sich auf die historisch gewordenen, natürlichen socialen Gruppen zu stützen, die freilich unter Umständen etwas eigenwillig und widerspänstig seyn mochten, sociale Gruppen künstlich machte, deren Willfährigkeit die Regierenden unter allen Umständen versichert zu seyn glaubten. Es liegt etwas kühnes in diesem Verfahren, aber eine Kühnheit, die über Naturgesetze hinausstrebt, ist Vermessenheit. So gemahnt der auf höheren Befehl gezeugte Beamten- und Soldatenstand an Wagners Homunculus.

»Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang
Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen:
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt.«

Der Beamten- und Soldatenstand ist von oben her künstlich gelöst worden vom Gesellschaftsbürgerthum, sorglich eingehegt als Stand in den natürlichen Ständen. Die Rangordnung des Officiers zählt nach ganz anderen Normen als die der natürlichen Rangstufen des übrigen gesellschaftlichen Lebens, und auch der jüngste bürgerliche Unterlieutenant und Fähndrich ist ausnahmsweise hof- und tafelfähig. Bis auf unsere Tage nahm man in die Cadettenschulen hier und da nur die Söhne bestimmter Rangklassen auf. Bürgerlichen Officieren ist die Ehe mit allzubürgerlichen Bräuten geradezu verwehrt worden. Das geht über die »organische« Gliederung der Gesellschaft hinaus. Ausschließende Beamten- und Militärcasinos wurden von oben her aus social-politischen Rücksichten gerne gesehen. Nicht bloß die Officiere, auch die Beamten sollten ihren Dienstrock zugleich als Standestracht tragen. Noch am Vorabend der Märzbewegung hat es der Regierung eines deutschen Kleinstaates großen Kummer gemacht, den sie in einem damals durch alle Blätter gehenden Rescripte niederlegte, daß die Staatsdiener den unmodisch gewordenen dreieckigen Diensthut nicht mehr tragen wollten, noch den Dienstdegen, der doch weder zum Hauen noch zum Stechen gut war.

Die menschliche Natur müßte eine ganz andere seyn, wenn solche Aussaat überall hätte auf steinigen Boden fallen sollen. Der Begriff des Standes löste sich auf in den Begriff des Ranges. Jener rangsüchtige Kastengeist, den man den natürlichen Ständen häufig mit Unrecht vorwirft, trat in diesen künstlichen als die Regel zu Tage. Vornehme, standesstolze Leute und Beamte nimmt der Bauer noch vielfach als gleichbedeutend. Statt der historischen Gruppen zerfiel dem Beamten die ganze Gesellschaft in zwei große Halbschiede: »Dienerschaft« und »Bürgerschaft.« Für die »Dienerschaft« ward dann auch die prächtige Bezeichnung der »Honoratioren« erfunden, ein Epigramm in einem einzigen Worte.

In der vormärzlichen Zeit brauchte der Beamte, welcher eine Familie gründen wollte, in vielen deutschen Staaten nicht einmal irgendwo Gemeindebürger zu seyn, er war bloß Staatsbürger in abstracto, er nomadisirte unter dem Zelte des Staates und bedurfte des festen Daches in der Gemeinde nicht, während bei jedem andern das Staatsbürgerrecht erst einen Sinn, erst seine praktische Bedeutung dadurch bekam, daß das Gemeindebürgerrecht hinzutrat. Die Aufhebung dieses Mißverhältnisses ist ein großer socialer Fortschritt gewesen.

Es galt vielfach für staatsklug, gerade die jüngeren, die ärmeren Beamten recht häufig zu versetzen, damit sie sich an keinem Orte recht einbürgerten, damit sie, bürgerlich heimathlos, bloß im Staate schlechthin sich seßhaft dächten. Aus demselben Grunde liebte man es, katholische Beamte in protestantische Landstriche zu schicken und umgekehrt. Aber statt den mittelloseren Beamten loyaler zu machen durch diese kostspielige Heimathlosigkeit, durch dieses unstäte Umherziehen, über welchem nur die dunkle höhere Macht unberechenbarer Ministerialverfügungen ihre regelnde Hand hielt, stempelte man ihn vielmehr zu einem Kandidaten des vierten Standes!

Diese Organisirung des Beamtenthums als eines eigenen Standes gemahnt auffallend an das Vorbild der kirchlichen Hierarchie. Aber im Beamtenstande gilt kein Cölibat. Wenn darum der Klerus nur als das unfertige Bruchstück eines besonderen Standes sich darstellt, so mag die Büreaukratie immerhin auch einen ganzen Stand bilden, aber es ist ein Stand, der sich zu den natürlichen Ständen verhält, wie der Homunculus, den Wagner in der Phiole destillirt, zu dem natürlich gezeugten Menschen. Selbst der arme Beamte wendet in der Regel seinen letzten Pfennig auf, um seinen Sohn wieder in den Staatsdienst zu bringen. Das ist an sich nicht zu tadeln, aber zu tadeln ist der dem Kastengeiste entspringende Gedanke, welcher im Staatsdienste lediglich eine privilegirte Versorgungsanstalt sieht. Namentlich sind es die Mütter, die schon frühzeitig den Söhnen den unsittlichen Gedanken einzuimpfen wissen, daß der Staatsdienst ein Mittel zum Zweck – dem Zwecke der mit Pensionen und Wittwengehalten verbrieften Existenz sey. Diese durch das wohlbestandene Examen für alle Zukunft kampflos gesicherte Existenz ist recht eigentlich das goldene Kalb, um welches das büreaukratische Philisterthum anbetend tanzt.

In der römischen Kaiserzeit tauchte das Luftbild eines besonderen Staatsdienerstandes zum erstenmale auf. Unsere Geschichtschreiber finden dort in dieser Thatsache ein Wahrzeichen, daß eine ganze Nationalentwickelung ihrem Bankerott entgegenging. Und in der Gegenwart –?

Die gemachten, unächten Stände und das ungeheure sociale Wirrsaal, welches sich an ihre Scheinexistenz knüpft, haben nicht nur das meiste dazu beigetragen auch jedes Zurückgreifen auf die natürliche Gruppenbildung unpopulär zu machen, sie haben zugleich zu den zahllosen praktischen Verirrungen der socialen Reformversuche geführt. Wie man hier Standesgebilde vor sich sah, bei denen willkürlich von außen das Krumme gerade gereckt, das Ueberwüchsige zugestutzt werden konnte, so glaubte man auch mit dem gleichen Verfahren den natürlichen Ständen sich nähern zu können, während dieselben doch höchstens einen leisen Anstoß zur eigenen Entwicklung von innen heraus dulden.

Um die alte edle Selbstbeschränkung der einzelnen Stände in Bedürfnissen, Sitten und Bräuchen wieder zurückzuführen, brachte im Jahre 1819 ein hochgestellter Redner in der ersten badischen Kammer folgenden historisch merkwürdigen Antrag ein:

»Wenn ich auch die Einführung einer Nationaltracht hier nicht in Vorschlag bringe, indem die hier und da schon angestellten Versuche bis jetzt nicht geglückt sind, und wir auch nicht eine Nation in dem Grade noch bilden, um eine derartige Einrichtung für jetzt wenigstens mit Erfolg für ganz Deutschland hoffen zu können, so dürften doch allgemeine Bestimmungen in jedem einzelnen Bundesstaate darüber nothwendig werden: Welche Art von Kleidung und aus welchen Stoffen bestehend jedem Stande und jedem Geschlechte zu tragen erlaubt sey? Wer berechtigt sey, Wagen und Pferde zu halten und wer nicht, und welcher Gattung von Möbeln sich jede Classe bedienen dürfe, wobei immer eine billige Rücksicht bei der deßhalb zu entwerfenden Classification auf die vermögenderen nicht berechtigten zu nehmen, und bei diesen unter gehöriger Nachweisung ihrer guten Vermögensumstände eine Ausnahme von der Regel zu machen seyn würde.«

Hier haben wir den ganzen Spuk der unächten Stände. Was man dem »Beamten-Stand« wohl vorschreiben mag, daß er nämlich einen eigenen Standesfrack trägt, das wollte der Redner nun auch dem »Bürger-Stande« vorschreiben. Warum auch nicht?

War es möglich vor dreißig Jahren eine solche sociale Cur zur Zurückführung der alten Selbstbeschränkung der Stände im Ernste noch vorzuschlagen, dann können wir in der That stolz seyn auf die großartigen Fortschritte, welche die Wissenschaft vom socialen Leben inzwischen gemacht hat.


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