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II. Der vierte Stand

Erstes Kapitel

Wesen und Entwicklung

Eine Art von physikalisch-chemischem Proceß in der neuesten Culturgeschichte liegt unserer Untersuchung vor. Die organischen Gebilde der alten Gesellschaftsgruppen beginnen hier und da zu verwesen, von den uralten Gesteinschichten der Stände, die so lange als die ehernen Säulen der Civilisation festgestanden, wittert aller Orten die Rinde ab, und die künstlich gebundenen Stoffe, welche das sociale Leben in Blut und Mark und Nerven warm und lebendig erhielten, zersetzen sich, lösen sich in ihre Grundbestandtheile auf, aber in diesem Processe der Zersetzung selber einigen sie sich wieder zu neuen Stoffen, und aus den verwitterten Gesteinen und den verwesten Organismen sprießt ein neues, fremdartiges Leben auf.

Dies ist der Bildungsproceß des vierten Standes. In den aufgelösten Bestandtheilen, die, seit mehr als dreihundert Jahren mürbe gemacht, nun endlich von der Aristokratie, dem Bürger und Bauernthum abgefallen sind, treibt er seine Keime. Die Fahnenflüchtigen, die Marodeure der alten Gesellschaft sammelt er unter sein Banner zu einer neuen furchtbaren Armee. Freilich ist diese zur Zeit noch ein wild einherbrausender Schwarm, der des bändigenden Führers harrt, ein Schwarm, der sich selber noch nicht recht kennt, noch nicht recht hat, dem jetzt erst allmählich die Ahnung seiner zermalmenden Gesammtmacht aufzugehen beginnt. Und mit dieser Ahnung fängt auch erst die Geschichte des vierten Standes an, Bewußtlos bestand er, seit die Menschheit besteht, aber daß er zum Selbstbewußtseyn zu kommen, daß er seine zerstreuten Glieder zu sammeln beginnt, dies ist erst ein Akt der neuesten Geschichte.

Gewöhnlich verbindet man einen ganz anderen Begriff mit dem »vierten Stande« als den hier entwickelten. Man begreift unter demselben die Lohnarbeiter, die Männer, welche bloß eine Arbeitskraft zu entfalten haben, nicht aber ein Capital, die Tagelöhner der Fabriken, des Handwerks, des Ackerbaues, zu denen sich allenfalls auch noch die Tagelöhner der Geistesarbeit gesellen könnten. Dieser Eintheilungsgrund ist ein vollkommen stichhaltiger, wenn man die Gesellschaft überhaupt nach rein volkswirthschaftlichen Gesichtspunkten gliedert. Man wird dann auch nicht von Bürgern, Bauern, Aristokraten etc. zu reden haben, sondern von den Kreisen der Urproduktion, des Handwerkes, der Industrie, der Geistesarbeit u. s. w. Eine solche volkswirthschaftliche Gliederung der Gesellschaft ist für sich ganz berechtigt; sie hat aber gar nicht die Aufgabe, sociale Stände zu zeichnen, sondern die Berufskreise. Stand und Beruf ist etwas wesentlich verschiedenes.

Unter den natürlichen Ständen denke ich mir die wenigen großen Gruppen der Gesellschaft, welche nicht nur durch den Berufs sondern durch die aus der Arbeit erwachsene Sitte und Lebensart, durch ihre ganze naturgeschichtliche Erscheinung, durch das Princip, welches sie in der geschichtlichen Fortbildung der Gesellschaft vertreten, unterschieden sind. Wollte ich den vierten Stand bloß nach dem wirthschaftlichen Gesichtspunkte als den Stand der Lohnarbeiter bestimmen, so hätte ich z. B. auch gar kein Recht gehabt, den bürgerlichen Rittergutsbesitzer von dem adeligen zu unterscheiden. Dem Nationalökonomen sind beide ganz gleichgeartete Gestalten. Mir ist dagegen der bürgerliche Rittergutsbesitzer weder ein Aristokrat noch ein Bauer, sondern seiner ganzen socialen Charakterfigur nach ein Bürger.

Ganz unzweifelhaft bildet sich aber neben den drei Ständen, die durch bestimmte Ständesitten und einen festen historischen Beruf zusammengehalten sind, ein vierter heraus, dessen Trachten gerade dahin geht, jene Standessitte zu zerstören, jene gesonderten historischen Berufe in einen allgemeinen der ganzen Gesellschaft aufzulösen, überhaupt die einzelnen Charaktergestalten der Stände auszugleichen. Wo dieses Streben bloß als theoretische Ueberzeugung waltet, da erscheint es freilich nicht als der Grundgedanke eines Standes, sondern einer Partei. Es ist die Partei der Social-Demokraten. Allein durch den theilweisen Verfall der alten Gesellschaftsgruppen ist jene Tendenz nicht mehr bloß eine theoretische geblieben, sie hat sich bereits einen socialen Körper angebildet, der zwar noch nicht als ein fertiger, wohl aber als ein werdender Organismus, besteht. Dies ist der sociale vierte Stand. Er ist der Stand der Standeslosen, der aufhören würde, ein Stand zu seyn, sobald er seine Gegensätze, die übrigen Stände, zertrümmert hätte und dann selber die völlig uniforme Gesellschaft als solche geworden wäre. Die Lohnarbeiter, welche der Volkswirth den vierten Stand nennt, fallen für den Social-Politiker zum großen Theil gar nicht hierher. Sie gehören in ihrem Kern theils zum Bauernstande, theils zum Bürgerthume.

Man hat mir nun eingewandt, wenn dieser sociale vierte Stand eigentlich nur die Summe der Entartung aller übrigen Stände bezeichne, dann sey es doch weit logischer, diese entarteten Bauern, Bürger und Aristokraten in den Abschnitten von den Bauern, Bürgern etc. abzuhandeln. Und indem ich selber bereits der entarteten Elemente jener Stände im Einzelnen besonders gedacht, sey das Kapitel vom vierten Stande eigentlich nur eine summarische Wiederholung und erweiterte Ausführung der Abschnitte vom entarteten Bauern, Bürger und Aristokraten. Ich glaube dem ist nicht also. Das entartete Glied jener Stände gehört an sich durchaus noch nicht zum vierten Stande. Der sociale Philister z. B. ist himmelweit entfernt von der Tendenz des vierten Standes, alle gesellschaftlichen Unterschiede auszugleichen. Er kann ökonomisch der reichste Bürger seyn, politisch der conservativste, er kann eben diesen vierten Stand verabscheuen wie die Pest und ist doch ein entarteter Bürger. Der verjunkerte Baron, der in veräußerlichtem Standesdünkel abfällt von dem wahren Geiste der Aristokratie, ist nichts weniger als ein Glied oder ein Candidat des vierten Standes, und dennoch ist er ein entarteter Aristokrat. Der Edelmann aber, welcher die feste Grundlage des Lebens und Wirkens in seinem Stande verloren hat und dadurch zur Verneinung seines Standes wie der Stände überhaupt kommt, der nicht bloß aus theoretischer Ueberzeugung, sondern auch gezwungen durch die innere Rothwendigkeit seiner ganzen verschobenen socialen Existenz, mit Sitte und Beruf seines eigenthümlichen Lebenskreises bricht: dieser ist der wahre Candidat des vierten Standes. Es handelt sich daher hier nicht um bereits erörterte, sondern um ganz neue gesellschaftliche Elemente.

Vorwerfen könnte man mir nur mit Recht, daß ich den Namen des »vierten Standes« in einer ungebräuchlichen Weise angewendet habe. Ueber den Grund, warum es mir besonders passend dünkte, diese unfertige Gesellschaftsgruppe nur zu numeriren, nicht eigentlich zu benennen, werde ich mich weiter unten aussprechen. Mag man ihn den Stand der Standeslosen, die Negation der Stände nennen, so habe ich nichts dagegen. Die Bezeichnung der Lohnarbeiter als vierter Stand ist eben auch noch keineswegs allgemein gebräuchlich geworden, und ich verwahre mich nur wiederholt dagegen, als ob ich diese höchst ehrenwerthe Classe der um ihr tägliches Brod ringenden Arbeiter als solche zu dem socialen vierten Stande, dem Stande des Abfalles und der Standeslosigkeit hätte zählen wollen.

Am Ausgang des Mittelalters nannte man die Bauern den vierten Stand. Durch den Wegfall des Klerus, der dazumal an der Spitze der ganzen deutschen Gesellschaft stand, sind die Bauern inzwischen avancirt. Großentheils unfrei und nur halbgültig in Recht und Sitte waren auch sie, freilich in anderem Sinne, ein Stand der Standeslosen, so lange sie den Namen des vierten Standes führten.

Also nicht Proletarier als solche bilden den vierten Stand, nicht bloß Besitzlose, die von der Hand zum Mund leben, Heloten des Capitals, beseelte Werkzeuge, welche als Rad, Walze, Kurbel von Fleisch und Blut neben den eisernen Rädern, Walzen und Kurbeln unlösbar und unerlösbar in den Mechanismus unserer märchenhaften Maschinenwelt eingekeilt sind: sie alle machen nur Ein Glied und gerade das bewußtlosere des vierten Standes aus. Der vierte Stand umfaßt nicht bloß »Arbeiter,« solchem auch Faullenzer, nicht bloß Arme, sondern auch Reiche, nicht bloß Niedere, auch Hohe; er ist uns der Inbegriff aller derjenigen, die sich losgelöst haben oder ausgestoßen sind aus dem bisherigen Gruppen- und Schichtensysteme der Gesellschaft, die es für einen Frevel an der Menschheit halten, zu reden von Herren, Bürgern und Bauern, die sich selber für das »eigentliche Volk« erklären, und die da wollen, daß alle Naturgruppen der Stande sich auflösen in den großen Urbrei des eigentlichen Volkes. Wenn die sociale Demokratie vom eigentlichen Volke redet, so ist sie nicht so einfältig, wie man ihr das wohl angedichtet hat, darunter bloß die Gesammtsumme aller armen Teufel zu verstehen, sie meint vielmehr alle diejenigen, welche sich frei gemacht haben von dem historischen Begriff der Gesellschaft, welche nicht erst Bürger, erst Bauern, erst Herren und dann als solche Volk seyn wollen, sondern von vornherein Volk, »Volk sans phrase,« pures Volk, das Volk an und für sich – den Inbegriff des vierten Standes. Darum ist mit dem Begriffe des vierten Standes der Gedanke der Polemik gegen alle übrigen Stände untrennbar verknüpft. Darum wird er es auch für eine Verleumdung erklären, wenn man ihn überhaupt einen Stand nennt, allein ich komme in der Bornirtheit meiner corporativen Auffassung der Gesellschaft leider nicht darüber hinaus. Der vierte Stand will also kein Stand seyn, er will ja vielmehr alle Stände verneinen und die allgemeine und untheilbare Gesellschaft einheitlich darstellen; aber die eherne Faust der Nothwendigkeit, die Gesetze der Logik haben ihn bereits in die Schranken eines Standes zurückgetrieben. Denn dadurch, daß er gegen die übrigen Stände Opposition macht, hat er diese bereits gezwungen, sich wieder fester in ihre Eigenart zusammenzuziehen, und statt sich zur Allgemeinheit zu erweitern, muß er sich um so mehr zu einem Besondern beschränken, je treuer er seinem Grundsatze des Kampfes wider jedwede Standesgliederung bleibt. So ist überall dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Jeder Stand hat das geheime Gelüsten, alle Übrigen zu beherrschen, jeder Stand hat seine Epoche, in welcher er despotisch auftritt; aber weder den Aristokraten, noch den Bürger, noch die Bauern gelüstete es jemals, die ganze Gesellschaft in den Kreis ihres Standes zu ziehen, weil sie ja dadurch diesen selber, der nur durch den Gegensatz und die Beschränkung existirt, vernichten würden. Der vierte Stand stellt dagegen in der Theorie den Anspruch, die ganze Gesellschaft gleichsam mit Haut und Haaren aufzuspeisen. Das ist aber eine sehr unfruchtbare Theorie, die bloß verneinend und aufzehrend verfährt. Es ist ein ganz neuer Zug, daß ein Stand sich wesentlich durch den allen Gliedern gemeinsamen Drang charakterisirt, daß sie das nicht seyn wollen, was sie find. Während in jedem andern Stande der Trieb, bei sich selber zu bleiben, das Ganze zusammenhält, wird hier die Gemeinschaft bestimmt durch den Trieb, über sich hinauszugehen. Die übrigen Stände stellen daß gesellschaftlich organisirte Behagen dar, der vierte Stand das gesellschaftlich organisirte Mißbehagen. Die ersteren wollen die historische Gesellschaft erhalten, der vierte Stand will sie zerstören. Seine Philosophie ist die jenes Mannes, der sein Haus in Brand steckte um das darin nistende Ungeziefer gründlich zu vertilgen, die Philosophie des Communismus. Nicht als ob alle Glieder des vierten Standes Communisten wären, allein die Gedanken, eines vollkommenen Abbruchs und Neubaues der Gesellschaft, von den unschuldigsten philanthropischen Phantasien aufsteigend bis zum äußersten Wahnsinne der Gleichmacherei, zündeten zumeist bei dem vierten Stande; er fand in denselben sein corporatives Bewußtseyn ausgesprochen, die Formel, in welcher seine tausendfältigen Glaubensbekenntnisse einig sind. Die Wortführer des theoretischen Socialismus und Communismus schufen den vierten Stand nicht, aber sie weckten ihn aus dem Schlafe.

Was ein Bauer ist, was ein Bürger, was ein Edelmann, ist leicht zu sagen, was der vierte Stand ist, unendliche schwer. Ich sage unendlich, denn die Fassung seines Begriffes ist vergleichbar dem Ausdruck einer Zahlengröße in genäherten Brüchen, wobei man dem wahren Werth bis auf eine unendlich kleine Differenz immer näher kommt, ohne ihn jemals ganz aussprechen zu können. Dies schreibt sich daher, daß der vierte Stand noch keine abgeschlossene, sondern eine erst im Werden begriffene Größe ist. In der Staatskunst läßt sich vollends noch gar keine Norm, keine Handhabe für den vierten Stand finden. Und doch ist er da, pocht an die Thüre und fordert, daß man Notiz von ihm nehme. Der Statistiker kann dir sagen, wie viele Menschen im Staate zum Bauernstande, wie viele Bürgerstande zählen; für die Männer des vierten Standes wird er keine runde Summe finden, die rund genug wäre. Denn derselbe ist zur Zeit noch überall und nirgends, er steckt unter Bürgern, Bauern und Herren, vielleicht gar unter Fürsten und Prinzen als unsichtbare Loge. Er hat kein Zunftzeichen, keine eigene Rubrik in den Classensteuerverzeichnissen, denn sein Gemeinsames ist nicht ein Beruf, nicht das Eigenthümliche des Besitzes, sondern ein sociales Princip, welches die Bürgermeisterei und das Steueramt zur Zeit noch nicht einzuregistriren versteht. Und doch muß das Gemeinsame wieder mehr als ein bloßes Princip seyn, denn sonst würde es sich ja nur um die Partei handeln, nicht um einen Stand. Frage den kesselflickenden Zigeuner, der heimathlos im Lande umherzieht und am Mittag noch nicht weiß, ob er am Abend eine Stätte findet, wohin er sein Haupt lege, allen äußeren Wahrzeichen nach ein Glied des vierten Standes, nach seinen socialen Grundsätzen. Er wird dich auslachen über die Frage, die ihm sinnlos erscheinen muß. Die »Gesellschaft« ist ihm höchst gleichgültig, denn der einfache Begriff derselben geht schon über seinen Horizont. Auch die Stände der Gesellschaft scheren ihn blutwenig; er fühlt sich vielleicht in seinem Vagabundenleben ganz behaglich. Und dennoch schlummert der Neid gegen die Glücklicheren in ihm, der Drang in ihre Rolle mit einzutreten: es fehlt nur einer, der ihn wach rufe. Erlebt er das nicht, dann erleben's seine Kinder, seine Enkel. Nennt ihn wenigstens einen Candidaten des vierten Standes, wenn ihr ihn kein Glied nennen wollt. Die Theologen würden sagen, er gehört potentia zu demselben, wenn auch nicht actu.

Das sind eben die unbestimmbaren, widerspruchsvollen Elemente eines noch trüb aufgährenden Neubildungsprocesses. Wäre der vierte Stand in sich selber klar und abgerundet, er würde vielleicht schon als eine sociale Völkerwanderung die alte Gesellschaft überfluthet und von Grund aus umgewurzelt haben. Allein er sucht sich selber noch, wie er auch vom wissenschaftlichen und staatsmännischen Standpunkte aus noch gesucht wird. Er ist, für beide Theile das unbekannte X in dem großen socialen Regeldetri-Exempel, und keiner hat noch den richtigen Ansatz finden können, um dieses X vollkommen herauszurechnen.

Man eifert vielfach gegen die Bezeichnung » vierter Stand« In der That ist das ein sehr ungefügiger und anscheinend nichtssagender Titel. Es ist nur ein Nothbehelf, und wird über kurz oder lang einem anschaulicheren Worte weichen. Aber zugleich ein höchst charakteristischer und darum ganz vortrefflicher Nothbehelf! Man weiß diesen Stand noch nicht weiter zu bezeichnen, als indem man ihm eine Nummer gibt. Er hat noch gar keinen Namen, als ein ungetauftes Kind liegt er noch in der Wiege. Unpersönliche Dinge unterscheidet man nach Nummern. Und der vierte Stand ist auch noch keine fertige sociale Persönlichkeit. Mit dem dürftigen Worte »vierter Stand« ist gerade dies gesagt, daß er das noch zu findende X in der Gesellschaft sey. Darum behalten wir diesen Namen bei, der scheinbar nichtssagend, in der That aber höchst charakteristisch ist und ein Triumph richtigen Sprachgefühls.

Anfänglich hatten die Social-Demokraten ihre besondere Liebhaberei an der Bezeichnung des »vierten Standes« und brachten dieses Fachwort recht eifrig in Schwung. Die »Emancipirung des dritten Standes« durch die erste französische Revolution war sprüchwörtlich geworden, und es fügte sich zu einem bequemen Parallelismus der banalen Phrase, daß man nun von einer Emancipirung des vierten Standes als der Hauptaufgabe der gegenwärtigen Revolutionszeit redete. Jene äußerste Partei, welche in Paris im ersten Taumel der Februarrevolution den Grundsatz, daß alle Arbeit heilig sey, so weit ausdehnte, daß sie auch die Arbeit der Freudenmädchen heilig sprechen wollte, halte dann noch nicht einmal genug an einem vierten Stand, und sprach in zarter Rücksicht auf die Insassen der Bordelle, Diebshöhlen und Zuchthäuser bereits von einem fünften, dem die nächste Revolution gehören solle!

Als aber auch die Gegner der Demokratie den »vierten Stand« als Schlagwort häufiger gebrauchten, merkten erst die Demokraten, welch ein reaktionäres, die verhaßte »ständische Gliederung« voraussetzendes Wort sie selber bevorzugt hatten, und wollen nun ihre eigene frühere Ausdrucksweise durchaus nicht mehr gelten lassen. Uns aber wird das Wort darum nur um so viel werther, denn es legt das Zeugnis ab, daß selbst die Demokratie im unbewachten Augenblicke dem Gedanken der Standesgruppen ihre Huldigung darbringen mußte.

Wir unterscheiden zwei große Gruppen des vierten Standes: er besteht aus solchen, die noch nichts sind oder noch nichts haben, und solchen, die nichts mehr sind oder nichts mehr haben; solchen, die erst eintreten wollen in die vollgültige Gesellschaft, und solchen, die von derselben ausgestoßen wurden. Diese beide Gruppen stehen einander gegenüber wie Idealismus und Realismus, wie die socialistische Partei der communistischen, wie der verneinende Trieb einer tollen phantastischen Jugend dem verneinenden Trieb eines teuflisch verbitterten Alters. Auf der einen Seite steht ein Theil der Arbeiter, der Handwerksgesellen, der Dienenden, der literarischen Jugend, des Beamtenproletariats; auf der andern bankerotte Kleinbürger, verdorbene Bauern, heruntergekommene Barone, Industrieritter, Strolche, Tagediebe und Vagabunden aller Farbe. Diese Elemente können nicht einträchtig Hand in Hand gehen; nur die Stunde des Kampfes gegen den gemeinsamen Feind, gegen die historische Gesellschaft, macht sie jezuweilen zu Verbündeten.

So ist denn der vierte Stand auch in sich selber zerfahren, wie er hervorgegangen ist aus der Zerfahrenheit der Gesellschaft. Alle bindenden Elemente der andern Stände fehlen ihm. Das Gemeinsame des geschichtlichen Bestandes, der überlieferten Sitte fesselt seine Glieder nicht, denn gerade in dem Verfall der überlieferten Sitte keimte der vierte Stand erst auf, und die volle Zerstörung derselben ist sein eifriges Ziel. Der vierte Stand ist Weltbürger, wo die andern Stände national, ja particularistisch sind. Der Bürger und Bauer trägt in jedem Lande sein besonderes Gepräge; der Mann des vierten Standes ist sich überall gleich. Cultur und Elend nivelliren bekanntlich am gründlichsten, und beide Kräfte sind es ja, die im Verein den vierten Stand zumeist ans Licht gezogen und zum Bewußtseyn gebracht haben. Das gebildete Glied des vierten Standes schwärmt in Deutschland für die Polen, die Ungarn, die Italiener, die Franzosen, nur für die Deutschen nicht. Die Nationalität ist ihm eine widernatürliche Schranke, vom selbstsüchtigen Kastengeist gehegt; wie es das Standesbewußtseyn vertilgen will, so auch das Nationalitätsbewußtseyn. Und betrachten wir alle diese über ganz Europa zerstreuten Glieder des vierten Standes, die sich einig wissen im Kampfe wider die Standes- und Nationalitätsschranken, dann erhalten wir eine gewaltige unbekannte Nation neben den bekannten, ein X auch im Völkersysteme, ein Volk, welches sich nicht auf der Landkarte unterbringen läßt und doch existirt, dessen Nationalität darin besteht, keine zu haben und dessen Patriotismus die Zerstörung des eigenen Volksthumes ist. Jene Geschichtslosigkeit und Vaterlandslosigkeit, welche man sonst bloß als das Ergebniß einer verschrobenen Schulstubenweisheit betrachtete, hat sich im vierten Stand in einer großen Volksschicht leibhaftig verkörpert. Es gibt daher keine größeren Gegensätze als den vierten Stand und die Bauern: jener ist der unhistorische Stand als solcher, wie dieser der historische. Daher rekrutirt sich auch der vierte Stand in der Regel weit weniger aus den Reihen des Landvolkes als der Bürgerschaft und Aristokratie.

Tiberius Gracchus, einer der großen Propheten des vierten Standes, sprach, als er seine Vorschläge einer neuen Ackervertheilung vor das versammelte römische Volk brachte, von den Proletariern jener Tage: »Die wilden Thiere Italiens haben ihre Höhlen und ein Lager, auf welchem sie ruhen; die Männer aber, die für Italiens Herrschaft auf Tod und Leben kämpfen, besitzen nichts als den Genuß der Luft und des Tageslichts, weil man diese ihnen nicht rauben kann. Ohne Hütte und Obdach irren sie mit Weib und Kind im Lande umher. Es ist ein Hohn, wenn die Feldherren in der Schlacht sie auffordern, für ihre Hausgötter und die Gräber ihrer Väter zu kämpfen, denn unter allen ist kaum ein einziger, der eine Grabstätte der Seinen und einen eigenen Hausaltar besitzt.– Sie haben die Welt besiegt und werden Herren derselben genannt, ihnen selbst aber gehört auch nicht eine einzige Scholle Land.« Der römische Demagog wollte dem Proletarier Hausgötter, eine Scholle Landes und eine Grabstätte wieder erwerben. Die moderne Demagogie dagegen trachtet den Mann des vierten Standes noch vollends zu befreien von der Fessel der Hausgötter und des heimischen Bodens. Familie und Vaterland sind auch so ein Stück alten Zunftzwanges, dessen man quitt werden muß; Patriotismus ist Rückschritt, Nationalstolz gehört zum Aristokratenthum. So furchtbare Fortschritte hat die Idee des vierten Standes, der alle andern verschlingen soll, seit Gracchus Zeiten gemacht! Wir sahen im Jahre 1848 jene Schaaren der Sturmvögel, welche überall da heranzogen, wo ein Kampf gegen die bestehende Ordnung des Staates und der Gesellschaft begann, wir sahen jene bunte Reihe von Streitern aus aller Herren Ländern, die auf allen Revolutionsschlachtfeldern Europa's und im Solde aller Nationen kämpften, die nirgends zu Haus waren, außer in dem Getümmel des Umsturzes; sie stellten uns die leibhaftig gewordene Vaterlandslosigkeit des vierten Standes dar. Diese Thatsache ist eine ganz neue. Wenn der Landsknecht des Mittelalters dem Banner folgte, darunter am meisten Geld und Ehre zu gewinnen war, so gab er damit sein Vaterland nicht auf, er stritt ja nur, um zu streiten, er trieb sein Handwerk daheim oder in der Fremde und wanderte mit dem Schwert zu fremden Meistern in die Lehre, wie unsere Handwerksburschen mit friedlichem Werkzeug. Aber der gewappnete Proletarier des neunzehnten Jahrhunderts stellte sich mit bewußtem Grimm gegen die Fesseln des Vaterlandes unter Italiens und Ungarns Fahnen, er sah keinen Frevel darin, die rothen Hosen über den Rhein zu rufen, wenn sie auch nur die rothen Mützen hätten mitbringen können; die Heiligkeit seiner fixen Idee, die Gesellschaft, die ganze Menschheit ausebnen und gleich machen zu wollen, ließ ihm alles andere, was sonst uns heilig dünkt, profan werden. Die Kette der organischen Gliederung läßt sich nirgends durchbrechen, ohne daß sie ganz auseinander springt; wer diese Gliederung bei der Familie, den Ständen, dem Staate aufgibt, der gibt sie auch bei den Nationen auf, und wer seine Standesehre darein setzt, keinem Stande anzugehören, der muß folgerecht auch seinen Nationalstolz darein setzen, kein Vaterland zu haben. Weder das classische Alterthum noch das Mittelalter hat von dieser Verläugnung aller natürlichen Stufenreihen der Menschheit etwas gewußt, sie gehört lediglich der neuesten Zeit an.

Man muß aber nicht meinen, es sey nun in dem vierten Stande nichts weiter als Abfall und Verneinung, Fäulniß und Zerfall dargestellt. Ein Hauptzug des modernen Geistes hat sich in ihm verkörpert, nur ist er vorerst höchst einseitig und schief zu Tage gekommen, wie das bei dem Durchbruch jeder neuen Idee zu geschehen pflegt. Seit dem Ausgange des Mittelalters dreht sich der eigentliche Kern aller socialen Kämpfe um die Grundfrage, ob die Stände körperschaftlich gegliedert bleiben sollen, oder ob der Fortschritt von der antiken und mittelalterlichen Gesellschaft zur modernen nicht vielmehr darin bestehe, daß die großen historischen Gruppen und Schichten derselben in ein gleichartiges Ganze verschmolzen werden. Der vierte Stand ist das praktisch handgreifliche Resultat dieses Gedankenkampfes, er ist in seinem dunklen und chaotischen Daseyn das Siegeszeichen, welches die Idee der allgemeinen Gleichmacherei bei ihrem dreihundertjährigen Weltgang gewonnen hat. Erst stritt man nur für die freie Befähigung jedes Menschen zu jeglichem Beruf, für das Recht der Theilnahme jedes Standes an Staatsangelegenheiten. Aber im Geiste des vierten Standes fragt es sich nicht mehr, ob ein Stand vor dem andern politisch bevorzugt seyn solle oder nicht, ob einer den andern beherrschen, ausbeuten solle oder nicht, sondern ganz allgemein, ob nicht in der körperschaftlichen Gliederung der Gesellschaft an sich zugleich die Zwingherrschaft der Gesellschaft liege, ob eine solche Gliederung von Natur nothwendig sey oder ein ungeheurer Betrug, den durch Jahrtausende der Mensch an dem Menschen verübt.

Alle Schichten der Gesellschaft, vom König bis zum Bettelmann, und alle politischen Parteien haben seit dreihundert Jahren nach einander – oft unbewußt – wider die körperschaftliche Gliederung und zu Gunsten unterschiedloser Gleichheit gefochten, und doch vermochten sie die Thatsache der historischen Gruppen niemals ganz umzustoßen. Alle wollten die Gesellschaft gleich machen und brachten doch nichts weiter zuwege, als daß sie den vierten Stand schaffen halfen.

Die Fürsten brachen die selbständige Macht des großen Adels, sie verwischten die vielverschlungene sociale Gliederung des Mittelalters, sie hoben die ständischen Vorrechte auf und ließen die Ständevertretung allmälig einschlafen; die ganze Gesellschaft sollte sich in dem neuen Begriff der Unterthanen auflösen. Sie nivellirten also freilich nur in ihre eigene Tasche, und dachten keineswegs daran, sich selber zu nivelliren, allein dies thaten auch alle Nachfolger bis zu den modernsten Communisten. Denn wo einer nicht zu gewinnen hofft, denkt er auch nicht an's Gleichmachen. Richelieu, indem er die Selbständigkeit der französischen Aristokratie vernichtete, warb dem vierten Stande zahllose Rekruten. Wenn deutsche Fürsten in's Maßlose Titel ohne Mittel verliehen, um dadurch den erblichen Würdeträgern die Spitze zu bieten, so gründeten sie, ohne es zu ahnen, förmliche Pflanzschulen des vierten Standes, welcher dereinst gerade dem auf solchem Wege gefestigten Unterthanenbegriff am schärfsten zu Leibe gehen sollte.

Der bureaukratische Staat faßte die Gesellschaft nur unter den Begriff der mechanischen Verwaltung. Alle Stände schmolzen ihm, wie schon bemerkt, in zwei große, unförmliche Gruppen zusammen: die »Dienerschaft« und die »Bürgerschaft,« d. h. Staatsdiener und Nichtstaatsdiener. Der Hochmuth, welcher in dieser Unterscheidung steckt, brachte namentlich in kleinen Städtchen und Städtchen das fröhliche Selbstbewußtseyn des Bürgers auf eine niederträchtige Weise herunter. Schaaren Verblendeter, die an der Hobelbank oder beim Schusterleisten höchst brauchbare und ehrenwerthe Menschen geworden wären, strömten dem gleißenden Elend des Schreibstubenproletariats zu. Der Handwerksmann verlor den Respect vor sich selber, wenn er sah, wie erhaben sich jeder Angestellte über ihn dünkte, der nur einen Tintenklecks auf einen Stempelbogen machen konnte. Als ein erkünstelter Stand schob sich das Beamtenthum zersprengend und auflösend in die natürlichen Stände. Aus dem natürlichen, gesunden Genossengeiste ward ein verschrobener, widernatürlicher. Der rechtschaffene Stolz auf die Herrlichkeit des Berufes und die Würde des Standes ward zum ärgerlichen Hochmuth gegenüber dem bürgerlichen Standesgenossen, der, statt Uniformsknöpfen auf dem Amtsfrack, nur das Schurzfell trug. Der bureaukratische Staat suchte aber auch aus politischem Grundsatz die körperschaftliche Gliederung der Gesellschaft auszuglätten, weil sich das Einförmige leichter administriren und registriren läßt, als das Mannichfaltige, weil die centralisirte Staatsverwaltung nothwendig auch die centralisirte Gesellschaft nach sich ziehen muß, weil ihm der Staat eine todte Maschine ist, während die geschichtliche Gliederung der Gesellschaft ein organisches Leben zu entfalten sucht, und allerdings rasch in Widerspruch treten wird zu dem todten Tabellenregiment der Bureaukratie. Da diese den Wohlstand des Volkes nicht nach dessen innerer Gesundheit und Kraft, sondern nach seiner äußeren Corpulenz bemißt, so bot sie alles auf, die Zahl der Köpfe zu steigern, unbekümmert, ob die anschwellende neue Volksmasse nachgehends das gemeine Gut vermehren oder nur von demselben zehren werde. Absolute Freizügigkeit, schrankenlose Gewerbefreiheit, Patentmeisterschaft waren die Zaubermittel, durch welche die Bureaukratie den öffentlichen Wohlstand erhöhen wollte. Und als nun plötzlich ganze Schaaren von Proletariern den deutschen Staatshämorrhoidarius in gar entsetzliche Verlegenheit setzten, konnte er gar nicht begreifen, wo diese Leute mit einemmale herkämen, da er doch selber die Brütöfen gebaut hatte, um so viel hunderttausend Küchlein des vierten Standes höchst kunstreich auszubrüten.

Ich könnte mich hier überhaupt ganz kurz fassen und brauchte eigentlich nur das Summarium aller der socialen Sünden zusammenzustellen, die ich in den vorhergegangenen Abschnitten als von den einzelnen Ständen und gegen dieselben verübt, aufgezeichnet habe, um die Mitarbeit aller Factoren des öffentlichen Lebens zum Aufziehen des vierten Standes anschaulich zu machen.

Jener bürgerliche Altliberalismus, der die Bureaukratie in Kleinigkeiten befehdete, in der Hauptsache aber, ohne es zu merken, Hand in Hand mit derselben ging, wollte von der geschichtlichen Gliederung der Gesellschaft nichts wissen. Geschichtlos seyn, hieß ihm freidenkend seyn, und die Gesellschaft vergaß er überhaupt über dem Staat. Er erkannte nur Staatsbürger an. Der leere Begriff eines freien Staates war der moralische Kopfabschneider, welcher jede culturgeschichtliche Besonderheit im Völkerleben wegrasiren sollte. Nur die Freiheit war das Recht, die Freiheiten das Unrecht. Der Staat sollte nicht um des Volkes willen daseyn, sondern das Volk um des Staates willen. Diesen Begriff einer schulgerechten Staatsfreiheit, welcher von den leibhaften Mächten des Volkslebens gar nichts weiß, hat aber das Volk niemals verdauen können; als es ihm endlich vergönnt wurde, frei zu seyn, führte es zwar »die Freiheit« in Liedern und Reden im Mund, griff aber mit der Hand wieder nach »den Freiheiten.« Die Altliberalen hobelten die Gesellschaft gleich im Namen der officiellen Bevormundung. Sie waren die Advocaten des vierten Standes, weil sie in jeder ständischen Gliederung Mittelalter und Rückschritt witterten. Als freilich der vierte Stand endlich als eine tatsächliche Macht auf die Bühne trat und mit der Staatsidee des Altliberalismus keineswegs sehr säuberlich umsprang, verläugnete und bekämpfte ihn der letztere, wie der Mensch dann immer Consequenz und Logik abschwört, sobald ihm die eigenen Gedanken über den Kopf wachsen. Der Altliberalismus ging endlich wenigstens negativ auf das sociale Leben ein, er hielt den Socialisten und Communisten den Widerpart, da er doch selber ihren Lehren die Steige in's praktische Leben geebnet hatte, aber eine eigene positive Mitarbeit am Fortbau der Gesellschaft vermochte er nicht zu liefern. Es läßt sich überhaupt insofern ein merkwürdiger Fortschritt in der Entwicklung des Altliberalismus wahrnehmen, als er von seiner Abstraktion des alles verschlingenden Staatsbegriffes mehr und mehr zurückkam, je mehr es seinen Stimmführern vergönnt wurde, an praktischer staatsmännischer Thätigkeit Theil zu nehmen. So war er ursprünglich Kosmopolit, später leuchtete ihm die Nothwendigkeit einer geschichtlich organischen Gliederung der Nationalitäten ein. Aber nun noch einen Schritt weiter zu gehen, und diese selbe Nothwendigkeit auch bei der Gesellschaft einzusehen, vermochte er nicht. So befürwortete er das allgemeine Stimmrecht, indeß er den Communismus und Socialismus bekämpfte, als ob nicht die revolutionäre Macht dieser Lehren ein Kinderspiel wäre, gegen die Macht der Thatsache des allgemeinen Stimmrechtes gehalten. Es erging ihm wie den Frauen, welche die Logik immer nur bis zu einem gewissen Punkte gelten lassen, indem sie die ganze Kette der Vordersätze zugestehen, aber, wenn dann endlich der Schlußsatz daraus hervorgehen soll und muß, wieder abspringen und sagen, sie meinten, es sey doch anders.

Wie der constitutionelle Altliberale den Menschen nur unter den Gesichtspunkt des Staatsbürgers fassen wollte, so wollten die aufgeklärten Pastoren nur von allgemeinen Christen etwas wissen, aber ja von recht allgemeinen, denn specifisch christliche Christen würden eben doch wieder eine körperschaftliche Gliederung ausgesprochen haben. Die Philosophen wollten nur Menschen, reine Menschen passiren lassen, die Demokratie nur die Allgemeinheit des »eigentlichen Volks,« bei welch wunderlichem Ausdruck freilich sogleich der Verdacht hervorspringt, als erkenne man das unvermeidliche Fortbestehen einer zweiten Gruppe, des »uneigentlichen Volkes« neben dem eigentlichen an. Alle diese Abstractionen halfen den vierten Stand hervorbilden. Die erste französische Revolution gedachte zunächst den dritten Stand zu befreien; bald aber ward sie inne, daß die volle republikanische Freiheit nur bei der Vernichtung aller Stände bestehen kann, doch indem sie alle Stände zerstören wollte, schuf sie in den Schreckenstagen die Herrschaft eines neuen Standes, des vierten. Diese aber führte im Ring zum Wiederermannen des dritten Standes und weiter zum Emporsteigen einer neuen Aristokratie.

Darin liegt eben ein ungeheurer Humor, daß so viele, so verschiedenartige und sonst in allen Stücken feindselige Mächte des öffentlichen Lebens als so treue Bundesgenossen gegen die Thatsache der körperschaftlichen Gliederung der Gesellschaft gekämpft, und doch nichts weiter zuwege gebracht haben, als ein neues Glied – den vierten Stand. Diese großartige Allianz konnte die bestehenden Corporationen verschlechtern und ein babylonisches Wirrsal in den Grundbegriffen der gesellschaftlichen Mächte hervorrufen, aber die Corporationen selbst niederreißen, den Glauben an ihre Nothwendigkeit aus dem Bewußtseyn des »eigentlichen Volkes« tilgen, das vermochten diese Souveräne, Bureaukraten, Liberale, Pastoren, Philosophen, Communisten und Demokraten doch nicht. Indem sie die bestehenden Stände vernichten wollten und statt derselben einen weiteren zu den bestehenden erschufen, erging es ihnen just wie vielen deutschen Landständen des achtundvierziger Jahres, welche so lange über Ersparnisse im Budget beriethen, bis die Berathungskosten selber zu einem neuen Posten desselben angelaufen waren, der alle Ersparnisse wenigstens um das Dreifache überstieg.

Drei folgenreiche Revolutionen in jenem Frankreich, welches doch seinen Nacken am tiefsten unter das Joch einheitlicher Staatsallmacht beugt, brachten es nicht einmal fertig, die Nivellirung auch nur der gesellschaftlichen Sitte im Sprachgebrauch durchzuführen. Und Frankreich ist das gelobte Land des vierten Standes. Selbst eifrig social-demokratische Franzosen lächelten bereits im ersten Jahre der neuen Republik wieder, wenn sie sich noch je zuweilen mit »citoyen« anredeten. Und gerade das »eigentliche Volk,« nämlich die unteren Classen, hat sich am allerwenigsten in diese sprachliche Vernichtung der Standesunterschiede finden können. Sein Instinkt ließ es nicht loskommen vom alten Sprachgebrauch, der ja nicht willkürlich gemacht, sondern zusammt seinen Lächerlichkeiten aus der innersten Natur des Menschen erwachsen war. Jedem Menschen ist sein Zopf angeboren, warum soll denn der sociale Sprachgebrauch nicht auch seinen Zopf haben? Wo man dem Volk den »Bürger« und das brüderliche »Du« durch Decrete aufdrängte, da wurde es sofort confus im Handhaben der neumodischen Redeweise. So las man in Paris kurz nach der Februarrevolution an der Thüre eines Clubblokals, dessen Besucher sich, wie die Studenten sagen würden, den »Du-Comment« zur Pflicht gemacht hatten, die Aufschrift: » Ici tout le monde se tutoie; – fermez la porte, s`il vous plait!« Die unausrottbare Sitte kann wohl keinen größern Triumph über ein äußeres Machtgebot feiern als in diesen drei Worten. Als in den neunziger Jahren die Stadt Mainz von den Truppen der französischen Republik besetzt und von den Clubbisten terrorisirt war, erging an die Nachtwächter der Befehl, fürder nicht mehr zu singen: »Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen« ec, sondern: »Hört, ihr Bürger« ec., mit der ausdrücklichen Motivirung, daß es keine Herren mehr gebe, sondern jedermann bloß Bürger sey. Die Nachtwächter merkten sich das, sangen aber ganz folgerecht von nun an auch am Schlusse statt: »Lobet Gott den Herrn« – »Lobet Gott den »Bürger.« Und es mußte ein neues Decret erscheinen, welches ihnen befahl, den lieben Gott einstweilen noch im Genusse seiner alten Titulatur zu lassen.

Und doch waren jene Clubbisten in ihrem ersten Decret nur demselben Drange gefolgt, dem unsere ganze geistige Entwicklung seit der Reformation sich hingegeben hatte, und die Nachtwächter, indem sie unbewußt eine Satyre auf diesen weltgeschichtlichen Zug des modernen Geistes sangen, setzten das naive Volksbewußtseyn dagegen, welches nicht einsieht, warum man unsern Herrgott noch in seinem überlieferten Recht lassen müsse, wenn man einmal mit dem überlieferten Recht der Gesellschaft gebrochen habe.

Der Organismus der Gesellschaft war am Ausgang des Mittelalters erstarrt und veräußerlicht. Er mußte reformirt, neu belebt werden. Das Widerspiel zu den corporativen Schranken der mittelalterlichen Gesellschaft entfaltete sich darum jetzt in seiner ganzen Breite und Tiefe. Aber gerade die Geburt des vierten Standes, welche das Resultat einer dreihundertjährigen Arbeit der Nivellirung war, bürgt uns dafür, daß wir bereits über ein bloßes Verneinen des corporativen Lebens hinausgekommen sind und der Versöhnung beider Gegensätze entgegengehen.

Der vierte Stand ist nun einmal da. Die entfesselnden Fortschritte in allen Reichen der Geistesarbeit wie der industriellen mußten ihn naturnothwendig schaffen. Alle Sünder an der Gesellschaft helfen dem vierten Stand die Stätte bereiten, aber man hüte sich vor der frevelhaften Ansicht, als ob diese Gruppe darum in Sünden gezeugt, als ob sie an sich das böse Princip in der Gesellschaft sey! Der vierte Stand hat ebenso gut sein historisches Recht, als irgend ein anderer Stand. Ein Theil des Bürgerthums drängt gegenwärtig darauf hin, die ganze Gesellschaft als aufgegangen im Bürgerthume zu betrachten. Der vierte Stand führt diese Ansicht zur äußersten Consequenz. Insofern er bloße Negation ist, Abfall der Stände von sich selbst, kann er nie und nimmer ein festes organisches Gebilde werden. Die sociale Gefahr des verneinenden vierten Standes beruht aber zum großen Theile darin daß er nur erst ein werdendes, schwankendes Gebilde ist, welches sich erst einen festen Bestand erringen könnte, indem es die ganze Gesellschaft verschlänge. Es gibt aber im Gegensatz hierzu beweglichere Elemente des Bürgerthumes – die täglich wachsende Schaar eben jener Lohnarbeiter aller Art – die bis jetzt nur eine volkswirthschaftliche Gruppe bilden, aus denen sich jedoch ein neuer, ein ächter vierter Stand auch social entwickeln könnte. Diese Elemente müßte man zu einem corporativen Ganzen zusammenzuführen suchen. Man müßte den vierten Stand bekämpfen und auflösen durch – die Arbeiter. Denn gerade in den gediegenen Elementen dieser Arbeiter, als den beweglichsten Theilen des Bürgerthumes, liegt ein Recht zur selbständigen socialen Existenz, welches man mit den Forderungen des hier geschilderten vierten Standes, als der Gruppe der socialen Verneinung, zu vermengen liebt, wodurch eine wirklich gefährliche Verwirrung in die Sache gekommen ist. Denn der »Arbeiter« hat eine Zukunft, ein Recht als Gesellschaftsgruppe, er bildet nur noch keinen Stand aus dem Gesichtspunkte der » Naturgeschichte des Volkes,« er deutet erst einen künftigen, idealen vierten Stand vor; der gegenwärtige vierte Stand dagegen hat neben ihm nur ein Recht der Existenz, wie Mephisto neben Faust.


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