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Zweites Kapitel

Der sociale Philister

Eine eigenthümliche sociale Krankheitsform ist in dem modernen Bürgerstande zum Ausbruch und zu wahrhaft epidemischer Verbreitung gekommen. Es ist der Stumpfsinn gegen jegliches sociale Interesse, die gewissenlose Gleichgültigkeit gegen alles öffentliche Leben überhaupt. Ein großer Theil des modernen Bürgerstandes, ist förmlich ausgeschieden aus der Gesellschaft, der Einzelne zieht sich in die vier Wände seines Privatlebens zurück. Die Schicksale des Staates und der Gesellschaft wecken nur noch insoweit seine Theilnahme, als ihm ein persönlicher Vortheil dabei in's Auge springt, als sie ihm Stoff zur Unterhaltung oder wohl gar Anlaß zu gelegentlicher Prahlerei bieten. Man faßt diese ganze große Sippe unter dem Namen der Philister zusammen.

Der politische Philister fällt keinem einzelnen Stande besonders zu, er stellt sich dar als eine Entartung des Staatsbürgers, nicht des Gesellschaftsbürgers: der sociale Philister dagegen gehört wesentlich dem Bürgerstande an. Wenn das gesunde Bürgerthum gerade durch die in ihm stets flüssigen Gegensätze des Sondergeistes und Einigungstriebes, eines aristokratischen und demokratischen Princips, erst recht sein originelles Gepräge erhält und zur Macht der socialen Bewegung wird, dann heben sich diese Gegensätze im Philister zur Indifferenz auf, und er vertritt uns die sociale Stagnation. Auch im Philisterthum freilich ist Leben und Bewegung, aber es ist jenes schauerliche Leben, welches in dem verwesenden Leichnam gährt und wühlt.

Der Philister erkennt wohl auch gleich uns in dem Bürgerstande den »Mittelstand«, aber nicht, weil er in ihm den bewegenden Mittelpunkt gefunden, darin alle Radien des gesellschaftlichen Lebens zusammenlaufen, sondern weil sein Bürgerthum der Ausbund socialer Mittelschlächtigkeit ist, ein nichtsnutziges, lauwarmes triste-milieu.

Nicht der ökonomisch zerrüttete Bürger wird am leichtesten zum Philister; das Philisterthum setzt eher ein gewisses Wohlbefinden, und setz es auch nur ein ganz erbärmliches, kleinliches, voraus; es ist ein in's Kraut geschossenes Bürgerthum, von seiner Idee abgefallen, aber äußerlich um so üppiger fort vegetirend;

»Zum Teufel ist der Spiritus,
Das Phlegma ist geblieben.«

Hier zeigt sich sogleich ein merkwürdiger Gegensatz zwischen Bauernthum, Aristokratie und Bürgerthum. Der in der Selbstgenügsamkeit seines äußerlichen Standesbewußtseyns entartete Baron verjunkert, der Bauer verhärtet zu einem knorrigen Stockbauern, d.h. beide bleiben in dem Extrem ständischer Abgeschlossenheit stecken. Der zum Philister verkrüppelte Bürger dagegen verliert alles ständische Gemeinbewußtseyn, und die völlige sociale Gleichgültigkeit ist es gerade, die ihn zumeist charakterisirt. Dem verjunkerten Edelmann würde nicht der Philister, sondern der Spießbürger entsprechen, welcher sich als der in ständischer Einseitigkeit eingeschrumpfte Bürger darstellt. Und dies ist wiederum ein bemerkenswerther Unterschied der alten und neuen Zeit, daß vordem der Spießbürger vorherrschend der entartete Bürger gewesen ist, während jetzt der Philister den Spießbürger großentheils verdrängt hat. Der socialistisch-communistische Proletarier und der Philister arbeiten gleicherweise an der Auflösung der gegliederten Gesellschaft: der eine indem er angreifend verfährt, der andere indem er stumpf und theilnahmlos diese Angriffe geschehen läßt; jener demonstrirt uns die geschichtliche Gesellschaft theoretisch weg, dieser steckt wie der Vogel Strauß den Kopf in die Ecke, und glaubt dann, es gebe keine historische Gesellschaft mehr.

Der Philister ist ein betrogener Bürger, der Gefoppte und Geprellte aller Parteien, ohne daß er selber dies merkt. Ein sociales Glaubensbekenntnis besitzt er so wenig als ein politisches, er hält es immer mit derjenigen Partei, welche das für den Augenblick bequemste Bekenntniß formulirt hat. Darum verfälscht er allen Maßstab für die wirkliche Bedeutung der Parteien. Seit der Philister eine förmliche sociale Gruppe bildet, ist der Begriff der »öffentlichen Meinung« ein leerer Schall geworden. Denn wo der Philister den Ansatz zur Bildung einer Mehrheit wahrnimmt, da tritt er sofort gedankenlos hinzu und erweckt, da er sich überall den Massen nachdrängt, vorweg den Verdacht, daß die Stimme der Massen die Stimme der Unvernunft sey. So hat der Philister auch in künstlerischen und literarischen Dingen den Gedanken eines urtheilenden und richtenden »Publikums« zu einem gefährlichen Wahnbild werden lassen. Es brauchen nur ein paar vorwitzige Bursche recht lauten Beifall zu spenden, gleich läuft ein ganzes Rudel von Philistern als hundertfältiges Echo hintendrein.

Einzelne Philister hat es gegeben seit es einen Staat und eine Gesellschaft gibt, aber das Philisterthum als eigene umfassende sociale Gruppe ist eine durchaus moderne Erscheinung. Dem Geiste des klassischen Alterthums würde es entsprochen haben, den Philister mit Verbannung und bürgerlichem Tode zu bestrafen. Es ist ein trauriges Zeichen von der innern Hohlheit des modernen Polizei- und Beamtenstaates, daß derselbe die Gesellschaft- und Staatsgefährlichkeit des Philisters gar nicht erkennt, oder, wo dies geschehen sollte, demselben durchaus nicht beizukommen weiß. Der Grundgedanke des Philisterthums ist eine tiefe politische Unsittlichkeit, welche Staat und Gesellschaft langsam vergiftet, und doch kann zugleich der Philister nach polizeistaatlicher Auffassung der politisch, d.h. polizeilich, loyalste Bürger seyn. Welch erschreckender Widerspruch! Politisch und social nichts zu thun und nichts zu seyn ist kein Verbrechen, sondern eine Tugend im modernen Staate! Aber man übersehe doch auch nicht: dieser Zug im Gesichte des Modernen Staates ist der wahrhaft hippokratische, der todtverkündende. Wir haben schon bei den Bauern wahrgenommen, wie unsere Regierungen fast nur verneinend und austilgend einzugreifen wissen in das sociale Leben, nicht aber positiv aus dem Individuellen entwickelnd und weiterbildend. Dem socialen Philister, welcher der Gesellschaft gefährlicher ist als der communistische Proletarier, kann man nicht mit Haussuchungen, Ausweisungen und Arretirungen zu Leibe gehen, man kann nur mittelbar durch Schutz und Pflege eines kräftigen und gesunden Corporationsgeistes im Bürgerthume das Aussterben dieser Gruppe des entarteten Bürgerthumes anbahnen. Hier aber stoßen wir zum andernmal auf einen Widerspruch: der Polizei- und Beamtenstaat möchte recht gern einen Rückhalt in den socialen Mächten gewinnen, und dennoch fürchtet er sich zugleich vor denselben! Er will durchaus nur schwache Bundesgenossen, aber ein schwacher Bundesgenosse ist hier nichts anderes als – ein Gegner.

Die prächtige sprachliche Bezeichnung des »Philisters« haben wir dem Burschenleben zu danken. Was dem Burschen das »Kameel« im engeren Kreise des Studententhums, das ist ihm der Philister in dem weiteren Bereich der ganzen Gesellschaft. Im Uebermuth des Corporationsgeistes erkennt der Student gleichsam nur die Hochschule und was dazu gehört, als die berechtigte Gesellschaft an. Alles, was draußen steht, ist Philister. So sollen der bürgerlichen Gesellschaft selber alle die, welche draußen stehen, weil sie in dem Eigennutz ihres Privatlebens keinen Raum mehr übrig haben für das sociale Leben, Philister heißen. Nach dieser Herkunft trifft das Wort im Doppelsinne, es trifft wie eine Peitsche: denn es zeichnet den Philister als den wirklichen und verdienten Paria der Gesellschaft. Keines socialen Gebildes hat sich gegenwärtig der Humor so eifrig bemächtigt als des Philisters. Die in dem Sonderthum ihres Standes versteiften Edelleute, Bürger und Bauern, die zopfigen Bürgermeister sammt Baron Pappendeckel und Pachter Feldkümmel sind längst verbrauchte Carricaturen. Die Carricaturen des Philisterthums dagegen, die Hampelmänner, Staatshämorrhoidarier und Piepmeyer gehören recht eigentlich der modernen Zeit an. Das in Nichtsnutzigkeit entartete Proletariat sämmtlicher Stände ist zu erschreckend ernst für die Satyre. Der Philister ist unsere einzige ausgiebige sociale Originalkarricatur. Aber man müßte ihn nicht zu kleinlichem Spaß ausbeuten; sondern, zu aristophanischem Spott mit großartigem sittlichem Hintergründe. Hampelmann, der auch die höchsten Interessen des öffentlichen Lebens mit der Elle des »baumwollenen und wollenen Waarenhändlers« mißt, dessen ganze sociale Politik im Geldsacke sitzt, der sich über alle Parteien erhaben dünkt, weil alle ihm gleicherweise eine Nase drehen, als das Urbild des bornirten, stumpfsinnigem Egoismus in der philisterhaften Entartung des Bürgerthumes; Piepmeyer, der seine Fühlhörner ausstreckt, um zu beschließen ob er wieder etwas weiter nach rechts oder links rücken solle, als der Ahnherr jener stark verzweigten Linie der Philister, die in regster Theilnahme an allem Außenwelt des öffentlichen Lebens nur Stoff für das Bramarbasiren mit ihrer winzigen Person suchen: – das sind lustige Bilder und doch zugleich die schwärzesten Nachtstücke aus unseren socialen Zuständen.

Der verdorbene, proletarische Bauer hat seinen Hauptsitz nicht auf den Hofgütern und Weilern, sondern in den großen, stadtähnlichen Dörfern. Der Fundort des zum socialen Philister entarteten Bürgers ist umgekehrt weit weniger in den größeren, vollgültigen, als in den kleinen, dorfähnlichen Städten. Die Kraft des Bürgerthums hat sich allezeit mehr im umfassenderen Zusammenleben und Zusammenwirken, die Kraft des Bauernthumes mehr in der Vereinzelung geltend gemacht. Der Sprachgebrauch nimmt wohl gar einen »Kleinstädter« für gleichbedeutend mit einem Philister. Als die Ständebündnisse des Mittelalters sich aufgelöst hatten, und die selbständigen Städte Provinzialstädte wurden, war dem Philister eigentlich erst das Land geöffnet. Die vielen halbwüchsigen, zwitterhaften Städte, an denen wir eben so sehr Ueberfluß haben wie an überwüchsigen Dörfern, sind allmählig wahre Brutöfen des Philisterthums geworden. Es ist darum erfreulich wahrzunehmen, daß seit der Auflösung des alten deutschen Reiches die Centralisirung des deutschen Städtewesens so mächtig vorschreitet. Von Jahr zu Jahr verwandeln sich die kleinen in den Ecken gelegenen Landstädte mehr und mehr in wirkliche Dörfer, sie verbauern, sie werden mit der Zeit auch wieder Dörfer heißen. Die berechtigten Städte dagegen nehmen in demselben Maße zu und gewinnen an selbständiger Physiognomie. Wir haben aus dem vielgliederigen, individualisirten Mittelalter eine Unzahl kleiner Städte geerbt, welche bei den damaligen Zuständen des Bürgerthums sich ganz gut selbständig hatten behaupten können, aber unser Bürgerthum ist ein ganz anderes, geworden und viele dieser kleinen Städte sind trotzdem geblieben. Nun entstanden aber auch noch obendrein in den beiden letzten Jahrhunderten eine Menge künstlicher, durch Fürstenlaune und andere zufällige Motive hervorgerufene Städte, namentlich, kleine Residenzen, die den berechtigten größeren Städten viele Lebenselemente eines gefunden Bürgerthumes abführten, ohne doch selber bedeutend genug zu seyn, ein solches neu aus sich zu schaffen. Dieses Unmaß von zersplitternder Individualisirung des Städtewesens hatte im vorigen Jahrhundert in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht. Die kleinen Residenzen haben sich seitdem von etlichen Hunderten wieder auf etliche Dutzend verringert. In den Jahren von 1803–1817 wurde eine große Zahl von Städtegerechtsamen, die in früherer Zeit wahrhaft gewissenlos verliehen worden waren, wieder aufgehoben, und die Duodez-Städtchen, welche oft genug keine 500 Einwohner zählten, wieder in Dörfer verwandelt. Der Verfasser kennt viele solcher erst zu jener Zeit degradirte Städte, und hat die Umwandlung in Bauerndörfer bereits überall wieder so gründlich durchgeführt gefunden, daß auch fast nirgends mehr die Physiognomie des Ortes, Sitte und Beruf der Bewohner die ehemalige Stadt errathen läßt. Ein Beweis wie heilsam und gerechtfertigt die Umwandlung war. Dagegen kann man auch in Gegenden, wo bei den kleinsten Nestern der alte Städtecharakter aufrecht erhalten wurde – wie z. B. in Kurhessen – sich anschaulich genug von der socialen Gefährlichkeit einer solchen Zwitterexistenz überzeugen.

Die deutschen Kleinstaaten sind es vorzugsweise, welche sich durch den Ueberfluß an allzu kleinen und durch den Mangel an größeren Städten auszeichnen. Darum kennt man in vielen dieser Ländchen kaum ein Bürgerthum im vollen, stolzen Sinne des Wortes, desto besser aber das Philisterthum. Namentlich war es hier eine der verkehrtesten Maßregeln, durch Gründung recht zahlreicher Sitze von Staatsbehörden in den bauernmäßigen kleinen Städten diesen einen gewissen politischen Charakter und dadurch eine erkünstelte Bedeutung zu schaffen. Nirgends wächst der Zopf des Philisterthums länger als in solchen Beamtenstädtchen, nirgends ist der Bureaukratie, der geschworenen Gegnerin eines freien, großen und selbständigen Bürgerthumes, eine wärmere Hegungsstätte bereitet worden. Dieser kunstreich durchgebildeten Kleinstädterei in kleinen Ländern mag wohl oft die Eitelkeit zu Grunde gelegen haben, durch die möglichst große Zahl selbständig individualisirter Städte dem Lande den Schein eines größeren Staates zu geben, wie etwa, wenn man die Quadratmeilen immer kleiner annahm, damit allmählich in friedlicher Eroberung der Flächenraum des Landes zu immer größerer Quadratmeilenzahl sich ausrecken möge. Aber solche Eitelkeit strafte sich hart, denn in der Stunde der Gefahr zeigte es sich, daß nur noch die auseinanderfallenden äußersten Stände vorhanden waren, und nicht mehr der verbindende Mittelstand.

Eine eigene Geschichte der Kinder- und Flegeljahre des socialen Philisterthums in den letzten drei Jahrhunderten würde äußerst lehrreich seyn. Die Staatsgewalt wußte alle diejenigen bürgerlichen Corporationsrechte illusorisch zu machen, welche eine selbständigere Lebensregung des Standes voraussetzten. Dagegen ließ man wohlweislich all den äußerlichen Schnack des Corporationswesen bestehen, der nur dienen konnte dasselbe lächerlich und lästig zu machen. Der Zopf an den Zünften z. B. hat noch lange ungestört sein Recht behauptet, während der tüchtige selbständige Geist der Innungen längst von staatswegen ausgetrieben worden war. An manchen Orten dauerten die lüderlichen Zunftschmäuse länger als die Zünfte selber. Die centralisirende Staatsgewalt glaubte abstracte Unterthanen schaffen zu können, und schuf doch lediglich höchst concrete Philister. Der sociale Beruf des guten Staatsbürgers sollte darin bestehen, die Gesellschaft zu vergessen. Indem die Behörden bald alle freie sociale Bewegung niederschlugen, bald wieder, wo es zweckdienlich erschien, auf einen kurzen Augenblick zu derselben kitzelten und anspornten, lockten sie recht wie mit künstlichen Reizmitteln den socialen Philister hervor. Er ist in seiner halbschlächtigen Gleichgültigkeit, in seinem heimtückisch charakterlosen Wesen augenfällig aus der Dressur jener Politik hervorgegangen, die gleichzeitig mit den Füßen spornt und mit den Händen die Zügel zurückzieht. Der Adel, so tief er in dieser Periode der Knabenjahre des Philisterthums gesunken war, wurde im schlimmsten Falle doch zusammengehalten durch den äußern Kitt von Standesrechten und Standesvorurtheilen. Der Bauer stand als sociale Gruppe der Staatsgewalt ganz indifferent gegenüber. Er hatte nur erst einen socialen Instinct, kein sociales Selbstbewußtseyn und der Träger dieses Bewußtseyns war und ist seine Sitte. Bei dem Bürger quillt umgekehrt erst aus dem socialen Bewußtseyn, eine eigenthümliche Standessitte hervor. Der aus dem Bürgerthum herausgetriebene Philister konnte sich also noch nicht einmal gleich dem Bauern hinter seine Standessitte verschanzen, denn diese liegt bei ihm weit seitab. Der Bürger war von allen Ständen am schutzlosesten der nivellirenden Staatsgewalt preisgegeben. Erwägen wir dies alles, dann wird es uns nicht mehr Wunder nehmen, daß ein so großer Theil des Bürgerstandes zum socialen Philisterthum entartet ist. Erstaunen müssen wir vielmehr, daß überhaupt noch ein ächtes, gesundes Bürgerthum neben den Philistern übriggeblieben, und die hiedurch bewährte sittliche Kraft im Bürgerstande anerkennen.

Es ist eine der bemerkenswerthesten Lebenszeichen des socialen Philisterthums, daß viele Handwerksleute sich ihres Berufes als Arbeiter schämen, daß sie Fabrikanten, Kaufleute u. dgl. seyn wollen, daß sie die Würde ihres Berufes nicht mehr messen nach dem Talente und der Arbeitskraft, sondern nach der Größe des im Geschäft steckenden Capitales. Darin bekundet sich der Abfall des Bürgerthumes von sich selbst. Ihr schimpft den Schneider, wenn ihr ihn einen Schneider nennt. Der sociale Philister in ihm fühlt sich dadurch gekränkt. Er ist ein Kleidermacher, ein Kleiderfabrikant. Er weiß gar nicht mehr, daß das Wort »Schneider« schon seiner Abstammung nach etwas weit höheres bezeichnet als einen Kleidermacher. Der »Schneider« ist der Mann von Genie, der Meister, der den Plan zum Rock entwirft und mit der Scheere zurecht »schneidet,« die Gesellen und Lehrjungen dagegen, die das Vorgeschnittene zusammen nähen, sie sind die eigentlichen »Kleidermacher.« Aber in aufsteigender Linie schimpft ihr den großstädtischen Schneider selbst dann noch, wenn ihr ihn einen »Kleidermacher« nennt: – er ist Kaufmann, er hält ein »Magazin von Kleidern.« So ganz und gar ist hier der alte Stolz auf die Kunstfertigkeit als den höchsten Ruhm des Bürgerthums verloren gegangen, und der Philister schätzt nur noch das Capital im Geschäft, nicht den Beruf als solchen! Als ob nicht ein ganz anderer Mann dazu gehörte, einen Rock eigenhändig zu machen, als gefertigte Röcke zum Verkaufe auszubieten, was doch der letzte Trödeljude gemeiniglich am allerbesten versteht! Spottnamen für die einzelnen Gewerbe gab es wohl, so lange es Gewerbe gibt, und Meister Geisbock und Pechdraht sind viel älter als der sociale Philister. Aber daß der ächte ehrenhafte Name eines Gewerbes als solcher, wie jetzt z. B. Schneider und Schuster, schier als ein Spottname gilt, dies ist eines der bedenklichsten Symptome bei der Seuche des socialen Philisterthums.

Doch noch mehr. Der Philister bleibt nicht blos dabei stehen, den Namen des Berufes zu fälschen, auch in jeglichen Geschäftsbetrieb selber dringt er fälschend und verderbend ein. Ich will ein Exempel für hunderte hervorheben: den Bürger Kaufmann und den Philister Krämer. Es ist noch gar nicht lange her, daß der höher Gebildete, wenn er von »kaufmännischem Geiste« sprach, an einen Geist der Barbarei dachte, der Talent und Bildung nach Thalern und Groschen abschätzt, und dessen ganze Genialität darin besteht, Waare in Centnern einzukaufen, um sie nach Pfunden wieder auszuwägen. Welch ein Contrast gegen die bürgerlichen Ehren des Kaufmannsberufes in frühern Jahrhunderten! Es ist aber der Philister gewesen, welcher mittlerweile in den deutschen Kaufmann gefahren war, und ihn in der That großentheils zu einem solchen Krämer gemacht, der nichts weiteres nöthig hatte als etwas gesunden Menschenverstand, die vier Species und ein Betriebscapital. Wer viele Tausende im Handel jährlich umsetzt, den nennt man gewöhnlich einen Kaufmann, und wer es nur mit wenigen Hunderten kann, einen Krämer. Das ist eine geistlose Unterscheidung. Es gibt Krämer die einen umfassenden Großhandel treiben, und Kaufleute die nur einen kleinen Kram besitzen. Es kommt lediglich darauf an, ob der sociale Philister in den Kaufmann gefahren ist oder nicht. Der Krämer kauft und verkauft für seinen Vortheil, der Kaufmann thut das nicht minder, aber er sucht seinen Vortheil nur da, wo dieser zugleich ein Vortheil der Corporation, des Standes, der Nation wird. Er hat ein sociales Interesse sogar am Geschäft. Die nationalökonomisch ganz richtigen Grundsätze der Freihändler, daß der Kaufmann immer da einkaufen müsse wo er den billigsten Markt finde, daß bei Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhöre ect. sind, wenn man sie so ganz nackt hinstellt, in sittlichem Betracht Grundsätze der Krämer, nicht der Kaufleute. Es wird dem ächten Kaufmanne gegen das Gewissen laufen aus Privateigennutz den Gewerbfleiß des Auslandes zum Nachtheil der heimischen industriellen Arbeit zu fördern, wie es einem rechtschaffenen Staatsmanns gegen das Gewissen läuft das Interesse des eigenen Landes an ein fremdes Cabinet zu verrathen. Darum fühlt sich aber auch der ächte Kaufmann als Glied einer nationalökonomischen, einer politischen Macht. Gibt es doch Krämer, ich meine Krämer, welche viele Tausende jährlich umsetzen – die ihre Standesehre, ihren kaufmännischen Adel dadurch gekitzelt fühlen, daß sie nur ausländische Artikel feil bieten. Ich kenne ein Haus, welches in einer großen deutschen Handelsstadt zu den ersten zählt. Dasselbe würde sich schwer beleidigt fühlen, wenn man es mit andern Häusern, die gleich ihm Geschäfte in Luxusartikeln und gewiß von gleichem Belang machen, auf eine Rangstufe stellte. Warum? Jenes Haus führt blos englische Waaren, die andern aber haben sich herabgelassen, auch einige deutsche Industrieartikel dazu zu nehmen, und der deutsche Philister bleibt mit dem Staunen der Ehrfurcht vor einem Geschäfte stehen, in welchem alles original englisch ist.

Unsere Proletarier sind bekanntlich nicht gut zu sprechen auf die Kaufleute; reden sie von einseitig unverhältnißmäßiger Anhäufung des Besitzes, dann meinen sie zuerst den Handelsstand. Der Reichthum des großen Kaufmannes, namentlich des Bankiers, däucht ihnen aber nur darum der ungerechteste, weil sie sich den Kaufmann als den socialen Philister als solchen denken, als den Krämer der Großhandel treibt, bei dem also der Aufwand von geistiger Kraft und Thätigkeit in gar keinem Verhältniß zu dem reichen Erwerb steht, noch der Nutzen, der dem Gemeinwohl, der Gesellschaft, dem Staate, der Nation aus dieser nur für den Eigennutz gesegneten Thätigkeit zufließt. Ich habe wahrlich niemals den garstigen Neid der Proletarier gegen die »Geldsäcke« gebilligt, aber man möge doch auch nicht vergessen, daß der Scharfblick der hungernden Armuth hier den Egoismus des socialen Philisters erschaut hat, und daß jener verwerfliche Haß mindestens von den Krämern, welche sich den Großhandel anmaßen, laut herbeigerufen ist.

Vergleicht man die socialen und nationalen Verdienste der meisten unserer sogenannten »ersten Häuser« mit dem Wirken jener alten Handelsfürsten in den italienischen, deutschen und niederländischen Handelsstädten, dann merkt man erst wie tief sich in der Zopfzeit der sociale Philister in unsern Kaufmannsstand eingewühlt hat. Die Gunst jener alten Kaufleute, wo sie sich der Kunst und Wissenschaft zuwandte, ward zu einem Ehrenzeichen für dieselbe; wenn dagegen der moderne reiche Krämer Talent und Bildung »protegirt,« beleidigt er durch seine Gönnerschaft.

In alten Zeiten war in den meisten deutschen Städten eine strenge Scheidelinie festgehalten zwischen den Kaufleuten und den Krämern. Ein Krämer konnte jeder seyn; die Kaufmannschaft forderte »gelernte Leute.« Diese Scheidung war aber schon im vorigen Jahrhundert kaum mehr durchzuführen. Die Begriffe des Kaufmannes und des Krämers waren ja ganz andere geworden. Aus rein geschäftlichen Abstufungen begannen sie in sociale überzugehen. Der erläuternde Name des »Philisters,« welcher Gold werth ist, war noch gar nicht entdeckt. Vor siebenzig Jahren hat Justus Moser darauf gedrungen, daß man den Unterschied des Kaufmannes von dem Krämer nach Art der alten Gewerbeordnungen wieder in's Leben führen solle. Er fühlte wohl heraus, wie sehr durch die Verkennung und Mißachtung dieses Gegensatzes der Credit des ganzen Kaufmannstandes gefährdet sey, aber er faßte den Gegensatz als einen vorwiegend gewerblichen, nicht als einen socialen. Die Kaiserin Maria Theresia wurde dadurch veranlaßt, den Versuch einer streng gewerblichen Scheidung des Kaufmannes und Krämers in ihren Erblanden zu wagen. Ich weiß nicht mit welchem Erfolg. Konnte man freilich den socialen Philister in den Zaun einer besonderen Zunft einfangen, dann brauchte sich niemand mehr vor ihm zu fürchten! Denn das Furchtbare an ihm besteht, wie bei dem Proletariate, gerade darin, daß er ein wahrer Ueberall und Nirgends ist, den man nur im Begriff, nicht in der leibhaften Wirklichkeit beim Kragen fassen kann.

Das deutsche Philisterthum hat sich sogar einen eigenen Literaturzweig geschaffen, einer großen literar-historischen Gruppe seinen Stempel aufgeprägt. Diese Literatur des Philisterthums blühte in der Zeit von der ersten französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen, also gerade damals wo alles öffentliche Leben in Deutschland so elend darniederlag. Ein Nachfrühling stellte sich in der Restaurationsepoche der zwanziger Jahre ein. Die Kotzebue-Iffland-Lafontaine'sche Schriftstellerei zeigt uns überall den modernen Menschen losgelöst von seinen socialen und politischen Banden, sie gibt uns langweilige allgemeine Menschen, die nur in ihren erbärmlichen Privatinteressen leben, unbekümmert um die gewaltigen Mächte des Staates und der Gesellschaft. Es ist der deutsche Philister, der aus diesen Werken spricht, und das Philisterthum hat sein Bild jubelnd in ihnen wieder erkannt. Die Rührtragödien, welche der Deutsche den Franzosen abgelernt, aber zu eigenthümlichster Philisterhaftigkeit weiter gebildet hatte, nannte man mit vorahnendem Scharfblick »bürgerliche« Tragödien. Weil die darin auftretenden Personen nichts sind, als nackte private Menschen, galten sie für »bürgerliche« Personen. Was in der Stube spielte statt auf dem Markt, den Schlafrock trug statt der Toga, hieß »bürgerlich.« Ich meine, darin lag wenigstens die Ahnung, daß der sociale Urphilister dem Bürgerthum angehöre. Es war der zuerst im Aesthetischen zum Bewußtseyn gekommene sociale Instinct, welcher den heißen Streit zwischen der ächt bürgerthümlichen Schiller-Goethe'schen und jener philistrigen Richtung entzündete. Als Goethe am Abend seines Lebens zugab, daß man ihm gleich Blücher ein Denkmal setzen möge, machte er den gerade für unsere Anschauung so beziehungsreichen Vers darauf:

»Ihr mögt mir immer ungescheut
Gleich Blüchern Denkmal setzen:
Von Franzosen hat er euch befreit,
Ich von Philisternetzen

Man muß aber nicht glauben, daß die Literatur des Philisterthums mit ihren oben genannten Chorführern abgestorben sey. Sie wuchert, auch heute noch, nur nicht mehr als eine so festgeschlossene Gruppe. Und den Boden, welchen der Philister auf der Bühne, in Romanen und Almanachen verlor, hat er in der Journalistik reichlich wieder gewonnen. Es ist ein bemerkenswerthes Zusammentreffen, daß just in der Zeit, wo Kotzebue die deutsche Bühne beherrschte, auch der Begriff des »Publikums,« nicht mehr als eines genießenden und lernenden, sondern als eines urtheilenden und belehrenden in Umlauf kam. Ich erwähnte schon oben wie eng der Begriff eines kritischen »Publikums« mit dem philisterhaften Geiste der Massen zusammenhängt. Der Philister weiß alles, entscheidet über alles, denn da ihm die sociale Selbstbeschränkung gebricht, so geht ihm auch gemeiniglich die Kraft ab, sich in den engen Grenzen eigenster Berufstüchtigkeit zu bescheiden. Der Dilettant und der Philister sind Geschwisterkinder. Darum kannte das Mittelalter in seinen körperschaftlichen Schranken weder den kritischen Dilettantismus des Einzelnen noch des Publikums. Der politische Dilettantismus, den man neuerdings öfters als Volksbildung und als die oberste Voraussetzung der Volkssouveranetät bezeichnet hat, ist gar nichts weiter als ein Ausfluß des socialen Philisterthums. Namentlich bricht dieser philisterhafte Geist des Dilettantismus, dieser Fluch eines allweisen »Publikums« immer da recht grell hervor, wo ganze Massen urtheilend und entscheidend auftreten. Man hat es in den letzten Jahren oft genug erfahren müssen, daß hundert gescheidte Leute, wo sie sich im öffentlichen Leben als kritisches Publikum zusammenthaten, recht als ein einziger Esel urtheilten und handelten, während jeder von ihnen einzeln vielleicht ein ganz vortreffliches Votum abgegeben hätte. Will man diesen Fluch des »Publikums« von den Massen nehmen, dann schaffe man wieder berufstüchtige und social gerechtfertigte Gruppen und Genossenschaften, zunächst wider den Dilettantismus der Massen und in oberster Instanz wider den socialen Philister.


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