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Viertes Kapitel

Das Bürgerthum im politischen Leben.

Das politische Gebilde des constitutionellen Staates ist hauptsächlich von dem Bürgerthum herausgearbeitet und verfochten worden. Mag man sich Ursprung und Form des Constitutionalismus noch so verschiedenartig denken, im Wesenhaften wird er immer auf den Gedanken zurücklaufen, daß im Staatsleben der Gesellschaftsbürger im Staatsbürger aufgehen müsse. Dem Bauer ist das sehr gleichgültig, dem Proletarier höchstens eine mißverstandene und mißbrauchte socialistische Wahrheit, dem Aristokraten eine Irrlehre. Der Bürger dagegen, der sich als die zum politischen Bewußtseyn gekommene überwiegende Masse der modernen Gesellschaft weiß, wird bei dem nivellirten Staatsbürgerthum am besten seine Macht erproben. Jede politische Frage ist eine Machtfrage, dieweil wir nicht im tausendjährigen Reiche leben, wo alle Politik nach den Naturrecht gemacht wird. Der Constitutionalismus ist die Machtfrage des Bürgerthums.

Das Aufleben des Constitutionalismus und des modernen Bürgerthums fällt historisch zusammen am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts. Von da an haben die constitutionellen Ideen im Bürgerstande sich ununterbrochen fortgebildet, gemehrt, gezeitigt. Man mag über ihre Anwendung, mehr noch über ihre Alleinherrschaft verschieden gesinnt seyn, das Recht sich geltend zu machen wird man diesen Ideen nicht mehr wegdisputiren können.

Der Constitutionalismus, als die Lehre der politischen Mitte, der bewegenden Mitte, entspricht dem Bürgerstande als dem Mittelstand. Das gegenseitige Abwägen der Machtvollkommenheit der Staatsgewalten entspricht der Scrupulosität des Bürgers. Ein nie ganz zum Ziele führendes und doch auch nie ganz resultatloses Ringen um den Besitz der Macht liegt den verschiedenen constitutionellen Gewalten gleich nahe; durch die flüssigen Gegensätze erhält sich der Staat lebendig, den ausschließenden Besitz der Macht hat Niemand. Das ist bürgerthümlich. Aber verhehlen wir es uns auch nicht, daß der Constitutionalismus dem politischen Philisterthum eben so nahe steht als der Bürger dem socialen Philister.

Ohne das Bürgerthum würden dem großen Bilde der Gesellschaft die Mitteltinten fehlen. Die Maler wissen aber, daß nicht die ungebrochenen Farben, sondern gerade die Mitteltinten, welche immer die vorwiegende Masse bilden werden, zumeist entscheidend sind für den Ton des ganzen Gemäldes.

Rettende Thaten widerstreben dem Geiste des Bürgerthums, namentlich wenn sie statt der Ausnahmen zur Regel werden. Die Art des Erwerbes des politischen Rechtes steht dem ächten Bürger höher als die Thatsachen des Erworbenen selber. Die bürgerlich liberale Partei ist schon oft darum erlegen, weil sie mit dem Verfolgen einer formellen Verfassungs-Politik im entscheidenden Augenblick nicht abzubrechen wußte. Eine nicht unrühmliche Niederlage. Die Politik der Aristokratie ist gleichsam ein überliefertes historisches Besitzthum; zur Bewahrung derselben angesichts der Revolution sind ihr die rettenden Thaten viel näher gelegt. Andererseits ist das demokratische Proletariat lediglich auf die rettenden Thaten angewiesen, denn es hat noch gar kein historisches Recht, und nur was es sich nimmt, gehört ihm.

Die Stände sind nicht gleichbedeutend mit den politischen Parteien, darum ist es nicht gesagt, daß alle Bürger Scheu vor rettenden Thaten hätten oder überhaupt monarchisch-constitutionell gesinnt seyen. Ich spreche nur von der Mehrheit und dem was sie vertritt, nämlich dem Geiste des Standes.

Aus dem Schooße des deutschen Bürgerthums ging der ideelle Anstoß zu der Märzbewegung von 1848 als einer nationalen und constitutionellen Reformbewegung hervor. Es waren die Chorführer der bürgerlich-freisinnigen Partei, welche an der Spitze standen, ja es waren vorzugsweise jene bürgerthümlichen Germanisten, denen wir oben schon einmal begegnet find. Erst als die aus dem Boden aufwachsenden, auf proletarischen Anhang gestützten Republicaner mit »rettenden Thaten« eingreifen wollten, ward aus der bürgerlichen Reformbewegung ein Stück Revolution. Auf den damaligen classischen Listen der »Volksforderungen« standen an vielen Orten ursprünglich nur die gemäßigten Punkte von den Männern der bürgerlichen Partei, bezeichnet: von den Führern des Proletariats wurden erst bei der Debatte die maßlosen hineincorrigirt.

Während die Männer des Vorparlaments in der Paulskirche beriethen, prügelten sich die Parteigänger auf den Gassen Frankfurts um zwei Fahnen; auf der einen stand »Republik,« auf der andern »Parlament.« So hörte man damals überhaupt häufig die bange Frage aufwerfen, ob sich das Volk für Republik »oder« Parlament entscheiden werde. In dieser drolligen Gegenüberstellung lag ein tieferer Sinn. Unter dem Parlament dachte man sich die verfassungsmäßige Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten im Anschluß an die bestehenden Rechtsverhältnisse und im Geiste eines freien Bürgerthums, unter Republik die rettende That der socialen Demokratie. In dem Stichwort des Parlaments zielte der Bürger ganz richtig auf ein constitutionelles Verfassungsleben der Nation als die beste Verbriefung seiner ständischen Hegemonie.

Als das Bürgerthum die Märzbewegung wenige Tage lang noch allein im Zügel hielt, trug dieselbe einen durchweg idealen Charakter; viele Neuerungen waren vortrefflich. Als der vierte Stand das Bürgerthum in der Praxis überrumpelte, herrschte die gemächliche Anarchie. Weil Bürger, Bauern und Edelleute nicht vereint dem vierten Stande Widerpart hielten, kamen die Regierungen mit den Soldaten dazwischen. Durch das eigene Verschulden der Passivität wurden jene drei socialen Mächte gezwungen zurückzutreten und verloren die Früchte des Sieges. Aber auch erst als das Bürgerthum zurückgetreten war, konnte die Restauration kommen.

Leuchtet da nicht die Bedeutsamkeit einer socialen Politik, oder, um mißliebig zu sprechen, einer Standespolitik eindringlich genug hervor?

Der vielberufene Kammerliberalismus der vormärzlichen Zeit wurzelte im bürgerlichen Geiste, wohl auch etwas im Geiste des Philisterthums. Nicht ohne Grund hat man ihn auch »Bourgeois-Liberalismus« genannt. Er trieb vorwärts, ohne selber von der Stelle zu kommen. Zu reden und zu rächen lag ihm näher als zu thaten. Als Parlamentarischer Heißsporn der formellen Verfassungspolitik unterschätzte er die socialen Mächte, ja das Interesse der Partei ging ihm wohl gar über die Interessen der Nation. Trotzdem bekundete dieser phrasenreiche Freisinn, dessen ehemaligen Einfluß auf die Menge man heutzutage, wo das alles anders geworden, leicht vergißt, den Trieb der socialen und politischen Bewegung im Bürgerthum zu einer Zeit, wo alles öffentliche Leben versumpfte. Wenn uns die positiven Ergebnisse, welche diese Richtung erzielte, vielfach nicht behagen, so verkennen wir wenigstens keineswegs, daß sie sich durch das Aufrütteln der fast gänzlich eingeschlummerten socialen Machte ein großes mittelbares Verdienst erwarb.

In erhöhtem Grade setzte sich dieselbe Richtung mit all ihren Gebrechen und Vorzügen auch in den beiden Revolutionsjahren fort. Dieser constitutionelle bürgerliche Liberalismus charakterisirte gerade in selbiger Zeit zu treffend den inneren Zwiespalt im deutschen Bürgerthum, als daß ich mir versagen könnte, seinen damaligen politischen Ideenkreis in einigen drastischen Zügen anzudeuten.

Der bürgerliche Liberalismus wollte Fürsten – aber nicht von Gottes Gnaden. Konstitutionelle Monarchie, aber doch zugleich eine demokratische– »auf breitester demokratischer Grundlage.« Einen König, der herrscht aber nicht regiert. Der freisinnige Bürger war froh, daß es nebenbei noch Fürsten gab, er erschrak aber, als der König von Preußen beim Kölner Dombaufeste laut sagte, es gebe noch Fürsten. Er wollte eine Kammer, die den Minister in die Tasche stecken könne, aber darum doch nicht selber regiere. Politische Vertretung der Gesellschaft im allgemeinen – aber nicht im besonderen. Eine Republik in Frankreich, damit die deutschen Fürsten Respect vor dem Constitutionalismus behalten möchten. Deutsche Grundrechte – aber mit Ausnahmen. Religionsfreiheit, aber keine Jesuiten, Klöster und Freigemeindler. Volksbewegung, Volksforderungen, Sieg des Volkes – aber keine Revolution. Bürgerwehr, aber keine allgemeine Volksbewaffnung. Bürgerliche Ministerien. Als dieselben geschaffen waren, wurden sie übrigens von dem bürgerlichen Liberalismus im Stiche gelassen. Der Philister that dies aus Neid, aber viele gute Bürger aus eben so ehrlichen als unpraktischen Zweifeln, aus kritischer Gewissenhaftigkeit. Beamte und Soldaten sollte es geben, aber keinen Beamten- und Soldatenstand. Man wollte, wie der beliebte Kunstausdruck lautete, gleich weit entfernt bleiben »von der Anarchie wie von der Reaction.« Dadurch verfiel man zuerst der Anarchie und nachher der Reaction. Durch den Drang nach beiden Seiten gerecht zu seyn, durch die Consequenz der Doctrin, wo doch die gegebenen Thatsachen keineswegs gleich consequent blieben, ging alles Spiel verloren. Wer die Geschichte des deutschen Bürgerthums auch in früheren Jahrhunderten nachschlägt, wird finden, daß es sich unzähligemal aus gleich edlen Motiven gleich tragische Schicksale bereitete. Der bürgerliche Liberalismus forderte die deutsche Einheit aber unbeschadet des bestehenden Sonderthums. Mediatisirungen, über deren Grenzlinien Niemand einig werden konnte. Oder es war auch kleinstaatlicher Individualismus und großstaatliche Centralisation einem und demselben Manne gleich verhaßt. »Patrioten« wünschten die Niederlage der Deutschen auf den Schlachtfeldern in Ungarn, damit die neue Verfassung der Deutschen auf dem Papier keine Niederlage erleide.

Man muß nicht meinen, daß dieser stete Gegensatz von Vorwärtsdrängen und Zurückhalten wie bei einem Divisionsexempel mit gleichen Factoren in Null aufgehe. Im Einzelnen mag die Bewegung resultatlos geblieben seyn, aber die Thatsache, daß die Bewegung überhaupt bestand, ist das wichtigste und unumstößliche Resultat.

Der ächte Bürger blieb sich getreu in seinen Zweifeln, in seiner theoretischen Gewissenhaftigkeit. Der Philister, auf Fallstaff's Katechismus über die Ehre gestützt, konnte viel thatkräftiger erscheinen, denn er lief überall der Macht nach, und schlug los, wo er sich sicher wußte.

Darum trat das Bürgerthum in einer Bewegung, die es doch selber großentheils hervorgerufen, dennoch keineswegs bedeutsam in den Vordergrund. Das ist bei ihm allezeit nicht anders gewesen. Dem Bürgerstande, wo er als eine Macht der socialen und politischen Bewegung auftritt, fällt nicht die glänzende ritterliche Rolle der Aristokratie zu, nicht die abenteuerlich kecke des Proletariers, nicht die gemüthliche des Bauern. Er muß durchfechten und hat nicht Ehre noch Gewinn davon, vielmehr gar häufig Spott und Hohn wegen seiner unpraktischen Gewissenhaftigkeit, seines linkischen, ungeschickten Anstellens. Zu einer künstlerischen Figur taugt der in den Kämpfen des öffentlichen Lebens sich abmühende Bürger fast gar nicht, Proletarier, Bauer und Edelmann sind da dem Dichter und Maler zehnmal ausgiebigere Gestalten. Der Bauer schiert sich in Revolutionszeiten den Teufel um Grundsätze; was ihm für seine Verhältnisse im Kleinen und Großen vortheilhaft scheint, sucht er sich herauszuholen. Der liberale deutsche Bürger sieht so lange für Grundsätze, bis alle anderen sich hinter seinem Rücken in den realen Nutzen getheilt haben. Er kann Staatsumwälzungen anspinnen, aber er kann sie nicht ausbeuten, ganz wie die Männer des bürgerlichen Gewerbes in Deutschland industrielle Erfindungen machen, damit andere Nationen den Vortheil davon ziehen.

Im Mai 1849 trat in Frankfurt ein Congreß der constitutionellen und Bürgervereine Süddeutschlands zusammen, um über das Verhalten dieser zahlreichen Klubbs des liberalen Bürgerthums bei den damaligen »Reichsverfassungskämpfen« Raths zu pflegen. Als der Congreß eben eröffnet werden sollte, platzte die Nachricht von dem Ausbruch der Empörung in Karlsruhe und Rastatt, von der Flucht des Großherzogs von Baden wie eine Bombe in die Versammlung, und die badischen Mitglieder beschlossen sofort wieder nach Hause zu gehen. Das war menschlich, denn die Leute besaßen Haus und Familie. Proletarier dagegen würden nun erst recht auf dem Congreß geblieben seyn. Bauern wären vermutlich auch abgezogen, hätten aber wohl lieber den, ganzen Congreß gleich mit nach Baden genommen, weil sich selb fünfzig jene knurrende Defensive, die oberste Bauerntaktik, sicherer durchführen läßt als selb zwei oder drei. So war also der Congreß von vorn herein gelähmt. Nun berieht man sich über einen Anschluß an die demokratischen Märzvereine »zur Durchführung der Reichsverfassung.« Es gedenkt dem Verfasser noch sehr lebhaft, daß ein Redner auftrat, denn er selber war dieser unglückliche Redner, den man auslachte, weil er warnend darauf hinwies, daß bei ihm zu Land die bürgerlich Constitutionellen durch einen ähnlichen »Anschluß« erst kürzlich von der Demokratie in's Bockshorn gejagt worden seyen. Es war sicherlich klug zu lachen, denn warum hatten sich jene auch in's Bockshorn jagen lassen? Die also lachten, wünschten übrigens vielleicht in ihrem stillen Sinn die Reichsverfassung sammt allen Märzvereinen dahin wo der Pfeffer wächst. Sie beschlossen aber doch den »Anschluß an die Märzvereine zur Durchführung der Reichsverfassung.« Denn um der Ehren- und Gewissenssache der politischen Consequenz willen mußten sie zu der Reichsverfassung halten, und an sich war gegen den Wortlaut der demokratischen Programme zur »Durchführung« dieser Verfassung durchaus nichts einzuwenden. Man sah, welchem Abgrund man zueilte, man wußte recht gut, daß hinterdrein lediglich die Demokraten lachen würden, blieb aber doch »bei den Grundsätzen« stehen. Das war bürgerlich. Tief bewegt verließen wir diesen Congreß: er hatte im kleinen Raume das ganze Drama dargestellt, welches der bürgerliche Liberalismus während jener Jahre auf der großen Bühne der vaterländischen Geschichte abspielen sollte.

Um folgerecht in den Grundsätzen zu seyn, spricht man auch in neuester Zeit (1851) immer wieder von einem Anschluß des Restes der constitutionellen Partei an die Demokraten. Man sieht voraus, daß die constitutionelle Partei ruinirt würde, falls ein solcher Bund zu Stande käme. Man unterschätzt nicht die Breite der Kluft, welche die sociale Frage zwischen beiden Parteien aufgerissen hat. Aber steif stehen bleiben bei schulgerechten Grundsätzen, das ist Bürgertrotz, steif stehen bleiben bei der Sitte Bauerntrotz, beim geschichtlich überlieferten Rechte Adelstrotz, und steif stehen bleiben bei der absoluten Majestät des Elendes, welches Bürger, Bauern und Barone zusammen auffressen werde, der Trotz des vierten Standes.

Es ist dermalen sehr wohlfeil geworden, auf die »Professoren« zu schelten. Man versteht darunter jene Politiker der Schule, welche, statt von den Thatsachen des Volkslebens auszugehen, wie es nun einmal historisch geworden vorliegt, und statt von der jeweiligen gegebenen politischen Weltlage, von den allgemeinen Sätzen ihrer meinetwegen vortrefflichen Lehre ausgehend das kranke öffentliche Leben curiren wollten. Man vergesse nicht, daß diese Professoren bei dem gebildeteren Bürgerthum die Autorität ersten Ranges gewesen sind. Man vergesse auch nicht, daß fast alle die größten reformatorischen Geister des neueren Bürgerthums von Luther bis auf Lessing und Goethe gar viel und just nicht das schlechteste von dieser Professorenart an sich gehabt haben. Nur vergaßen die »Professoren« der letzten Jahre über dem gebildeten Bürgerthum die Gesammtheit der Gesellschaft: im Besitze so vieler Wissenschaften übersahen sie die »Wissenschaft vom Volke,« sie vergaßen, daß es auch noch Proletarier, Bauern und Edelleute gibt, und es war kein König von Preußen da, der sie, wie die Demokraten an die Existenz der Fürsten, an die Existenz dieser Mächte erinnert hätte.

Nicht alle Bürger huldigten dem constitutionellen Fortschritt dieser Schule. Aber ächt bürgerlich ist es, daß keiner dem »Fortschritt« als solchem abhold seyn will, nur denkt sich jeder bei diesem Fortschritt etwas anderes. Es gibt höchst conservative Bürger, nicht vereinzelt, sondern in großen Gruppen, die noch lange nicht bis zum Constitutionalismus gekommen sind. Aber gleich mächtig ist im ganzen Bürgerstande das tiefgewurzelte politische Rechtsbewußtseyn, welches sich weit eher mit einer mißlichen Politik der Verfassungstreue befreundet, als mit einer noch so erfolggekrönten Politik der Gewalt. Wenn der französische Dichter seinen König als einen Bürgerkönig preist, der die Franzosen gezwungen habe glücklich zu werden, so wird der deutsche Bürger schwerlich viel bürgerliches an solch sanftem Zwange finden. In der meisterlichen Scene im Egmont, wo der versoffene Schreiber Bansen, so ein Stück von einem literarischen Proletarier alten Styles, die Bürger aufstachelt, geht er von dem »Herkommen, den Rechten des Regenten und der Staaten und Provinzen« aus. Sowie er von den »Landrechten« und ihrer Verletzung spricht, werden die Bürger mißtrauisch, denn » die alten Fürsten haben's auch schon probirt,« wie Soest der Krämer sagt. Die Exegese der alten gesetzlichen Freiheiten und Privilegien, welche Bansen zum besten gibt, wird mit den Ohren verschlungen von dem lauschenden Volk. Und als er endlich, betheuert: »Ich will's Euch geschrieben zeigen, von zwei-, dreihundert Jahren her« – da geht der Lärm los und die Bürger rufen: »Und wir leiden die neuen Bischöfe? Und wir lassen uns von der Inquisition in's Bockshorn jagen? Der Adel muß uns schützen, wir fangen Händel an!« Die ganze Kraft, die ganze Schwäche des Bürgerthums ist in dieser Scene unübertrefflich gezeichnet.

Möchten unsere Staatsmänner nicht vergessen, daß dieses zähe Festhalten des Bürgers am geschriebenen Recht, das vorzügliche Gewicht, welches er der formell exacten Fortbildung der formellen Politik beilegt, ganz derselbe ehrenfeste Charakterzug ist, der als die formellste Gewissenhaftigkeit in Handel und Wandel den Bürgerstand reich und stark gemacht hat. Die »rettende That« läßt sich der friedliebende Bürger in der höchsten Noth, wenn es dem Staate und der Gesellschaft an Hals und Kragen geht, wohl auch einmal gefallen, aber in ruhigeren Zeiten tasten sie an das kaufmännische Rechtlichkeitsgefühl des Bürgers. Wenn man öffentliche Verträge so ohne weiteres einseitig auflösen kann, warum sollte man nicht auch unbequeme Privatverträge einseitig lösen dürfen? Das ist eine ganz einfache bürgerliche Frage.

Es ist dieses kaufmännische Rechtlichkeitsgefühl des Bürgerthums in der Politik dafür gesetzt, daß die Wahrung der politischen Formen als ein Damm gegen allerlei Willkür fest stehen bleibe, und wir sehen mit Freuden, wie diese bürgerliche Richtung mehr und mehr bei allen Ständen Eingang findet. Aber einseitig ist die Auffassung, daß mit diesen Formen nun auch schon irgendeine positive Politik geschaffen sey. Solche Einseitigkeit hänget vielen Constitutionellen an.

Das Bürgerthum sieht sich überall gesammthaftbar verbunden in dem Einstehen für die formelle Rechtlichkeit des Verfassungslebens. Der realistische Bauer weiß nichts von dergleichen einigenden politischen Kerngedanken des Standes. Bürger und Bauer sind überhaupt die entschiedensten socialen Gegensätze. Wenn einmal die Ausebnung der Gesellschaft wiederum einen großen Ruck vorwärts machen würde, wenn die gegenwärtigen natürlichen Gruppen sich nochmals zusammenzögen, dann würden wohl immer noch zwei Hauptschichten übrig bleiben: Bürger und Bauern.

In dem Festhalten an dem Gedanken des Rechtsstaates mag eben so gut eine conservative als eine liberale Tendenz liegen. Der Doppelnatur des Bürgerthums ist hier wiederum der freieste Spielraum gelassen, und die aus dem Bürgerstande hervorgehende Neuerung wird immer nur mäßigen Schrittes vorwärts schreiten. Was das Bürgerthum erringt, ist meist scheinbar gering, aber es bleibt auch sitzen. Man mag z. B. die Reformen des Gerichtswesens aus den letzten Jahren noch hier und da beschneiden und verkürzen, ganz wegtilgen wird man sie niemals wieder. Darum ist es die größte Kunst des Staates, der social und politisch bewegenden Kraft des Bürgerthums Zugeständnisse zu machen, nämlich die rechten Zugeständnisse und zur rechten Zeit. Je genauer dieser Punkt getroffen wird, um so conservativer wird das Bürgerthum. Dem Philister aber, den bald der Bewegungsschwindel, bald ein Stillstands- oder Rückschrittsgelüsten erfaßt, soll man niemals das mindeste Zugeständnis machen, denn je mehr man ihm zugesteht, desto unverschämter wird er. Hätten die Regierungen im Jahre 1848 in ihrer Herzensangst den Philistern nicht so viele Zugeständnisse gemacht, so würden die Bürger vielleicht die Kraft und den Muth behalten haben, die Bewegung, welche sie heraufbeschworen hatten, auch wieder zu bannen.


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