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Zweites Kapitel.

Sondergeist und Einigungstrieb im deutschen Volksleben.

Im Wein ist Wahrheit. Auch eines Volkes geheimste Gedanken belauscht man wohl in den kurzen Augenblicken seligen Trunkenseyns, nicht in den langen nüchternen Tagen des ruhigen Gewohnheitslebens.

So ein glücklicher Moment des Rausches war das Jahr 1848. Kommende Geschlechter beneiden gewiß den Culturforscher, dem es damals vergönnt war, mit Mappe und Bleistift zuzuschauen und Skizzen zu Dutzenden für künftige Ausarbeitung auf's Papier zu werfen. Denn ein Rausch des Volkes mag wohl rasch wiederkehren, aber schwerlich ein so gutartiger, der von allen guten und schlechten Geheimnissen des Volkslebens so arglos den Schleier heben wird. Es sind bereits so viele Sittenzeichner aufgetreten, welche aus den Scenen des Jahres 1848 einen Höllenbreughel zusammengesetzt haben: warum nicht lieber einen Ostade, ein Bildchen, wo der Wein so recht als ein Verklärer, das ist ein Klarmacher, auf jedem Lächeln, jedem Blinzeln, jedem Stirnrunzeln der Zechgenossen leuchtet, und auch der unglückselige Mann nicht fehlt, der seitab sich in den Winkel stiehlt, weil es ihm übel wird? In jenem dem Beobachter so günstigen Jahre des großen Volksrausches konnte man eine zwiefache Thatsache wahrnehmen. Zuerst, daß sich alle Welt, Rang und Stand vergessend, brüderlich in die Arme fiel – und wer nicht aus dem Seelenjubel der Begeisterung mitmachte, der that es wenigstens beim Zähneklappern der Furcht. Zum andern aber, daß gleichzeitig der Sondergeist, der Drang nach corporativer Selbständigkeit der einzelnen Berufe und Gesellschaftsgruppen nicht minder gewaltig hervorsprang.

Da sahen wir, wie schon in den ersten Märztagen das Handwerk sich zusammenschaarte, um sich zu erretten von dem Fluch der schrankenlosen Gewerbfreiheit, der Patentmeisterschaft ec, um die Ordnung der gewerblichen Angelegenheiten der Büreaukratie ab und in die eigene Hand zu nehmen. Es wurden hier und dort förmliche Zunftordnungen extemporirt, nicht von den Regierungen, sondern von den Handwerkern selber. Meister- und Gesellenvereine wucherten auf. Altersmatt gewordene Gewerbevereine gewannen neues Leben. Bei einzelnen Gewerbszweigen wurde die Selbstherrlichkeit der Körperschaft bis zu einem Grade ausgedehnt, daß der Staat nicht mehr ruhig zusehen konnte. Ich erinnere nur an die Buchdruckergehülfen, welche mit ihrem straffen Zusammenhalten im Sommer 1848 der norddeutschen Polizei nicht wenig Kummer bereitet haben. Man nannte aber, beiläufig bemerkt, diese Fanatiker des Corporationswesens radical, nicht reactionär.

Die ›Arbeiter‹ schaarten sich zu umfassenden Vereinen mit klar ausgesprochener socialer Tendenz, um ihre Rechte als "Stand" kämpfend. Eigene Arbeiterzeitungen wurden gegründet. Die Schullehrer wie die Geistlichen gruppirten sich zu besonderen Vereinen, hielten Versammlungen ab, stifteten Schul- und Kirchenblätter. Jeder wollte das Interesse seines Standes und Berufes wahren und festigen. Die Kirche machte von dem Vereinsrecht den großartigsten Gebrauch. Der Katholicismus gewann durch das musterhaft organisirte Vereinswesen eine sociale Macht, wie er sie, wenigstens in den Ländern gemischten Glaubens, vielleicht seit der Reformation nicht mehr besessen hatte. Es wurden auch kirchliche Vereinszeitungen geschaffen neben den eigentlichen Kirchenzeitungen. Ueberall Sonderung, überall eine ganz von selbst entstehende Gliederung der Gesellschaft. Ja die Lust, alle möglichen Angelegenheiten genossenschaftlich zu behandeln, überstürzte sich bis zum Unsinn, und mancher sonst arbeitsame Bürgersmann ist dazumal vor lauter Corporation, ständischem selfgovernement und Vereinswesen ein Lump geworden.

Die freie Gemeindeverfassung, was ist sie in ihren Grund- und Stammsätzen anders als ein Corporationsstatut, halb socialer, halb politischer Natur? Das Recht, die eigenen Angelegenheiten des Gemeindehaushaltes selber zu ordnen, das Recht der Gemeinde, demjenigen die Niederlassung zu wehren, den sie für ein verderbliches Subject hielt, wie es im Mittelalter die Städte besaßen, beanspruchte jetzt jedes Dorf. Ich habe nicht gehört, daß irgendwo in der Weise Mißbrauch von der freien Gemeindeverfassung gemacht worden wäre, daß eine Gemeinde ihre Thore dem Zuzug jedes Straßenläufers geöffnet hätte, wohl aber gar häufig umgekehrt, daß die freie Gemeinde in engherzigstem Sondergeist auch dem tüchtigsten Einwanderer die Niederlassung versagte. Die Bürger der Städte, der eigentliche Mittelstand, thaten sich zusammen in Bürgervereinen, constitutionellen Vereinen, Vereinen für Gesetz und Ordnung u. dgl. Es war in der Regel nicht geradezu ausgesprochen, daß diese Vereine das corporative Interesse des Bürgerstandes als solchen vertreten sollten. In der That und Wahrheit thaten sie dies aber doch, und wesentlich nur dies. Absichtslos bekundete sich hier der Sondergeist des Bürgerthums nur um so auffallender.

Der Adel wurde schon durch die Bedrängniß der Zeit zu strafferem Zusammenhalten getrieben.

Die Bauern allein versuchten keine neuen Corporationen zu gründen, weil sie glücklicherweise noch in dem beneidenswerthen Zustande leben, daß sie von allen Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft am naturgemäßesten gegliedert sind, ohne es selber recht zu wissen.

In all diesen Thatsachen lag eine Wahrheit, jene naive Wahrheit, welche aus dem Rausche spricht. Es war den Leuten nicht von oben her befohlen worden, sich nach Standes- und Berufsinteressen in Vereinen zusammenzuthun, sie waren ganz von selber auf den Einfall gekommen, der Instinct des fessellosen Volkes hatte die Wahrheit entdeckt und ausgebeutet, daß nur aus der gesonderten Pflege des Individuellen die allgemeine Größe hervorsteige.

Gerade in Mitteldeutschland, wo wahrlich wenig mittelalterliche Rückgedanken im Volke mehr leben, wo aber hier und da eine zügellose Gewerbefreiheit die Leute allmählich mürbe gemacht hatte, sah die freisinnige Partei den letzten Rettungsanker des Handwerkes in einer neuen corporativen Organisation des Gewerbestandes. Im deutschen Süden besaß man zum Theil noch zu viel von den alten Resten des Zunftwesens, man hat aber selbst wirklich veraltete Gebilde derart nicht geradezu über Bord geworfen. Der Norddeutsche begreift diese Thatsachen nicht, weil er sie nicht bei sich selbst erlebt hat. Es würde staunenswerthe Resultate zeigen, wenn man das Alles zusammenstellen könnte, was der Gewerbestand einzelner Gegenden 1848 Alles gethan hat, um sich in wirthschaftlichen und socialen Körpern zu Schutz und Trutz abzuschließen. Wohl hat man in norddeutschen Städten die Gewerbefreiheit gewahrt; in anderen Gegenden aber ist man gerade da mit dem stürmischsten Angriff gegen dieselbe vorgeschritten, wo man sie am ausgedehntesten genossen hatte. Hier verläugnete der Liberale sein eigenes liberales Princip, um dem in der Nation wehenden Sondergeiste ein Genüge zu thun, welcher eben da, wo das Volk sich in seiner Natürlichkeit zeigte, wo es am meisten sich gehen ließ und nach eigenem Gutdünken wirthschaftete, am entschiedensten hervorbrach. Diese wichtige Thatsache wird man nicht antasten können.

Aber freilich war auch gleichzeitig dem Einigungstrieb keine Schranke gestellt. Man gab sich unbefangen den Sonderinteressen von Stand und Beruf hin, weil man die Sonderungen des Ranges ein für allemal aufgehoben wähnte. Man fühlte sich einig als Nation, und nahm es darum für unverfänglich sich in den socialen Sonderinteressen ganz gründlich zu vereinzeln. Man fühlte sich gleich und einig in der Bildung, denn keiner glaubte an politischer Reife dem andern nachzustehen und jeder Eckensteher war ein Staatsmann: darum wahrte man um so eifriger den Vortheil der einzelnen abgeschlossenen Stufen der bürgerlichen Existenz sammt der damit verknüpften Mannichfaltigkeit der speciellen Bildung. Hätte man freilich den Leuten laut gesagt, daß sie durch ihr Vereinswesen etc. lediglich den unvertilgbaren Trieb zur ständischen Gliederung bekundeten, so würden sie Einem die Fenster eingeworfen haben. Daß sie unbewußt dem Sondergeist im Volksleben ihre Huldigung darbrachten, macht darum diese Huldigung selbst nicht bedeutungsloser.

Die Scheidewand der alten Gesellschaftsgruppen ist durch den Einfluß einer immer mehr sich verallgemeinernden Geistesbildung, durch die Macht des modernen Industriewesens, durch die staatsrechtliche Thatsache eines gleichberechtigten und gleichverpflichteten allgemeinen Staatsbürgerthums so gründlich niedergeworfen worden, daß man für die Kraft des socialen Einigungstriebes in unserer Zeit nicht erst den Beweis anzutreten braucht. In einer Epoche, wo der Adel social herrschte, zweifelte niemand an der ständischen Gliederung der Gesellschaft: so zweifelt jetzt, wo der Bürgerstand den entscheidendsten Einfluß im socialen Leben übt, niemand an dem Gemeinbewußtseyn, an der höheren Einheit aller Gesellschaftsgruppen. Aber gerade darum ist es jetzt um so nothwendiger darauf aufmerksam zu machen, daß auch der sociale Sondergeist durchaus nicht erloschen, daß er nur in die zweite Linie getreten ist, daß er statt der alten Bildungen neue geschaffen hat, und wahrlich als ein vollwichtiger Factor in der socialen Politik die höchste Beachtung verdient.

Ich zeigte vorhin im Spiegel einer Volksbewegung, wie mächtig der unbewußte Sondergeist im Volke noch walte. Als Seitenstück tritt uns die gleiche Erscheinung auch im Spiegel der modernen Literatur gegenüber. An dem Grundsatze festhaltend, daß im Kleinen der Maßstab für Großes gegeben sey, greife ich einen literarisch noch minder bedeutenden, aber um der Ueppigkeit des in ihm wuchernden Triebes für den Culturforscher um so bedeutsameren Zweig unseres Schriftthumes heraus: den sogenannten "socialen Roman." In dem Maße als uns das durch lange Zeit fast ganz abgestorbene Bewußtseyn des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft wieder lebendig wurde, keimte auch die reiche Saat der socialen Romane auf. Das 18. Jahrhundert konnte keine Literatur des socialen Romans haben, denn der moderne Begriff der Gesellschaft fehlte ihm. Wenn aber ein künftiger Historiker die socialen Geburtswehen unserer Tage zu schildern unternimmt, dann wird er ein eigenes Capitel ausarbeiten über dieses Phänomen der socialen Romane: er wird da reden von Sealsfield, von Dickens, selbst schon von Walter Scott, von Eugen Sue und von all den künftigen großen deutschen Romanschreibern, die jetzt noch als Quintaner in den Gymnasien sitzen. Die Zeit ist da, wo Staatsmänner zu ihrer Instruction auch Romane lesen müssen.

Ist dies nicht eine wichtige Thatsache, daß unsere Poeten den Einzelnen gar nicht mehr anders zu malen vermögen als in den Localtönen eines bestimmten Gesellschaftskreises? daß der allgemeine Liebhaber, Held, Intriguant etc., wie man ihn ehedem zeichnete, stereotypen Figuren ganz anderer Art Platz gemacht, gesellschaftlich individualisirten Figuren, als da sind: Bauern in allerlei Natur und Unnatur, Edelleute und Emporkömmlinge, Bürger, Bourgeois und Philister, Handwerker, Arbeiter und Proletarier? Diese festen Charakterrollen, die dem modernen Roman ausschließlich zu eigen gehören, bezeichnen einen Triumph der historischen socialen Weltansicht über die philosophisch ausebnende. Wenn sich der großentheils politisch freigesinnte Kreis der Romandichter den modernen Menschen gar nicht mehr anders poetisch individualisiren kann als im Gewand eines besonderen Standes, dann müssen diese Gruppen der Stände doch wohl mehr seyn als das bloße Trugbild reactionärer Politiker. Gar viele sociale Romane sind im conservativen Interesse geschrieben, ohne daß sich's der Autor hat träumen lassen. Es war eine wahrhaft verhängnißvolle Verkehrtheit des vormärzlichen Standpunktes, daß nicht die Staatsmänner ein Auge hatten auf den socialen Roman, sondern die Polizeibeamten. Diese Gattung von Poesie bildete das erste Capitel in der polizeilichen Literaturkunde, und noch heute denken von zehn Leuten gewiß neune bei einem »socialen« Roman stracks an einen »socialistischen.«

Man halte die dichterischen Sittenbilder des Bauernlebens, welche Jung Stilling und Hebel mit so liebenswürdigem Griffel entworfen, gegen die Art wie Immermann, Auerbach, Jeremias Gotthelf dasselbe Thema behandeln. Jene älteren Dorfnovellisten malten uns den Bauersmann als ein einzelnes Charakterbild in seiner privaten Gemüthlichkeit, als Staffage eines kleinen Genrestückes; diese neueren dagegen fassen ihn vorweg als Glied der Gesellschaft, sie setzen ein Bauernthum voraus, der sociale Grundton dringt durch, auch wo keine Tendenz sich breit macht.

So geht es durch alle Zweige der Romandichtung. Auch das ästhetisch flachste und gleichgültigste Werk gewinnt aus diesem Gesichtspunkte oft Werth für den Culturhistoriker. So z. B. die aristokratischen Frauenromane. Eine spätere Zeit wird in denselben viel lehrreichen Stoff zur Erkenntniß der Schwächen unserer Aristokratie finden, wenn es der Literarhistoriker langst nicht mehr der Mühe werth hält einen Blick in dieselben zu werfen. Die Gräfin Hahn hat ihre Bücher Romane »aus der Gesellschaft« genannt. Sie denkt sich freilich unter der Gesellschaft etwas ganz anderes als wir, aber wir können sie immerhin auch in unserm Sinne beim Wort fassen: es sind in der That sociale Romane, sehr verunglückte freilich. Indem in den meisten dieser aristokratischen Frauenromane der Cultus gerade des Außenwerks der Aristokratie, in seiner Poesielosigkeit, auf die Spitze getrieben ist, werden sie förmlich zu destructiven Schriften, die eine richtige Erkenntniß und Würdigung des Wesens der Aristokratie weit mehr beeinträchtigen als gar manche polizeilich verbotene, von bärtigen Literaten geschriebene Bücher.

Zwei fremde Romanschriftsteller haben in neuerer Zeit in Deutschland einen wahrhaft beispiellosen Erfolg gehabt: Walter Scott in den zwanziger, Eugen Sue in den vierziger Jahren. Sie vertreten die beiden äußersten Pole des socialen Romans. Wer jetzt, nachdem wir die großen Lehrjahre unserer kleinen Revolution durchgemacht, Scotts Romane wieder zur Hand nimmt, der staunt gewiß darüber, wie er dieselben heute mit so ganz anderem Auge liest als vordem. Welchen grundverschiedenen Sinn haben diese Schilderungen der altenglischen Aristokratie und des Bürgerthums wie der patriarchalischen Zustande Hochschottlands jetzt für uns gewonnen, wo wir mitten im socialen Kampfgetümmel stehen! Jetzt merkt man erst, daß nicht das historische Beiwerk, sondern der sociale Kern den eigentlichen Grundcharakter dieser Romane bildet. Jetzt fühlt man erst, wie lächerlich es war, daß man vordem bald diesen bald jenen deutschen Romandichter den deutschen Walter Scott genannt, wo wir doch erst das Bewußtseyn eines fest historisch gegliederten Gesellschaftslebens wie das englische wiedergewinnen müßten, um deutsche sociale Romane von innerer Verwandtschaft mit diesen englischen schaffen zu können. Der sociale Inhalt wurde bei den Romanen Sue's von der großen Masse viel rascher herausgefunden als bei Walter Scott, weil er sich dort als Verneinung der bestehenden Gesellschaft darstellt. Man glaubte jetzt erst den socialen Roman gewonnen zu haben, den man doch längst besaß. Den Deutschen fängt mehrentheils die Politik immer erst da an, wo die Opposition anfängt, darum ist eine erhaltende und aufbauende Politik für so viele geradezu das classische »hölzerne Eisen« der logischen Lehrbücher. In einer Zeit, die von großen sittlichen und socialen Gährungen kaum minder trüb aufbrauste als de unsrige, hat Rubens den wilden Jubel der Sinnenlust, den entfesselten Dämon des irdischen Menschen, den Rausch der geilen Lüsternheit in unverhüllter Nacktheit ungleich kecker gemalt als je einem französischen Neuromantiker gelungen ist; aber wir dürfen nicht vergessen, daß er neben diese nahezu unsittlichen Bilder – das jüngste Gericht und den Sturz der bösen Engel gestellt, und daß ihm die hier zum Abgrund niederstürzenden Teufel, wie sie sich vergeblich zähnefletschend gegen die Lanzen der Erzengel aufbäumen, gerade am trefflichsten gelungen sind. Auch der sociale Roman der Franzosen malt die Sünde möglichst nackt, aber das Gericht, welches der Dichter daneben stellt, ist kein jüngstes Gericht, und die poetische und sittliche Gerechtigkeit wird darin schneidender verletzt als in dem koketten Abbild der Unzucht und Niedertracht selber. Rubens, der im Style seiner Zeit sociale Romane malte, war auch ein Staatsmann. Sollen wir Victor Hugo, Sue, G. Sand ec, die ja auch auf kurze Frist Staatsmänner neueren Styles gewesen sind, mit dem alten Maler als Staatsmann vergleichen? Nirgends haben die Franzosen Aberwitzigeres zu Tage gefördert als in den praktischen Lösungsversuchen der socialen Frage, und kein Literaturzweig ist bei ihnen entsprechend zu ärgerem ästhetischem Aberwitz ausgewachsen als der sociale Roman.

Man zeige mir einen wirklichen Dichter, der einen modernen Roman geschrieben hat, ohne dessen Charaktere als in den Unterschieden der verschiedenen Stände gewurzelt zu entwickeln, und ich will daran glauben, daß ein Unterschied der Stände auch nicht mehr in der Natur und in dem Bewußtseyn des Volkes wurzele. Ein Mensch, der keiner besonderen Gesellschaftsgruppe angehört, sondern nur dem allgemeinen Staatsbürgerthum, ist für den Romandichter eben so sehr ein Unding als ein allgemeiner Baum, der nicht Eiche, nicht Buche, nicht Tanne für den Maler. Und nicht bloß im Wein ist Wahrheit – auch in der Poesie.

Für das Studium der Volkssitten ist in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erstaunlich viel gethan worden. Meint man, der überreiche ungeordnete Stoff, der hier zusammengetragen ist, habe blos den Werth einer Curiositätensammlung, oder blos antiquarischen Werth, sofern er den letzten Widerschein einer versinkenden Welt festhält? Für uns hat die Fülle dieser Studien zu allererst eine großartige sociale Bedeutung. Denn die noch fortlebende Sitte des Volkes, deren stärkste Triebkraft gerade in den unteren Volksschichten sitzt, ist uns Brief und Siegel für das noch keineswegs erstarrte Schaffen und Weben des Sondergeistes im Volke. Diese derben Unterschiede der Volkssitten werden sofort erlöschen, so wie eine organische Gliederung der Gesellschaft aus der Natur des Volkslebens verschwunden ist. Alsdann wird es Zeit seyn an das ewige Reich des Socialismus zu denken. Nur die nivellirte äußere Kruste der Gesellschaft, die den modernen abstracten Bildungsmenschen in sich faßt, hat jetzt schon keine eigenthümliche Sitte mehr.

Das vielfach bis zur äußersten Grenze getriebene Sonderthum des Volkslebens ist der tiefste Jammer und zugleich die höchste Glorie Deutschlands. Unser Bestes und unser Schlechtestes wurzelt in demselben, nicht seit heute oder gestern, sondern seit es eine deutsche Geschichte gibt. Hier die Eigenart und Frische unseres geistigen Schaffens, der Ameisenfleiß unseres industriellen Lebens, jene zähe, elastische, verjüngende Kraft, welche unsere Nationalität nie ganz zerknickt werden ließ, welche wirkte, daß der deutsche Geist, wenn er in einem Punkte gebrochen schien, in zehn andern gleichzeitig um so gewaltiger in die Höhe strebte. Auf der andern Seite Zwietracht, Zersplitterung, der Jammer des ebenfalls niemals auf allen Punkten zugleich niederzubeugenden Particularismus. Schon geographisch ist Sondergeist und Einigungstrieb im deutschen Volksleben dargelegt in dem »individualisirten und centralisirten Land,« wie ich es in dem ersten Bande dieses Werkes geschildert habe, Zu jenen örtlichen Gruppen, deren bunte Mannigfaltigkeit ich am gedachten Orte nur andeuten, nicht ausmalen konnte, gesellen sich die ideellen Besonderungen der Gesellschaftskreise. Es kann dem Blick wohl schwindeln, wenn sich ihm dieses Gewimmel des Einzellebens aufthut. Wie den deutschen Volksstämmen der Stempel der gesonderten Volkspersönlichkeiten schärfer eingeprägt ist, als den Gliedern irgend einer andern Nation Europa's, so geht auch die Sonderung der Gesellschaftsschichten bei uns noch am tiefsten. Aber zugleich besitzen wir auch den stärksten Hebel, unberechtigte sociale Schranken niederzuwerfen: die allgemeine Geistesbildung. Eine Nation von Dutzenden von Stämmen, Stätchen, und Gesellschaftsgruppen, und zugleich eine Nation von Gelehrten! Dieser Gegensatz bildet das Tragische im deutschen Nationalcharakter. Der auf die Spitze gestellte Widerstreit eines natürlichen, angestammten Sondergeistes mit einem uns nicht minder angeborenen Einigungstrieb hat unser sociales Leben zu dem interessantesten und lehrreichsten, zugleich aber auch zum kummervollsten gemacht. Es ist deutsche Art, die eigenen Schmerzen darüber zu vergessen, daß man an ihnen physiologische Studien über die Natur des Schmerzes macht. Die socialen Kämpfe werden bei uns am tiefsten ausgekämpft werden. Mag Frankreich den Ausgangspunkt kommender socialer Revolutionen bilden, Deutschland wird doch der Centralherd derselben werden, das Schlachtfeld, wo die Entscheidung geschlagen wird. Wir wollen jeden redlichen Streiter in diesem Kampfe ehren, nur soll man uns nicht wegläugnen, daß das letzte Recht für beide Parteien in der eigensten Art des deutschen Volkes wurzele: der sociale Sondergeist nicht minder als der sociale Einigungstrieb. Der Zug der Zeit wird bald den einen, bald den andern in den Vordergrund schieben, ausrotten wird er weder den einen noch den andern. Der unbefangene Staatsmann aber wird beiden ihr Recht zu wahren wissen. Die Vorrechte einzelner Stände sollen Corporationsrechte aller Stände werden. Ich sage Corporationsrechte; denn nur aus dem Individuellen keimt ein gesundes Leben. Diese vom modernen Staats- und Rechtsbewußtseyn wie von der Humanität gleicherweise geforderte Gleichheit herzustellen, nimmt der ausebnende Liberalismus die corporativen Rechte Allen weg. Ich möchte sie Allen geben, Jedem nach seiner Art, weil ich nicht bloß den Drang nach socialer Ausgleichung, sondern auch den Sondergeist im Volke erkenne und ehre.

Das entartete, übercivilisirte römische Alterthum am Vorabend seines Zerfalles konnte sich eines gründlichen Respectes vor den deutschen Barbaren nicht erwehren, als es wahrnahm, auf welche tief sittliche Grundlage das Familienleben bei diesem Volke gebaut war. Mit der im engen Kreise fest beschlossenen Familie haben wir unsere erste sittliche Ehre auf dem Schauplatze der Weltgeschichte eingelegt. Die Familie ist aber die oberste Voraussetzung der Gesellschaftsgruppe. In dem Idealbilde des mittelalterlichen deutschen Adels krystallisirte sich das Familienbewußtseyn zum Standesbewußtseyn. Die engere Gruppe der bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zu dem fessellos in's weite schweifenden vereinsamten Individuum trägt bei uns die historische Weihe. Sie warb uns unsere erste Ehre, sie sollte uns billig auch unsere letzte werben.

Das genossenschaftliche Leben ist uralt beim deutschen Volke, aber eine Kaste hat es bei uns nie gegeben, wie bei den Orientalen, nicht einmal eine Priesterkaste. Auch eine politisch bevorzugte, herrschende Aristokratie gehört wenigstens nicht der Urzeit unserer Volksgeschichte an. Sondergeist und Einigungstrieb ergänzte sich in jenen grauen Tagen, wo die Sittentiefe deutschen Familienlebens den Römern Respect einflößte. Wie heute die allgemeine Bildung einigend wirkt, so wirkte dieß damals das Gemeingut der Volkspoesie in Sitte und Sage, Lied und Spruch. Merkwürdigerweise brachte just das Zeitalter des Zopfes, wo das sociale Bewußtseyn überhaupt am ärgsten getrübt, am tiefsten erschlafft war, die Fabel von einer altdeutschen »Bardenzunft« auf, welche die Volksdichtung standesmäßig in Pacht gehabt hätte. Höhere Bildung ist gewiß nicht jedermanns Sache; ihre Pflege füllt darum einen Beruf, nicht aber einen gesellschaftlichen Stand. Es mag uns als ein Wahrzeichen gelten, daß die Gelehrten gerade damals einen eigenen Stand, eine besondere Kraft usurpirten, als der gesunde korporative Geist am tiefsten in Deutschland gesunken war. Und am Ausgange des Mittelalters, wo sich das Ständewesen durchaus veräußerlicht hatte, thaten sich vollends sogar die Poeten zu einer wirklichen Zunft zusammen.

Ein anderes Wahrzeichen tröstlicherer Art möge dem gegenüberstehen. Es ist die der Gegenwart eigenthümliche Freude der höheren Stände an der Poesie und dem Gesang des gemeinen Mannes, am Volkslied. Sie ist ein sociales Phänomen, ein Triumph des Einigungstriebes der durch alle Stände geht, und des edelsten Sondergeistes gleicherweise. Für den Genius gibt es keine gesellschaftliche Schranke, im Gegentheil, er überbrückt dieselbe, wo er sie vorfindet, und der große moderne Doppelstand der Gebildeten und der Bildungslosen zieht sich als ein dicker Querstrich unbarmherzig mitten durch alle Standesgruppen. So beugt sich der vornehme Mann, indem er das arme kleine Lied des Bauern als ein köstliches Kleinod in den Schatz seiner Bildung aufnimmt, vor dem künstlerischen Genius im Volke. Der Volksgesang, der jetzt in allen Prunksälen heimisch wird, ist gleich einem Regenbogen des Friedens, der sich Über alle Stände spannt. Das Reale ist die gesellschaftliche Sonderung, das Ideale die Einigung. Dem gemeinen Mann, der im Schweiße seines Angesichtes sein Brod ißt, gab Gott, daß er singe, damit im Verständniß dieser schlichten Lieder die übersättigte vornehme Welt auch wieder einmal einfältig sich fühlen könne wie geringe Leute. Gemahnt dies nicht an das Wort der Schrift: »Und den Armen wird das Evangelium gepredigt?«


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