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Siebentes Kapitel.

Ruhe hatte Clara so gut wieder hergestellt, daß Adeline, die zärtliche Besorgniß früh in ihr Zimmer trieb, sie bereits aufgestanden und bereit fand, zum Frühstück mit herunter zu gehn, Herr Verneuil erschien ebenfalls, allein sein Aussehn verrieth, daß er nicht wohl geschlafen hatte. Wirklich hatte er auch in der Nacht einen Schmerz an seinem Arm empfunden, welchen stillschweigend zu ertragen, keine geringe Entschlossenheit erforderte. Er war angeschwollen und etwas entzündet, und dieses mochte zum Theil von dem Balsam der Mademoisell La Lüc herrühren, dessen Wunderkraft dießmahl gefehlt hatte. Die ganze Familie nahm an seinen Leiden Theil, und Mademoiselle gab auf Bitten des Herrn Verneuil ihren Balsam auf, und legte kühlende Salbe auf.

Der Gebrauch davon, stillte in kurzen seine Pein, und er kam sehr erleichtert wieder zum Frühstück zurück. Die Freude, welche La Lüc über seiner Tochter Rettung empfand, war sehr sichtlich; seinen Dank gegen ihren Retter aber fand er schwer auszudrücken. Clara sagte die aufrichtigen Empfindungen ihres Herzens mit ungeschmückten, bescheidnem Nachdruck, und bezeugte innige Bekümmerniß über die Schmerzen, die sie ihm zugezogen hatte.

Das Vergnügen, welches er in der Gesellschaft seines Gastes empfand, und Dankbarkeit für den wichtigen Dienst, den er ihm geleistet hatte, wirkten mit La Lücs natürlicher Gastfreyheit zusammen, und er drang in Herrn Verneuil, noch einige Zeit in seinem Hause zu verweilen.

»Ich kann niemahls den Dienst, den Sie mir geleistet haben, vergelten,« sagte La Lüc, »und doch suche ich meine Verbindlichkeiten gegen Sie durch Bitte um Verlängerung Ihres Besuchs, und Gelegenheit zu Ihrer nähern Bekanntschaft zu vermehren.«

Herr Verneuil der auf einer Reise von Genf nach einer fernen Gegend von Savoyen begriffen war, bloß um das Land zu sehn, war so zufrieden mit seinem Wirth und allem was ihn umgab, daß er bereitwillig die Einladung annahm. Klugheit kam hier allerdings mit seiner Neigung zusammen: denn es würde in seinem gegenwärtigen Zustande gefährlich, wenn nicht unmöglich gewesen seyn, seine Reise zu Pferde fortzusetzen.

Nach Tische führte La Lüc seinen Gast auf einen Spaziergang am See, der oft sich unter dem Schatten überhängender Waldungen hinbog, oft wieder über Rasenhügel sich dehnte, wo die Gegend in aller wilden Pracht sich eröfnete. Herr Verneuil stand mehrmahls in Entzückung still, um die Schönheiten zu betrachten, während La Lüc, den seine Empfindung freute, die Gegenstände, die ihn schon so oft bezaubert hatten, mit mehr als gewöhnlicher Befriedigung ansah. Nur lag eine zärtliche Schwermuth in seiner Stimme und auf seinem Gefühl, welche durch die Erinnerung entstand, wie oft er mit ihr, die ihnen ein ewiges Lebewohl gesagt, diese Gegenden durchwandelt und gemeinschaftlich empfunden hatte.

Sie verließen den See, und wanden sich eine kleine Anhöhe zwischen den Wäldern hinan, worauf sie nach dem Spaziergange einer Stunde zu einem grünen Hügel kamen, der unter den wilden Felsen, die ihn umringten, gleich der Blühte am Dorn schien. Es war ein Ort zum einsamen Entzücken geschaffen, und flößte die sanfte Zärtlichkeit ein, die dem fühlenden Herzen so süß ist, und der Erinnerung Bilder der Sehnsucht, durch Entfernung gesänftigt, durch öftere Wiederhohlung theuer gemacht, zurückruft.

Wildes Gesträuch wuchs aus den Felsenritzen unten hervor, und die hohe Fichte und Ceder, die von oben wehten, gaben einen melancholischen, romantischen Schatten. Die Stille der Gegend wurde nur von dem Lüftchen, das über die Wälder hinsäuselte, und von den einsamen Tönen der Vogel, welche die Klippen bewohnten, unterbrochen.

Von diesem Puncte beherrschte das Auge eine volle Ansicht auf die majestätischen, erhabnen Alpen, deren Gestalt die Seele mit Regungen unbeschreiblicher Ehrfurcht erfüllt, und sie zu einer edlen Natur zu erheben scheint. La Lücs Dorf und Haus erschien im Grunde der Gebürge; eine friedliche Zuflucht vor den Stürmen, die auf ihren Gipfeln sich sammelten. Alle Fähigkeiten des Herrn Verneuil waren in Bewunderung versenkt und er schwieg eine lange Zeit; endlich brach er in Ausrufungen aus, drehte sich um nach La Lüc und wollte ihn anreden, als er ihn in einiger Entfernung sich an eine ländliche Urne lehnen sah, über welcher in üppiger Fülle die weinende Weide hing.

So wie er sich ihm näherte, verließ La Lüc seine Stellung, und ging ihm entgegen; Herr Verneuil fragte, bey welchem Anlaß die Urne errichtet sey? La Lüc, unvermögend zu antworten, zeigte darauf hin, und ging schweigend fort, während Herr Verneuil darauf zuging, und folgende Inschrift las:

Dem

Gedächtniß von Clara La Lüc

hat auf der Stelle, die sie vorzüglich liebte,

diese Urne

zum Zeugniß seiner Liebe errichtet,

ihr Gatte.

Herr Verneuil begriff nun alles, und es that ihm weh, für das Gefühl seines Freundes; dieses Denkmahl seines Schmerzens bemerkt zu haben. Er ging wieder zu La Lüc, der auf der Spitze der Anhöhe stand, und die unten liegende Landschaft mit einer erheiterten Miene, rührend durch sanfte Frömmigkeit und Ergebung betrachtete, Er merkte, daß Herr Verneuil verlegen war, und suchte ihn zu beruhigen.

»Sie werden es als einen Beweiß meiner Achtung ansehn,« sagte er, »daß ich Sie hieher geführt habe. Dieser Ort ist nie durch die Gegenwart Unfühlender entweiht worden. Diese würden der Treue einer Anhänglichkeit spotten, die so lange ihren Gegenstand überlebt hat, und in ihrer eignen Brust sich schnell unter den Zerstreuungen der großen Welt würde verloren haben. Ich habe in meinem Herzen die Erinnerung eines Weibes bewahrt, dessen Treflichkeit alle meine Liebe fordert: ich habe sie bewahrt als einen Schatz, zu welchem ich von vergänglichen Sorgen und Bekümmernißen hinfliehen könnte, versichert milde, wenn auch schwermüthige Tröstung zu finden!«

La Lüc schwieg, Herr Verneuil äusserte die Theilnahme, die er empfand; allein er kannte die Heiligkeit des Kummers und verfiel bald wieder in Stillschweigen.

»Eine der glänzendsten Hoffnungen eines künftigen Zustandes,« fuhr La Lüc fort, »besteht darinn, diejenigen wieder zu finden, die wir auf Erden liebten. Und vielleicht wird ein großer Theil unsrer Seeligkeit, in der Gesellschaft unsrer Freunde bestehn, geläutert von den Gebrechen der Sterblichkeit, die feinern Gefühle süßer gestimmt, und die Fähigkeiten der Seele unendlich erhöhet, und erweitert. Wir werden dann fähig seyn, Gegenstände zu fassen, die dem menschlichen Verstande zu groß sind, zu fassen vielleicht die Erhabenheit des Wesens, das uns zuerst ins Daseyn rief. Diese Aussichten der Zukunft mein Freund, heben uns über die Leiden dieser Welt empor und scheinen uns einen Theil der Natur, die wir betrachten, mitzutheilen.

Nennen Sie sie nicht Träume eines schwämenden Gehirns,« fuhr er fort, »ich glaube an ihre Wahrheit; wenigstens bin ich davon gewiß, daß wir den Glauben daran um des Trostes willen, den er dem Herzen bringt, hegen und pflegen, und die Würde, die er der Seele mittheilt, ehren sollten. Solche Gefühle machen einen glücklichen und wichtigen Theil unsers Glaubens an künftiges Daseyn aus: sie geben der Tugend Kraft, und den Grundsätzen Festigkeit.« La Lüc fährt noch lange in diesem Tone fort; allein so schön und angenehm auch Schwärmerey mit Moral verbunden, in manchen Stimmungen seyn mögen, so glaubt doch die Übersetzerinn, daß die Leser sie in dieser Art von Romanen, nicht eigentlich erwarten werden, und hat sich demnach die Freyheit erlaubt, sowohl diesen Dialog abzukürzen, als mehrere ähnliche ganz wegzulassen, und überhaupt so viel es anging, die Folge der Geschichte etwas mehr zusammen zu drängen.

La Lüc und sein Gast wandelten in Gesprächen dieser Art fort, bis die Sonne die Gegend verlassen hatte. Die Berge, von der Dämmerung beschattet, gewannen ein erhabneres Ansehn, während die Gipfel der höchsten Alpen noch von den Sonnenstrahlen beleuchtet waren, und einen auffallenden Abstich gegen die trübe Dunkelheit der untern Welt bildeten. So wie sie die Wälder hinab gingen und am Rande des Sees fortschritten, goß die Stille und Feyerlichkeit der Stunde eine süße Schwermuth über ihre Seelen, und versenkte sie in Schweigen.

Herr Verneuil war etwa zwey und dreyßig Jahre alt; seine Figur war männlich, seine Gesichtsbildung offen und einnehmend. Ein schnelles, durchdringendes Auge, dessen Feuer durch Güte und Wohlwollen gemildert ward, enthüllte die Hauptzüge seines Charakters: er war schnell im Auffinden, aber großmüthig im Entschuldigen der Thorheiten des Menschengeschlechts; nicht leicht konnte man schärfer als er ein Unrecht fühlen, aber auch niemand nahm bereitwilliger das Nachgeben eines Feindes an.

Er war von Geburt ein Franzose. Ein ihm kürzlich zugefallnes Vermögen hatte ihn in Stand gesetzt, den Plan auszuführen, den sein thätiger, forschender Geist entwarf, die merkwürdigsten Länder von Europa zu besehn. Er besaß vorzügliche Empfänglichkeit für das Schöne und Erhabene in der Natur. Einem solchen Geschmack mußte die Schweiz, und die angrenzenden Länder, das Intereßanteste von allen seyn, und er fand, daß das Schauspiel, welches er hier genoß, bey weitem alles übertraf, was selbst seine glühende Einbildungskraft sich entworfen hatte: er sah mit dem Auge eines Mahlers, und fühlte mit dem Entzücken des Dichters.

In La Lücs Wohnung fand er die Gastfreyheit, Freymüthigkeit und das Einfache, welche dieses Land auszeichnen; in seinem ehrwürdigen Wirth sah er die Stärke der Philosophie mit der zartesten Menschheit vereint; eine Philosophie, die ihn lehrte, seine Gefühle zu veredeln, nicht aber sie zu vernichten: in Claren die Blühte der Schönheit mit der vollkommensten Einfalt des Herzens, und in Adelinen alle Reize der Feinheit und Anmuth, verbunden mit einem Genie, welches der höchsten Ausbildung werth war. Auch die Gutmüthigkeit und der stille Werth der Mademoiselle La Lüc durften in diesem Familiengemählde nicht unbemerkt oder vergessen bleiben.

Die Heiterkeit und Eintracht im ganzen Hause entzückte; allein die Philanthropie, die aus dem Herzen des Predigers strömend, sich durchs ganze Dorf verbreitete, und die Einwohner in süße und feste Bande gesellschaftlichen Vertrags vereinigte, war göttlich. Die schöne Lage des Orts traf mit alle diesem zusammen, um Leloncourt beynahe zum Paradiese zu machen. Herr Verneuil seufzte; es so bald verlassen zu müssen:

»Ich brauchte nicht weiter zu suchen,« sagte er: »denn hier wohnen Glück und Weisheit zusammen.«

Das Wohlgefallen war gegenseitig: La Lüc und seine Familie fanden so viel Vergnügen in Herrn Verneuils Gesellschaft, daß sie mit Schmerz auf die Zeit seiner Abreise hinsahn, und ihn bewegten, seinen Aufenthalt noch um einige Tage zu verlängern. Er hatte nunmehr den Gebrauch seines Arms wieder erlangt, und sie machten verschiedne kleine Lustreisen zwischen den Gebürgen, wobey Adeline und Clara, die durch ihrer Tante Sorgfalt vollkommen wieder hergestellt war, sie meistens begleiteten.

Nach Verlauf einer Woche nahm Herr Verneuil endlich Abschied von seinem liebreichen Wirth und seiner Familie: sie trennten sich mit gegenseitiger Bekümmerniß, und der erste versprach auf seiner Rückreise von Genf, wieder über Leloncourt zu gehen. Als er dieses sagte, sah Adeline, die seit einiger Zeit mit großer Unruhe La Lücs abnehmende Gesundheit bemerkt hatte, sein mattes Gesicht traurig an, und that ein stilles Gebeth, daß er leben möchte, um Herrn Verneuils Besuch zu empfangen.

Mademoiselle war die einzige, die seine Abreise nicht beklagte: sie sah, daß die Anstrengung, welche ihr Bruder sich auflegte, um seinen Gast zu unterhalten, seinem jetzigen Gesundheitszustande zu schwer ward, und freute sich, daß er wieder in Ruhe kommen würde.

Allein diese Ruhe brachte La Lüc keine Linderung seiner Unpäßlichkeit mit: die Ermüdung seiner letzten kleinen Reisen schien sie vermehrt zu haben, und sie gewann im kurzem den Anschein einer Auszehrung. Auf das Bitten seiner Familie ging er nach Genf, um die dortigen Ärzte zu Rathe zu ziehn, die ihm die Luft von Nizza zu versuchen, empfahlen.

Die Reise dahin war lang, und da er sein Leben auf allen Fall für mißlich hielt, stand er bey sich an, ob er sie unternehmen sollte. Auch war er ungeneigt, die Pflichten seiner Pfarre so lange zu versäumen; doch würden ihn alle diese Betrachtungen nicht abgehalten haben, hätte er auf das Clima von Nizza eben so viel Vertrauen gehabt, als seine Ärzte.

Seine Pfarrkinder fühlten, wie wichtig das Leben ihres guten Predigers für sie war: sie betrachteten es als eine gemeinschaftliche Angelegenheit, und gaben ein Zeugniß seines Werthes und ihres Gefühls desselben, dadurch, daß sie in Gesammtheit zu ihm gingen, und ihn bathen, sie zu verlassen. Dieser Beweiß ihrer Liebe rührte ihn tief, und war mit den Bitten der Seinigen und der Betrachtung, daß es Pflicht gegen sie alle sey, sein Leben zu verlängern, zu mächtig, um zu widerstehn; er beschloß also sich nach diesem Orte aufzumachen.

Es wurde bestimmt, daß Clara und Adeline, für deren Gesundheit La Lüc eine Veränderung des Orts und der Scene sehr zuträglich glaubte, nebst dem treuen Peter ihn begleiten sollten.

 

Am Morgen seiner Abreise versammelte sich eine Menge seiner Pfarrkinder, um ihm Lebewohl zu sagen. Es war eine rührende Scene! Sie begleiteten ihn, nachdem er nebst Clara und Adelinen von seiner Schwester Abschied genommen hatte, noch eine große Strecke weit aus dem Dorfe. So wie er langsam fortritt, warf er einen letzten, zögernden Blick auf seine kleine Heimath, wo er so viele friedliche Jahre verlebt hatte, und die er jetzt vielleicht zum letzten Mahl ansah. Thränen stiegen ihm in die Augen, allein er verhielt sie.

Jeder Gegenstand, an dem er vorbey kam, regte eine zärtliche Erinnerung in ihm auf. Er sah nach dem Orte hin, der dem Gedächtniß seines geliebten Weibes gewidmet war: die thauigten Morgendünste hüllten ihn ein, und La Lüc fühlte einen Schmerz, ihn nicht noch einmahl sehn zu können, den nur diejenigen rechtfertigen werden, welche aus Erfahrung wissen, wie innig die Einbildungskraft an einem Gegenstande hängt, der mit dem Gegenstand unsrer Zärtlichkeit, wenn auch noch so entfernt, verbunden ist. In solchen Fällen ertheilt die Fantasie den Illusionen schwärmender Liebe den Stempel der Wirklichkeit, und sie sind dem sehnenden Herzen unaussprechlich theuer.

La Lüc und seine kleine Gesellschaft reisten in gemächlichen Tagereisen fort; und nachdem sie einige Tage zwischen den romantischen Gebürgen und ländlichen Ebnen von Piemont hingeritten waren, kamen sie in die reiche Landschaft Nizza.

Die fröhlichen, üppigen Aussichten, die sich jetzt ihrem Blicke öffneten, wie sie sich zwischen den Hügeln hinwanden, glichen den Scenen feenmässiger Bezauberung, oder denjenigen, welche die einsame Träumerey der Dichter schafft. Während die gewundenen Gipfel der Berge die beschneite Strenge des Winters zeigten, beschatteten die Fichte, Cypresse, Olive und Myrthe ihre Seiten mit den grünen Farben des Frühlings, und Wäldchen von Orangen, Limonen- und Citronenbäumen verbreiteten über ihren Fuß den vollen Glanz des späten Sommers.

Immer wurde die Gegend abwechselnder, und endlich haschte Adeline einen Schimmer des fernen Gewässers der Mittelländischen See, der schwach im blauen wolkenlosen Horizont erlosch. Sie hatte noch nie den Ocean gesehn, und dieser schnelle Anblick erweckte ihre Einbildungskraft und erfüllte sie mit ungeduldigem Verlangen nach einer nähern Aussicht.

Der Tag neigte sich, als die Reisenden, die sich um ein steiles Vorgebürge der Alpenreihe wanden, welche das Amphitheater von Nizza krönt, auf die grünen Anhöhen, die sich bis zu den Ufern erstrecken, auf die Stadt und ihre alte Festung und auf das weite Gewässer des Mittelländischen Meeres, mit den Corsischen Gebürgen in weiter Ferne, herabsahn.

Ein solcher Strich von See und Land, so abwechselnd vom Lebhaften, Prächtigen und Erhabnen würde jedes Auge zur Bewunderung gefesselt haben. Bey Adelinen und Clara erhöhten Neuheit und Enthusiasmus die Reize des Anblicks. Die milde, wohlthätige Luft schien La Lüc in dieser lächelnden Region zu bewillkommnen, und die heitre Atmosphäre unveränderlichen Sommer zu versprechen.

Endlich kamen sie auf die kleine Ebene herab, wo Nizza erbaut ist, die weiteste Fläche ebner Erde, durch welche sie seit ihrem Eintritt in diese Grafschaft gekommen waren. Hier, im Busen der Gebürge, vor dem Nord- und Ostwinde geschützt, wo nur der Hauch des Wests zu athmen schien, waren alle Blühten des Frühlings und Reichthümer des Herbstes vereinigt. Myrthen-Bäume faßten die Straße ein, die sich zwischen Orangen, Citronen- und Bergamotten-Wäldern hinwand, deren köstliche Wohlgerüche sich in den Duft der Rosen und Nelken mischten, die in ihrem Schatten blühten.

Die sanft schwellenden Hügel, welche aus dem Thale aufstiegen, waren mit Weinstöcken bedeckt, oder mit Cypressen-, Oliven- und Dattel-Bäumen gekrönt; jenseits erschienen die Wipfel der hohen Berge, die sie herabgekommen waren, an welchen der kleine Fluß Paglion hinfließt, und vom Schnee, der ihre Höhen herabrinnt, angeschwollen, durch das Thal sich schlängelt, bis er die Mauern von Nizza spült und in die See fällt.

Die Stadt verlor bey näherm Anblick vieles von ihrer Bezauberung: die engen Straßen und schlechten Häuser entsprachen der Erwartung nicht, welche die ferne Aussicht ihrer Wälle, ihres bunt mit Schiffen geschmückten Hafens zu berechtigen schien. Auch das Ansehn des Wirthshauses, wo La Lüc abstieg, trug nicht bey, seine getäuschte Erwartung zu mildern; es befremdete ihn, so schlechte Bequemlichkeit im Gasthofe einer Stadt zu finden, die als Zuflucht Genesender berühmt ist, und seine Verwunderung stieg, als er hörte, wie schwer es sey, meublirte Zimmer zur Miethe zu bekommen.

Nach langem Suchen verschaffte er sich eine Wohnung, in einem kleinen, aber angenehmen Hause, das eine kleine Strecke ausserhalb der Stadt lag; es hatte einen Garten und eine Terrasse, von welcher man die See übersah, und zeichnete sich durch eine gewisse Reinlichkeit aus, die in den Häusern von Nizza ungewöhnlich schien. Er bedang sich der Kost bey der Familie, die noch einen Herrn und Dame am Tische hatte, und war nunmehr fürs erste ein Einwohner dieses reizenden Climas.

La Lüc traf oftmahls auf seinen Spaziergängen angenehme Gesellschafter an, die gleich ihm, um Gesundheit zu suchen, nach Nizza gekommen waren. Er bildete sich bald aus ihnen einen kleinen, auserlesnen Zirkel, in welchem sich ein Franzose einfand, dessen sanfte Sitten, mit einer tiefen, anziehenden Schwermuth geprägt, La Lüc vorzüglich interessirten. Er sprach selten von sich selbst, und hüthete sich, irgend eines Umstandes zu erwähnen, der zur Kenntniß seiner Familie führen konnte; über andre Gegenstände aber sprach er mit Offenheit und Einsicht. La Lüc hatte ihn oftmahls in seine Wohnung geladen, allein er schlug immer die Einladung aus, und zwar auf eine so sanfte Art, daß er das Mißvergnügen entwaffnete, und La Lüc überzeugte, daß seine Weigerung nur die Folge einer gewissen Niedergeschlagenheit des Gemüths sey, die ihn von allem Umgang mit andern Fremden abgeneigt machte.

La Lücs Beschreibung von diesem Fremden hatte Claras Neugier, und die Sympathie, welche die Unglücklichen für einander fühlen – denn Adeline zweifelte nicht, daß er unglücklich sey – Adelinens Mitleid rege gemacht. Bey ihrer Zurückkunft von einem Abendspaziergang, zeigte La Lüc ihnen den Fremden, der still vor sich hin ging, und beschleunigte seinen Schritt, um ihn einzuhohlen. Adeline fühlte anfangs einen Trieb, ihm zu folgen; allein Delikatesse hielt ihre Schritte zurück; sie wußte, wie peinlich die Gegenwart eines Fremden oft dem verwundeten Herzen ist, und enthielt sich, um der bloßen Befriedigung einer eitlen Neugierde willen, sich ihm aufzudringen.

Sie schlug einen andern Weg ein; aber der Zufall vereitelte die zarte Schonung, die ihr Zusammentreffen verhindern sollte und La Lüc stellte den Fremden vor. Adeline empfing ihn mit einem holden Lächeln, suchte aber den Ausdruck von Mitleid zu unterdrücken, den unwillkührlich ihre Züge angenommen hatten: sie wünschte nicht von ihm bemerkt zu seyn, daß sie ihn für unglücklich hielt.

Er sah sie an, und schien von ihrem Anblick betroffen. Eine schnelle Röthe überzog sein Gesicht, doch faßte er sich sogleich, und beantwortete ihre Bewillkommung aufs verbindlichste. Von diesem Augenblick an schlug er La Lücs Einladungen nicht länger aus; er kam oft, und begleitete Adelinen und Clara auf ihren Spaziergängen. Die sanfte, geistvolle Unterhaltung der erstern schien seinem Herzen wohl zu thun, und er sprach in ihrer Gesellschaft oft mit einer Lebhaftigkeit, die La Lüc noch nie an ihm bemerkt hatte.

Auch Adeline fand in der Ähnlichkeit ihres Geschmacks, und in seinem aufgeklärten Gespräch eine Befriedigung, die mit dem Mitleid welches seine Niedergeschlagenheit ihr einflößte, zusammenwirkte, ihm ihr Vertrauen zu gewinnen, und sie sprach mit einer ungezwungnen Offenheit, die ihrer jetzigen Gemüthsstimmung ungewöhnlich war, mit ihm.

Seine Besuche wurden immer häufiger. Er ging mit La Lüc und seiner Familie aus; er begleitete sie auf ihren kleinen Wanderungen, um die prächtigen Überreste des Römischen Alterthums zu besehn, die Nizzas Gegend schmücken. Wenn die Frauenzimmer bey der Arbeit zu Hause saßen, erheiterte er ihre Stunden durch Vorlesen, und sie hatten das Vergnügen, ihn oft merklich erleichtert von seiner schweren Melancholie zu sehn.

Herr Amand war leidenschaftlich für Musik eingenommen. Clara hatte nicht vergessen, ihre geliebte Laute mitzubringen, oft berührte er die Saiten in den süßesten klagendsten Fantasien; nie aber ließ er sich bewegen ordentlich zu spielen. Wenn aber Clara oder Adeline spielten, saß er in tiefer Träumerey und verloren für alles andre, nur heftete er oft seine Augen in wehmüthigem Anstaunen auf Adelinen, und ein Seufzer entschlüpfte ihm.

La Lüc hatte jetzt beynahe vierzehn Tage in Nizza zugebracht, und seine Gesundheit, statt sich zu bessern, schien vielmehr abzunehmen, doch wünschte er, das Clima noch etwas länger zu versuchen. Die Luft, welche ihre Heilkraft bey Adelinens ehrwürdigem Freunde verfehlte, belebte diese, und die Mannigfaltigkeit und Neuheit der Gegenstände um sie her, unterhielt ihren Geist, wiewohl sie weder das Andenken des Vergangenen austilgen, noch die Qualen der ihr immer gegenwärtigen Sehnsucht unterdrücken, und folglich das kranke Schmachten der Schwermuth nicht zerstreuen konnten.

Gesellschaft, die sie zwang, ihre Aufmerksamkeit von dem Gegenstande ihres Trauerns abzuziehn, gewährte ihr nur eine vorübergehende Linderung, und meistens ließ die Spannung, worin sie sich setzte, nur noch tiefere Ermattung zurück. In der Stille der Einsamkeit, in der ruhigen Beobachtung der Natur, erhielt ihre Seele ihren Ton wieder, und fand im Nachhängen des stillen Tiefsinns, der ihr zur Gewohnheit geworden war, Linderung und Stärkung.

Von allen großen Gegenständen, welche die Natur hier zur Schau gelegt hatte, flößte keiner ihr höhere Bewundrung ein, als der weite Ozean. Sie mochte gern einsam an seinem Ufer wandeln, und wenn sie sich so lange von den Pflichten oder Formen der Gesellschaft fortschleichen konnte, saß sie oft zu ganzen Stunden am Ufer, beobachtete die rollenden Wellen, und horchte ihrem ersterbenden Gemurmel zu, bis ihre gesänftigte Fantasie ihr lange verfloßne Scenen zurückrief, und ihr Theodors Bild herstellte; – Thränen tiefen Jammers verdrängten dann nur zu oft die des sanftern Mitleids und der Sehnsucht. Doch erregten diese Traumgesichter, so schmerzlich sie auch waren, nicht mehr den Wahnsinn des Schmerzes in ihr, als vormahls in Savoyen: die Schärfe des Jammers war gestumpft, wiewohl sein schwerer Druck vielleicht nicht minder stark war. Auf diese einsame Trauer folgte meistens Ruhe, und was Adeline für Ergebung zu halten, sich bemühte.


Mehrere Tage waren verstrichen, ohne daß Herr Amand sich sehn ließ. Endlich traf ihn Adeline auf einem ihrer einsamen Spaziergänge am Ufer. Er war blaß und niedergedrückt, und schien sehr bewegt, als er sie zu Gesichte bekam, sie suchte ihn zu vermeiden, da sie dieses bemerkte, aber er ging mit schnellen Schritten auf sie zu, und sagte, daß er in wenig Tagen Nizza verlassen würde.

»Ich habe keinen Nutzen von dem Klima verspürt,« sagte er; »ach! welche Himmelsgegend kann wohl Krankheit des Herzens lindern! Ich gehe, um in der Abwechslung neuer Scene das Angedenken verschwundnen Glücks zu verlieren, aber vergebens. Wo ich auch sey, bin ich rastlos und elend!«

Adeline suchte ihm Hoffnung einzusprechen, daß Zeit und Ort seinen Kummer lindern würde.

»Die Zeit stumpft das schärfste Schneiden des Schmerzes,« sagte sie, »ich weiß es aus der Erfahrung.«

Doch widersprachen Thränen in ihren Augen, der Wahrheit ihrer Lippen.

»Sie waren also auch unglücklich, Adeline! – Doch ich wußte es vom Anfang an. Das Lächeln des Mitleids, das Sie mir schenkten, sagte mir, daß Sie wüßten, was Leiden ist! – Sie heißen mich von der Zeit hoffen,« fuhr er nach einem kurzen Stillschweigen fort – »o so wissen Sie denn, daß ich mein Alles, mein Liebstes – ein angebetetes Weib verlor. Viele Monden sind seit ihrem Tode verstrichen, und doch scheint es mir erst seit gestern zu seyn. – Verzeihen Sie mir Adeline, daß ich mein Elend Ihnen aufdringe – aber lebhafter steigt ihr Bild in mir auf, wenn ich Sie sehe, Ihre Stimme höre – Ach, diese Thränen aus Ihren Augen – aber noch einmahl vergeben Sie!«

Adeline wandte sich ab, um sie zu trocknen. Herr Amand zwang sich von etwas anderm zu reden, aber seine Stimme erlag unter der Anstrengung. Schweigend gingen sie nach dem Hause zu, La Lüc war ausgegangen, und Herr Amand wagte nicht, mit herein zu kommen, Adeline begab sich auf ihr Zimmer, niedergedrückt von ihrem eignen, und dem Leiden ihres liebenswürdigen Freundes.

Beynahe drey Wochen waren nunmehr zu Nizza verstrichen, und da La Lüc noch immer keine Lindrung, sondern vielmehr das Gegentheil verspürte, war der Arzt so redlich, ihm zu gestehn, daß er wenig vom Clima hoffte, und rieth ihm, den Erfolg einer Seereise zu versuchen; und wenn auch dieses fehlschlüge, so würde vielleicht die Luft von Montpellier ihm zuträglicher seyn, als die von Nizza.

La Lüc hörte diesen uneigennützigen Rath zwar mit Dankbarkeit, aber zugleich mit Kränkung an. Die Umstände, welche ihn abgeneigt gemacht hatten, Savoyen zu verlassen, machten ihn noch ungeneigter, seine Abwesenheit zu verlängern, und seine Ausgaben zu vermehren: allein die Bande der Zärtlichkeit, die ihn an die Seinigen knüpften, und die Liebe zum Leben, die so selten uns verläßt, siegten noch einmahl über minder wichtige Betrachtungen, und er entschloß sich, die See hinab bis Languedoc zu schiffen, wo er, im Fall die Fahrt seinen Erwartungen nicht entspräche, ans Land steigen und bis Montpellier gehn wollte.

Als Herr Amand hörte, daß La Lüc in wenig Tagen Nizza zu verlassen dachte, beschloß er, nicht vor ihm fortzugehn. Er besaß noch nicht Selbstbeherrschung genug, um sich in dieser Zwischenzeit Adelinens öftere Unterhaltung zu versagen, wiewohl ihre Gegenwart, die ihn an seine verlorne Gattinn erinnerte, ihm mehr Schmerz als Trost gab.

Er war der zweyte Sohn eines französischen Edelmanns und ohngefähr ein Jahr lang mit einem Weibe verheyrathet gewesen, das er lange zärtlich geliebt hatte, als sie im Kindbette starb. Das Kind folgte bald der Mutter nach, und überließ den trostlosen Vater dem Schmerz, der so heftig an seiner Gesundheit nagte, daß sein Arzt es für nothwendig hielt, ihn nach Nizza zu schicken.

Allein die dortige Luft hatte ihm wenig Nutzen gebracht, und er beschloß, weiter in Italien zu gehn » to travel further into Italy«: weiter nach Italien zu reisen. ( D. Hrsg.), wiewohl er nicht mehr das warme Interesse für diese reizenden Gegenden empfand, die in glücklichern Tagen, und mit ihr, die er nie zu bejammern aufhörte, ihm den höchsten Seelengenuß würden verschafft haben. Jetzt suchte er nur sich selbst zu entfliehn, oder vielmehr dem Bilde, welches einst sein höchstes Glück ausmachte.

Nachdem La Lüc seine Einrichtung getroffen hatte, miethete er ein kleines Schiff, und sagte in wenig Tagen, mit der schwachen Hoffnung auf einem neuen Elemente die Gesundheit zu finden, die bisher seines Nachjagens gespottet hatte, den Ufern von Italien, und den gethürmten Alpen Lebewohl.

Herr Amand nahm einen traurigen Abschied von seinen neuen Freunden, die er bis ans Ufer begleitete. Als er Adelinen an Bord half, war sein Herz zu voll, um ihr Lebewohl sagen zu können; aber lange stand er am Ufer, verfolgte mit den Augen ihren Lauf übers Wasser, und winkte mit der Hand, bis Thränen sein Gesicht verdunkelten.

Der Wind wehte sanft das Schiff von der Küste, und Adeline sah sich von den kräuselnden Wellen des Ozeans umgeben. Das Ufer schien zurück zu weichen, die Berge sich zu verkleinern, die fröhlichen Farben der Landschaft in einander zu schmelzen, und in kurzen sah man Herrn Amands Gestalt nicht mehr: die Stadt Nizza mit ihrem Schloß und Hafen schwand zunächst in der Ferne und die Purpurfarbe der Berge war endlich alles, was vom Saume des Horizonts übrig blieb.

Sie seufzte, und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

»So verschwand meine Aussicht auf Glück,« sagte sie, »und meine Zukunft gleicht der Wüste des Wassers, das mich umgibt.«

Ihr Herz war voll, und sie zog sich zurück in einen Winkel des Verdecks, wo sie ihren Thränen nachhing, so wie sie das Schiff seinen Weg durch das flüssige Glas schneiden sah. Das Wasser war so durchsichtig, daß sie bis zu einer beträchtlichen Tiefe die Sonnenstrahlen spielen, und Fische von mannigfaltigen Farben durch den Strom schimmern sehn konnte. Unzählige Seepflanzen breiteten ihre starken Blätter unten auf dem Felsen aus, und das reiche Grün bildete einen schönen Contrast mit dem glühenden Scharlach der Corallen, die sich neben ihnen reihten.

Endlich verschwand auch die ferne Küste gänzlich. Adeline staunte mit der erhabensten Empfindung Die Erfahrung der Erhabenheit des Ozeans, die in ein Gefühl des Schreckens mündet, ergänzt sozusagen die Ästhetik der »gotischen Landschaft« (siehe Anm. 8) um das Element des Wassers. ( D. Hrsg.) die grenzenlose Fläche von Wasser an, die sich von allen Seiten ausbreitete: sie schien gleichsam in eine neue Welt getrieben: die Größe und Unermeßlichkeit der Aussicht überwältigte und betäubte sie; einen Augenblick zweifelte sie an der Wahrheit des Compaß, und hielt es beynahe für unmöglich, daß das Schiff seinen Weg durch die pfadlosen Gewässer hin zu einem Ufer finden könnte. Und wenn sie dann wieder dachte, daß nur ein Brett sie vom Tode trennte, verdrängte ein Gefühl unvermischten Schreckens das der Erhabenheit, und eilends wandte sie ihre Augen von der Aussicht, und ihre Gedanken von dem Gegenstande ab.



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