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Fünftes Kapitel.

Die Nacht verstrich ohne alle Störung. Peter war auf seinen Posten geblieben und hörte nichts, was seinen Schlaf verhinderte. La Motte hörte ihn lange vorher, ehe er ihn sah, wohllautend schnarchen, wiewohl nicht zu läugnen war, daß mehr vom Baß, als von einem anderen Theil der Scala der herrschende Ton seiner Musik war. Er wurde bald durch ein Bravo von La Motten erweckt, dessen Stimme Misklang in seine Ohren tönte, und die Betäubung seiner Ruhe zernichtete.

»Gott sey bey uns, gnädiger Herr! was gibts?« rief Peter erwachend. »Sind sie gekommen?«

»Ja, dir unbeschadet hätten sie es immer gekonnt. Was zum Teufel stellte ich dich hieher, um zu schlafen?«

»Mit Vergunst, gnädiger Herr, Schlaf ist noch das Beste, was man hier haben kann; ich wollte ihn an einem solchen Orte gewiß keinem Hunde verwehren.«

La Motte befragte ihn scharf, ob er in der Nacht nichts gehört hätte? und Peter verneinte es auf das kräftigste: eine Aussage nach der strengen Wahrheit, denn er hatte die ganze Zeit in tiefem Schlafe gelegen.

La Motte stieg bis zur Fallthüre hinauf und lauschte aufmerksam. Man hörte keinen Laut, und als er es wagte, sie aufzuheben, schien ihm das helle Sonnenlicht in das Gesicht. Er schlich leise durch die Zimmer und sah durch das Fenster; niemand war zu erblicken. Aufgemuntert durch diese anscheinende Sicherheit, wagte er sich die Treppe des Thurms herunter und, ging in das erste Zimmer. Er wollte nach dem zweyten gehen, als er sich plötzlich besann, und erst durch die Ritze der halb offnen Thüre blickte. Er sah deutlich einen Menschen, der, den Kopf auf den Arm gestützt, am Fenster saß.

Diese Entdeckung machte ihn so betroffen, daß er auf einen Augenblick alle Gegenwart des Geistes verlor, und durchaus unfähig war, sich von der Stelle zu rühren. Der Mensch, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, drehte sich um. La Motte faßte sich, verließ das Zimmer so schnell und leise als möglich, und stieg nach dem Kabinet hinauf: er öffnete die Fallthüre, allein indem er sie zumachte, hörte er die Schritte eines Menschen, der in das äußere Zimmer trat. Die Thüre hatte weder Riegel noch andere Befestigungen und seine Rettung hing einzig von ihrem genauen Einpassen in die Fugen ab. Die äußere Thüre des Steinzimmers konnte gar nicht, und die innere nur von der äußern Seite verschlossen werden.

Sobald er dieß Zimmer erreicht hatte, stand er still und horchte aufmerksam – er hörte Fußtritte oben im Kabinet – eine Stimme rief ihn beym Nahmen, und er floh schnell in die untern Zellen, in augenblicklicher Erwartung die Fallthüre aufgehoben und sich erhascht zu sehen – er war nun so weit geflohen, daß er nichts mehr hören konnte. Er warf sich am äußersten Ende der Gewölbe auf die Erde, und lag lange athemlos vor Angst.

Frau von La Motte und Adeline fragten in äußerster Bestürzung, was geschehen sey? Es dauerte lange, ehe er die Sprache wieder erhielt, und als es geschah, war es beynahe überflüßig: denn das ferne Geräusch, was von oben tönte, verrieth ihnen einen Theil der Wahrheit.

Die Töne schienen nicht näher zu kommen, allein Frau von La Motte, unvermögend, ihrem Schrecken zu gebiethen, schrie laut: dieses verdoppelte La Mottens Verzweiflung.

»Sie haben mich zu Grunde gerichtet, dieser Schrey hat verrathen, wo ich bin.«

Mit gerungenen Händen, und schnellen Schritten lief er die Zelle auf und ab. Adeline stand bleich und stumm wie der Tod, und hielt Frau von La Motte, die einer Ohnmacht nahe war.

»O Düpras, Düpras, du bist schon gerecht!« rief er in einem Tone, der aus dem Herzen zu dringen schien. »Aber warum,« sagte er nach einigen Augenblicken des Schweigens, »warum soll ich mich noch mit der Hoffnung auf Entfliehen täuschen? Warum warte ich sie hier ab? Lieber laßt mich diese peinigende Qual endigen und mich ihnen auf einmahl in die Hände werfen.«

Er ging auf die Thüre zu, aber seine Frau hielt ihn zurück.

»Bleiben Sie,« rief sie in Todesangst, »um meinetwillen bleiben Sie. Verlassen Sie mich doch nicht so, und stürzen sich nicht muthwillig in das Verderben.«

»Gewiß,« sagte Adeline, »Sie sind zu übereilt: diese Verzweiflung ist eben so fruchtlos als ungerecht. Wir hören niemand kommen, wenn die Leute die Fallthüre entdeckt hätten, würden sie längst hier seyn.«

Adelinens Worte stillten den Aufruhr in seinem Innern; seine Angst ließ nach, und Vernunft zündete der Hoffnung einen schwachen Strahl an. Er lauschte nochmahls, und da er alles still fand, ging er behutsam nach dem Steinzimmer und von da bis an die Treppe zur Fallthüre. Sie war zu, kein Laut ließ sich oben hören.

Er wartete lange; die Stille dauerte fort; er fing endlich wieder an zu hoffen, und fand es wahrscheinlich, daß die Gerichtsdiener die Abtey verlassen hätten: doch wurde der Tag in ängstlicher Wachsamkeit hingebracht. Er getraute sich nicht die Fallthüre aufzuheben und glaubte oft fernes Geräusch zu hören. Indessen schien so viel gewiß, daß das Geheimniß mit dem Kabinet nicht entdeckt war, und auf diesem Umstand baute er mit Recht seine Sicherheit.

Die folgende Nacht verstrich gleich dem Tage in zitternder Hoffnung und unablässigen Wachen. Allein die Bedürfnisse des Hungers drohten ihnen jetzt. Der Vorrath, der mit der schärfsten Ökonomie ausgetheilt worden war, war beynahe verzehrt und sie mußten die traurigsten Folgen erwarten, wenn sie sich noch länger in dieser Einsamkeit verborgen hielten. Unter solchen Umständen überlegte La Motte, wie sie am klügsten verfahren sollten. Es schien kein anderer Ausweg, als Petern nach Auboine zu schicken, die einzige Stadt, von wo er in der für ihre Noth erforderlichen Zeit zurückkommen konnte. Zwar war Wildpret genug im Walde, allein Peter konnte weder mit Schiessen noch Angeln umgehen.

Es wurde demnach ausgemacht daß er nach Auboine gehen sollte, um Proviant zu hohlen und zugleich Werkzeug zum Ausbessern des Kutschrades mitzubringen, damit sie einen Wagen bereit hätten, sie aus dem Walde zu schaffen. La Motte verboth Petern, sich auf irgend eine Art nach den Leuten, die nach ihm gefragt hatten, zu erkundigen, oder herausbringen zu wollen, ob sie die Gegend verlassen hätten, damit seine Dummheit ihn nicht wieder verriethe. Er schärfte ihm ein, gänzliches Stillschweigen über alle diese Dinge zu beobachten, seine Sache auszurichten und den Ort mit aller möglichen Eile zu verlassen.

Indessen war noch eines zu bedenken: wer sollte sich zuerst in die Abtey wagen, um zu sehen, ob die Gerichtsdiener sie verlassen hätten? La Motte erwog, daß er durchaus verrathen werden müßte, wenn er sich noch einmahl sehen ließe, welches nicht so ausgemacht war, wenn einer von den andern gesehen ward: doch war es nothwendig, daß die abgeschickte Person Muth genug hätte, Fragen auszuhalten, und Klugheit genug, um sie vorsichtig zu beantworten. Peter hatte vielleicht das erste, am andern aber fehlte es ihm gänzlich. Annette besaß keines von beyden.

La Motte sah seine Frau an, und fragte sie, ob sie für ihn sich zu wagen getraute? Ihr Herz erbebte vor dem Antrage, doch mochte sie ihn nicht ablehnen oder gleichgültig bey etwas scheinen, das zur Sicherheit ihres Mannes so nothwendig war. Adeline las in ihrem Gesichte die Erschütterung ihres Innern, sie überwand die Furcht, die sie bisher stillschweigend hielt und erboth sich zu gehen.

»Sie werden mir nicht so leicht etwas zufügen; als einem Manne,« sagte sie. Schaam ließ La Motten nicht zu, ihr Erbiethen anzunehmen, und Madame, durch ihre Großmuth gerührt, fühlte auf einen Augenblick alle ihre vorige Neigung für sie wieder aufleben. Adeline drang mit so vieler Wärme und schien so ernstlich entschlossen, daß La Motte wankte.

»Sie retteten mich einst von der augenscheinlichsten Gefahr,« sagte sie, »und Ihre Güte hat mich seitdem geschützt. Verweigern Sie mir nicht die Freude, Ihre Güte durch dankbare Erwiederung zu verdienen. Lassen Sie mich in die Abtey gehen, und wenn ich dadurch ein Übel von Ihnen abwende, so werde ich reichlich für die kleine Gefahr, der ich mich aussehe, belohnt seyn.«

Frau von La Motte konnte bey Adelinens Worten sich kaum der Thränen enthalten, und La Motte sagte mit einem tiefen Seufzer:

»So sey es denn, Adeline, und von diesem Augenblick an betrachten Sie mich als Ihren Schuldner.«

Sie nahm sich nicht die Zeit, ihm zu antworten, sondern ergriff ein Licht und verließ eilends die Zellen. La Motte folgte ihr, um die Fallthüre aufzuheben, und sie nochmahls zur Behutsamkeit anzumahnen.

»Gott geleite Sie,« sagte er, »ich kann es nicht; und Ihre eigene Geistesgegenwart möge Ihnen helfen.«

Als sie fort war, machte nach und nach Frau von La Mottens Bewunderung ihrer Geistesgegenwart, andern Betrachtungen Platz. Mißtrauen untergrub ihr Wohlwollen und Eifersucht stieg mit neuem Verdacht auf.

»Es mußte wohl ein mächtigers Gefühl als bloße Dankbarkeit seyn,« dachte sie, »das Adelinens Furcht überwinden konnte! Was anders als Liebe konnte ihr ein so großmüthiges Betragen einflößen?«

Frau von La Motte vergaß, als sie es unmöglich fand, Adelinens Betragen anders als durch Eigennutz zu erklären, wie sehr sie einst die Feinheit und edle Gesinnung ihrer jungen Freundinn bewundert hatte.

Adeline stieg indessen zu den Zimmern hinauf: der freudige Strahl der Sonne schien wieder auf ihr Gesicht und belebte ihren Muth: sie ging mit leichtem Schritte durch die Zimmer und hielt nicht eher an, bis sie die Treppen des Thurms erreichte. Hier stand sie eine Weile still; hörte aber keinen Laut außer dem Pfeiffen des Windes zwischen den Bäumen, und ging endlich hinunter. Sie ging durch die untern Zimmer ohne einen Menschen zu sehen, und die wenigen Möbeln, die darin zurückgelassen waren, standen gerade so wie vorher.

Sie wagte es jetzt, aus dem Thurm heraus zu sehen: die einzigen lebendigen Geschöpfe, die sie erblickte, waren die Rehe, die ruhig unter dem Schatten der Wälder grasten. Ihr kleines Lieblingsreh erkannte sie, und hüpfte freudig auf sie zu: sie fürchtete, daß das Thierchen, wenn es bemerkt würde, sie verrathen möchte, und ging schnell durch die Kreuzgänge zurück.

Sie öffnete die Thüre, die in die große Halle der Abtey führte, allein der Weg war so finster und öde, daß sie ihn zu betreten fürchtete, und zurückfuhr. Doch war es nothwendig, weiter zu suchen, besonders auf der andern Seite der Ruinen, die sie bis jetzt noch nicht besichtigt hatte: allein ihre Furcht kehrte zurück, wenn sie bedachte, wie weit dieses sie von ihrem einzigen Zufluchtsorte abführen, und wie schwer es seyn würde, sich im Falle einer Entdeckung zurückzuziehen. Sie war unschlüssig, was sie thun sollte, als sie aber alle ihre Verbindlichkeiten gegen La Motte erwog, und daß dieß vielleicht die einzige Gelegenheit war, ihm einen Dienst zu leisten, beschloß sie, weiter zu gehen.

So wie diese Gedanken schnell durch ihre Seele flogen, hub sie ihre unschuldigen Blicke zum Himmel auf und athmete ein leises Gebeth. Mit bebenden Schritten ging sie über die verfallenen Ruinen, sah sich ängstlich um, und fuhr oft zusammen, wenn der Wind durch die Bäume rauschte, und sie ihn für Menschenstimmen hielt. Sie kam zu dem grünen Platz vor dem Hause, niemand ließ sich sehen, und ihr Muth lebte wieder auf.

Sie versuchte jetzt, die Thüre der großen Halle zu öffnen; da sie sich aber plötzlich besann, daß sie auf La Mottens Befehl befestigt war, ging sie nach dem nördlichen Ende der Abtey, und nachdem sie, so weit das dicke Laub der Bäume es zuließ, sich ringsum gesehen und niemand erblickt hatte, lenkte sie ihre Schritte wieder nach dem Thurm, aus dem sie gekommen war.

Ihr Herz war nun leicht und sie kehrte mit Ungeduld zurück, um La Motten von seiner Sicherheit zu benachrichtigen. In den Kreuzgängen begegnete sie ihrem kleinen Liebling wieder, und blieb einen Augenblick stehen, um ihm zu liebkosen. Das Thierchen schien sich bey dem Ton ihrer Stimme zu freuen und sprang an ihr auf; plötzlich aber fuhr es von ihrer Hand zurück, und als sie aufsah, fand sie die Thüre des Gangs, der zu der großen Halle führte, offen, und ein junger Mann in Uniform trat hervor.

Mit Pfeilschnelligkeit flog sie die Kreuzgänge hinunter und wagte nicht einmahl sich umzusehen; eine Stimme aber rief ihr zu und sie hörte schnell hinter sich her laufen. Ehe sie den Thurm erreichen konnte, ging ihr der Athem aus und sie lehnte sich bleich und erschöpft an einem Pfeiler. Der Fremde kam auf sie zu, sah sie mit Verwunderung und Neugier an, und versicherte sie mit sanfter Stimme, daß sie nichts zu fürchten hätte, und ihm nur sagen möchte, ob sie zu La Motte gehörte: da er sah, daß sie noch immer stumm und erschrocken blieb: wiederhohlte er seine Versicherung und Frage.

»Ich weiß, daß er in diesen Ruinen verborgen ist,« sagte er, »so wie ich auch die Ursache seiner Verbergung weiß; allein ich muß ihn durchaus sehen, und er wird dann überzeugt werden, daß er nichts von mir zu fürchten hat.«

Adeline zitterte so heftig, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte: sie stockte, und wußte nichts zu antworten. Ihr Benehmen schien den Argwohn des Fremden zu bestärken und dieß Bewußtseyn vermehrte nur ihre Verlegenheit: er benutzte sie, um weiter in sie zu dringen. Adeline antwortete endlich, daß La Motte einige Zeit in der Abtey gewohnt hätte.

»Und er wohnt noch darin,« sagte der Fremde, »führen Sie mich zu ihm: ich muß ihn sehen, und« –

»Nimmermehr,« erwiederte Adeline, »und ich betheure Ihnen heilig, daß es vergebens seyn wird, ihn zu suchen.«

»Das muß ich denn sehen, da Sie, Madame, mir nicht behülflich seyn wollen. Ich bin ihm bereits durch einige Zimmer oben gefolgt, wo ich ihn plötzlich verlor; dort herum muß er also verborgen seyn, und es ist offenbar, daß sie einen geheimen Gang enthalten.«

Ohne Adelinens Antwort abzuwarten, sprang er nach der Thüre des Thurms. Sie glaubte nunmehr, es würde ein Bewußtseyn der Wahrheit seiner Vermuthung verrathen, wenn sie ihm folgte, und beschloß unten zu bleiben. Bald aber fiel ihr ein, daß er sich vielleicht leise in das Kabinet schleichen und La Motte an der Fallthüre überraschen könnte; sie eilte dem zu Folge hinter ihm her, um durch ihre Stimme dieser Gefahr vorzubeugen. Er war schon im zweyten Zimmer als sie ihn einhohlte, und sie fing sogleich laut zu reden an.

Er durchsuchte dieß Zimmer auf das sorgfältigste, da er aber weder eine geheime Thüre noch andern Ausgang fand, ging er in das Kabinet: jetzt bedurfte sie aller Fassung, um ihre Bewegung zu verbergen. Er setzte sein Suchen fort:

»Ich weiß, daß er in diesen Zimmern verborgen ist,« sagte er, »wiewohl ich bisher noch nicht habe entdecken können, auf welche Art. Bis hieher folgte ich einem Manne, den ich für ihn halte, und ohne geheimen Ausweg konnte er nicht entwischen: ich werde den Ort nicht verlassen, bis ich ihn gefunden habe.«

Er untersuchte Wände und Fußboden, ohne aber die Fallthüre zu finden, die in der That so genau einpaßte, daß La Motte selbst sie nicht durch das Auge, sondern nur durch das Zittern der Dielen unter seinen Füßen entdeckt hatte.

»Hier ist ein Geheimniß, das ich nicht ergründe, und vielleicht nie ergründen werde,« – sagte er, und wollte aus dem Kabinet gehen, als zu Adelinens unaussprechlichem Schrecken die Fallthüre leise aufgehoben wurde, und La Motte selbst erschien.

»Hah!« rief der Fremde, und ging hastig auf ihn zu.

La Motte sprang hervor, und sie lagen einander in den Armen.

Adelinens Erstaunen überstieg im ersten Augenblick selbst ihr voriges Schrecken; bald aber fuhr ihr eine Erinnerung durch die Seele, welche diesen Auftritt erläuterte, und ehe noch La Motte ausrief: »mein Sohn!« errieth sie, daß der Fremde es war.

Peter, der unten an der Treppe stand, und hörte, was oben vorging, flog, seiner Gebietherinn die freudige Nachricht zu bringen, und in wenig Augenblicken lag auch sie in den Armen ihres Sohnes. Dieser Ort, so kürzlich noch der Sitz der Verzweiflung, schien in den Pallast der Freude umgeschaffen, und die Wände hallten nur von Tönen froher Glückwünsche wieder.

Peters Freude überstieg allen Ausdruck; er spielte eine vollkommene Pantomime, sprang umher, schlug in die Hände, lief auf seinen jungen Herrn zu, faßte ihn bey der Hand, trotz La Mottens Stirnrunzeln, lief bald hier, bald dorthin, ohne zu wissen warum, und gab keine vernünftige Antwort auf alles was er gefragt wurde.

Nachdem die ersten Bewegungen sich gelegt hatten, nahm La Motte, als besänne er sich plötzlich, seine gewohnte Feyerlichkeit wieder an.

»Ich verdiene Tadel,« sagte er, »daß ich mich so der Freude überlasse, da ich vielleicht noch von Gefahren umringt bin. Laßt uns auf eine Zuflucht denken, weil es noch in unserer Macht ist,« fuhr er fort – »in wenig Stunden werden vielleicht die Gerichtsdiener wieder erscheinen.«

Louis verstand seines Vaters Worte und räumte durch folgende Erzählung seine Angst aus dem Wege:

»Ein Brief vom Herrn Nemours, der eine Nachricht Ihrer Flucht von Paris enthielt, erreichte mich zu Peronne, wo ich mit meinem Regimente in Quartier lag. Er meldete mir, daß Sie nach dem südlichen Frankreich gegangen wären, da er aber seitdem nichts von Ihnen gehört hatte, wußte er den Ort Ihres Aufenthalts nicht. Um diese Zeit wurde ich nach Flandern geschickt und brachte einige Wochen in peinlicher Angst um Sie zu. Am Ende des Feldzugs erhielt ich Urlaub und machte mich sogleich nach Paris auf, wo ich von Nemours Ihren Aufenthalt erfahren hoffte.

Allein er wußte ihn eben so wenig als ich; doch sagte er mir, Sie hätten ihm einmahl auf Ihrer zweyten Tagreise von Paris, von D. aus, unter angenommenen Nahmen, der Verabredung gemäß, geschrieben, und in diesem Briefe geäussert, daß Sie, aus Furcht verrathen zu werden, keinen zweyten wagen würden; er wußte folglich nichts von Ihrem Aufenthalt, vermuthete aber, daß Sie Ihren Weg südwärts fortgesetzt hätten. Auf diese schwache Nachricht verließ ich Paris, um Sie aufzusuchen, und ging unverzüglich nach V–, von wo meine Fragen mich glücklich bis M. führten. Hier, hörte ich, hatten Sie sich einige Tage wegen der Krankheit eines jungen Frauenzimmers verweilt, ein Umstand, den ich nicht zu reimen wußte; doch gelangte ich bis L–, wo ich aber alle Spur verlor. Als ich nachdenkend im Wirthshaus am Fenster saß, bemerkte ich eine Inschrift auf einer Scheibe, und müßige Neugier bewegte mich, sie zu entzieffern. Die Züge schienen mir bekannt, und die Zeilen selbst bestätigten meine Vermuthung; ich hatte sie oft von Ihnen wiederhohlen hören.

Ich erneuerte meine Fragen und endlich besannen sich die Leute im Wirthshause, daß ein Fremder sich nach dem Wege durch den Wald bis Auboine erkundigt hätte. Zu Auboine verlor ich Sie wieder, bis nach meiner Zurückkunft von einer vergeblichen Nachfrage in der Nachbarschaft, der Wirth des kleinen Gasthofes, wo ich logirte, mir sagte, er glaubte, etwas von Ihnen erfahren zu haben, und mir erzählte, was vor einigen Stunden bey dem Grobschmidt vorgefallen war.

Seine Beschreibung von Peter war so charakteristisch, daß ich nicht zweifelte, Sie müßten der Bewohner der Abtey seyn, und da ich wußte, wie nothwendig Ihnen Verbergung sey, machte Peters Läugnen mich nicht irre. Den andern Morgen fand ich, mit Hülfe meines Wirthes, mich hieher, und nachdem ich alle Winkel der Abtey vergebens durchsucht hatte, glaubte ich, Peter könne doch wohl die Wahrheit gesagt haben; Ihr Anblick vernichtete diese Furcht, und zeigte mir wenigstens, daß die Abtey noch bewohnt wurde; denn ob Sie es waren, wußte ich nicht gewiß, weil Sie zu schnell verschwanden. Ich suchte den ganzen Tag fort, und verließ das Zimmer, wo Sie verschwunden waren, nur auf Augenblicke. Ich rief Sie zu wiederholtenmahlen, in Hoffnung, daß Sie meine Stimme erkennen würden; als aber die Nacht einbrach und alles vergebens war, zog ich mich nach einer Hütte am Rande des Waldes zurück.

Diesen Morgen kam ich früh wieder, um mein Forschen zu erneuern, und hoffte, daß Sie sich jetzt sicher glauben und hervorwagen würden. Wie schmerzlich sah ich mich betrogen, als ich die Abtey eben so still und einsam fand, als den Tag zuvor. Ich war eben im Begriff die große Halle wieder zu verlassen, als ich die Stimme dieser Dame vernahm und nun entdeckte, was ich so ängstlich gesucht hatte.«

Diese kleine Erzählung zerstreute La Mottens Besorgnisse gänzlich; allein er fürchtete nun, daß seines Sohnes Nachfragen und der Vorfall mit Peter die Neugier der Einwohner von Auboine erregt haben, und ihn der Gefahr einer Entdeckung aussehen könnte. Doch suchte er für jetzt sich aller schmerzhaften Gedanken zu entschlagen und die Freude, die seines Sohnes Gegenwart ihm brachte, ohne bittere Mischung zu genießen. Die Möbeln wurden wieder an ihren vorigen Ort geschafft, und die Zellen ihrer traurigen Dunkelheit überlassen.

Die Ankunft ihres Sohnes schien der Frau von La Motte neues Leben eingeflößt zu haben, und aller Kummer schwand in dem süßen Gefühl des Wiedersehens. Sie hing oft mit den stillen Blicken mütterlicher Zärtlichkeit an ihm, und ihre Parteylichkeit erhöhte jeden Vorzug, den die Zeit in seiner Person und Betragen bewirkt hatte. Er war jetzt im drey und zwanzigsten Jahre, seine Figur war männlich, sein Anstand kriegerisch, sein Wesen mehr ungezwungen und einnehmend als erhaben; und wiewohl seine Züge nicht regelmäßig waren, bildeten sie doch ein Gesicht, das man gern wieder sah, wenn man es einmahl gesehen hatte.

Sie erkundigte sich angelegentlich nach den Freunden, die sie zu Paris verlassen hatte, und erfuhr, daß binnen den wenigen Monathen ihrer Abwesenheit einige gestorben, einige aus der Stadt gezogen waren. Auch La Motte vernahm, daß man eine strenge Nachsuchung seiner Person zu Paris angestellt hatte, und wiewohl diese Nachricht ihm nicht unerwartet war, traf sie ihn doch so sehr, daß er es nöthig glaubte, sich in ein fernes Land zu begeben. Louis nahm keinen Anstand, ihm zu sagen, daß er ihn auf der Abtey so sicher glaubte, als an irgend einem Orte in der Welt, und wiederhohlte, was er von Nemours gehört hatte, daß die Gerichtsdiener nicht im Stande gewesen wären, ihm jenseits Paris nachzuspüren.

»Zudem,« fuhr Louis lächelnd fort, »wird diese Abtey von einer übernatürlichen Macht geschützt, und keiner von den Bewohnern der Gegend wagt sich in ihre Nähe.«

La Motte fragte seinen Sohn mit angenommener Nachlässigkeit, was die Leute denn eigentlich von diesem Orte sprächen? –

»O sie erzählen so viel, daß ich mich kaum auf die Hälfte besinne: doch habe ich so viel behalten, daß vor vielen Jahren ein Mensch (den aber niemand gesehen hat, woraus wir schließen können, welchen Glauben dieß Mährchen verdient) heimlich hieher gebracht und in irgend einem Behältniß eingesperrt worden sey, und daß man starke Gründe hätte zu vermuthen, er wäre auf keine gute Art zu Tode gekommen.«

La Motte seufzte –

»Es heißt ferner,« fuhr Louis fort, »daß der Geist des Verblichenen seitdem alle Nacht zwischen den Ruinen erschienen sey; und um die Geschichte noch wunderbarer zu machen, setzt man hinzu, daß es einen gewissen Ort hier gäbe, von dem noch kein Sterblicher, der ihn zu erforschen gewagt, lebendig wiedergekehrt wäre. Auf solche Art schaffen Menschen, die sich um wenig wirkliche Dinge zu bekümmern haben, sich Hirngespinste der Einbildungskraft.«

La Motte saß tiefsinnig.

»Und was für Gründe geben sie an,« sagte er, indem er endlich aus seiner Träumerey erwachte, »die hier verhaftete Person ermordet zu glauben?«

»Sie bedienen sich keines so bestimmten Ausdrucks,« sagt Louis.

»Es ist wahr, sagte La Motte sich besinnend, sie sagen nur, daß er auf keine gute Art zu Tode kam

»Eine sehr feine Distinction!« fiel Adeline ein.

»Die Ursachen habe ich nicht eigentlich verstehen können,« sagte Louis – »die Leute sagen zwar, man hätte den Menschen, der hierher gebracht worden, nie wieder fortbringen sehen; (allein ist es denn gewiß, daß er wirklich her kam?) daß man während seines Hierseyns eine seltsame Heimlichkeit beobachtete, und daß der Besitzer der Abtey sie seitdem nicht mehr besucht hat. An alle diesem Gewäsch scheint nichts zu seyn, das Aufmerksamkeit verdient.«

La Motte richtete sich auf, als wollte er antworten, die Hereinkunft der Frau von La Motte brachte sie aber auf ein anderes Gespräch, und es wurde der Sache nicht weiter erwähnt.

Peter mußte sich nun auf den Weg machen, um Proviant zu hohlen, während La Motte und Louis überlegten, in wiefern es rathsam sey, auf der Abtey zu bleiben. La Motte konnte nichts anderes als glauben, daß Peters Geschwätz und seines Sohnes Fragen zu einer Entdeckung seines Aufenthalts führen müßten. Endlich fiel ihm ein, daß sich der letzte Umstand selbst zu seiner Sicherheit benutzen ließe.

»Wie wäre es, Louis,« sagte er, »wenn du wieder nach dem Wirthshause in Auboine gingest, und als im Vorbeygehen erwähntest, daß du die Abtey unbewohnt gefunden, die gesuchte Person aber in einer fernen Stadt entdeckt hättest. Wenn du noch außerdem dir Gegenwart des Geistes und Gewalt genug über dein Gesicht zutraust, um irgend eine fürchterliche Erscheinung, die du hier gesehen zu haben vorgeben mußt, zu beschreiben, so dächte ich in Zukunft diesen Ort ruhig als mein Schloß betrachten zu können.«

Louis fand diesen Einfall vortreflich und richtete am folgenden Tage seinen Auftrag so gut aus, daß die Ruhe der Abtey völlig wieder hergestellt wurde.

So endigte dieses Abenteuer, das einzige, was die Familie während ihres Aufenthalts im Walde beunruhigt hatte. Adeline, von der Besorgniß der Übel, womit La Mottens Lage ihr gedroht, und von dem Kummer, den Theilnahme an seinem Schicksal ihr verursacht hatte, befreyt, empfand eine mehr als gewöhnliche Heiterkeit: auch glaubten sie in ihrer Freundinn eine Wiederkehr ihres vorigen Wohlwollens zu entdecken; alle ihre Dankbarkeit erwachte auf das neue und ließ sie ein eben so lebhaftes als unschuldiges Vergnügen schmecken. Adeline zog fälschlich die Zufriedenheit, welche Frau von La Motte über ihres Sohnes Gegenwart empfand, auch auf sich, und strengte alle Kräfte an, um sich ihrer würdig zu zeigen.

Allein die Freude, welche seine unerwartete Ankunft bey La Motten hervorgebracht hatte, verrauchte schnell, und die Schatten des Trübsinns bedeckten auf das neue sein Gesicht. Er kehrte oftmahls zu seinem einsamen Gange im Walde zurück – derselbe geheimnißvolle Tiefsinn herrschte in seinem Wesen und erregte auf das neue die Besorgniß seiner Frau, welche sich entschloß, ihrem Sohne ihren Kummer anzuvertrauen und ihn um seine Hülfe zur Erforschung der Ursache zu bitten.

Ihre Eifersucht auf Adelinen konnte sie ihm indessen nicht mittheilen, so sehr sie auch wieder davon gequält wurde, und mit wundernswürdigem Scharfsinn jedes Wort, jede Miene ihres Mannes, ja selbst Adelinens kunstlose Äußerungen von Dankbarkeit und Freundschaft für Ausbrüche wärmerer Zärtlichkeit mißdeutete. Adeline. pflegte noch immer lange Spatziergänge im Walde zu machen, die Absicht, welche Madame vormahls gefaßt hatte, sie zu belauschen, war durch die letzten Vorfälle vereitelt worden, und wurde jetzt durch die Betrachtung, wie schwer und gefährlich es seyn würde, ganz verhindert. Petern bey der Sache gebrauchen, hieß ihm ihren Argwohn verrathen, und ihr selbst zu folgen, würde Adelinen aufgefallen seyn, und ihre Eifersucht entdeckt haben. Auf solche Art von Stolz und Delikatesse zurückgehalten, sah sie sich genöthigt, über die wichtigsten Stücke ihres Argwohns die Qualen der Ungewißheit zu erdulden.

Sie vertraute indessen ihrem Sohn die sonderbare Veränderung, die mit seinem Vater vorgegangen war. Er hörte ihr sehr aufmerksam zu, und die Verwunderung und Bekümmerniß auf seinem Gesichte verrieth, wie sehr sein Herz daran Theil nahm. Er wußte eben so wenig als sie, was er von der Sache denken sollte, und übernahm bereitwillig, La Mottens Schritte zu beobachten, in Hoffnung, seinen beyden Ältern durch seine Vermittlung nützlich zu seyn. Der Argwohn seiner Mutter blieb ihm nicht ganz verborgen; weil er aber sah, daß sie ihn zu verheelen wünschte, ließ er sie nichts davon merken.

Er erkundigte sich nunmehr nach Adelinen, und hörte ihre kleine Geschichte mit sichtlichem Antheil an. Ja, er bezeugte so viel Mitleid mit ihrer Lage und so viel Unwillen über das unnatürliche Betragen ihres Vaters, daß die Besorgnisse, welche seine Mutter anfangs gehabt hatte, ihm ihre Eifersucht verrathen zu haben, ganz andern Platz machten. Sie sah, daß Adelinens Schönheit seine Einbildungskraft bereits gefesselt hatte, und fürchtete, daß ihr liebenswürdiges Wesen sein Herz nicht minder einnehmen möchte. Hätte sie auch noch ihre erste Zärtlichkeit für Adelinen gehabt, so würde ihr doch eine Liebe zwischen ihr und ihrem Sohne, als Hinderniß einer glänzendern Verbindung, die sie in Zukunft für ihn hoffte, unangenehm gewesen seyn. Auf eine solche Verbindung gründete sie alle ihre Hoffnungen, und betrachtete sie als das einzige Mittel, wodurch er dereinst seine Familie aus ihrer gegenwärtigen unangenehmen Lage ziehen könnte.

Sie berührte dem zu Folge Adelinens Vorzüge nur obenhin, stimmte kalt in seine Mitleidsäußerungen mit ihrem Schicksal ein, und mischte in den Tadel von ihres Vaters Betragen, einige Worte, welche einen Verdacht verriethen, daß die Tochter nicht ganz ohne Schuld daran seyn möchte. Diese Mittel, wodurch sie ihres Sohns Neigung zu unterdrücken glaubte, brachten eine entgegengesetzte Wirkung hervor. Ihre anscheinende Kälte gegen Adelinen verstärkte sein Mitleid mit ihrer hülflosen Lage und die Schonung, womit sie den Vater zu beurtheilen sich das Ansehen gab, erhöhte seinen edeln Unwillen gegen ihn.

Als er Frau von La Motte verließ, sah er seinen Vater quer über den grünen Platz in den Wald gehen. Er hielt dieß für eine gute Gelegenheit, einen Anfang zur Ausführung seines Vorsatzes zu machen, und folgte ihm langsam in einiger Entfernung nach. La Motte ging mit starken Schritten vor sich hin und schien so ganz in Gedanken vertieft, daß er sich weder rechts noch links umsah, und kaum den Kopf aufhob. Ludwig war ihm wohl eine halbe Stunde weit gefolgt, als er ihn plötzlich einen andern Weg einschlagen sah: er beschleunigte seine Schritte, um ihn nicht aus dem Gesichte zu verlieren, fand aber die Bäume so dick verwachsen, daß er ihn kaum mehr sehen konnte.

Indessen verfolgte er den Weg, der vor ihm lag: er führte ihn durch die dunkelste Gegend des Waldes, die er noch gesehen hatte, bis er endlich in eine finstere Vertiefung endigte, die mit hohen Bäumen umgeben war, deren verflochtene Zweige die geraden Strahlen der Sonne ausschlossen und nur eine schauderliche Dämmerung zuließen. Louis sah sich rings um nach seinem Vater, erblickte ihn aber nirgends. Während er da stand und den Ort überschaute, wurde er einen Gegenstand in einiger Entfernung gewahr, den aber die dichten Schatten ringsumher ihn deutlich zu erkennen verhinderten.

Er ging näher und entdeckte die Ruinen eines kleinen Gebäudes, das, nach den übriggebliebenen Spuren zu urtheilen, ein Grabmahl gewesen zu seyn schien.

»Wahrscheinlich,« sagte er zu sich selbst, ruhen hier die Gebeine eines alten Mönches, vormahls ein Bewohner der Abtey, vielleicht ihr Stifter, der nach einem Leben der Enthaltsamkeit und des Gebets, im Himmel den Lohn seiner irrdischen Entsagungen suchte. Friede sey mit seiner Seele!«

Seine Augen blieben auf die Stelle geheftet, und er sah eine Gestalt unter der Wölbung des Grabmahls hervorgehen. Sie fuhr zurück; als würde sie ihn gewahr, und verschwand sogleich. Louis, so furchtlos er auch war, fühlte doch in diesem Augenblick eine gewisse Beklemmung, bald aber kam ihm der Gedanke, daß es La Motte selbst seyn könnte. Er ging näher hinzu, und rief ihn – keine Antwort erscholl; er wiederhohlte den Ruf, aber alles blieb still wie das Grab. Er wollte den Ort, wo er verschwunden war, untersuchen, allein die schattigte Dunkelheit vereitelte sein Bemühen. Doch bemerkte er zur Rechten einen Eingang und stieg einige Stuffen in einen dunkeln Gang hinab, als ihm plötzlich beyfiel, daß dieser Ort eine Räuberhöhle seyn könnte; seine Gefahr beunruhigte ihn und er zog sich eilends zurück.

Er ging auf dem nämlichen Wege, den er gekommen war, wieder nach der Abtey: niemand folgte ihm, sein erster Gedanke kehrte wieder, und er glaubte, daß sein Vater es wirklich gewesen wäre. Er dachte über diese seltsame Möglichkeit nach und bemühte sich vergebens, die Ursache dieses geheimnißvollen Betragens zu ergrübeln. Mit diesen Gedanken trat er in das große Zimmer, und erstaunte nicht wenig, La Motten da sitzen zu sehen, der mit Adelinen und seiner Mutter ganz ruhig ein Gespräch führte.

Er ergrif die erste Gelegenheit, seiner Mutter den Vorfall zu erzählen, und fragte sie, seit wie lange La Motte zurückgekehrt sey. Als er hörte, daß er fast eine halbe Stunde vor ihm zu Hause gekommen war, stieg seine Verwunderung, und er wußte nicht, was er denken sollte.

Während dessen wirkte die Wahrnehmung von Louis wachsender Neigung für Adelinen mit dem Gifte des Argwohns bey Frau von La Motte zusammen, um den Überrest von Neigung zu ersticken, den Mitleid und Achtung vormahls für Adelinen in ihr erzeugt hatten. Ihre Unfreundlichkeit war jetzt zu merklich, um dem Auge derjenigen, gegen die sie gerichtet war, zu entwischen, und verursachte Adelinen eine Pein, die sie kaum zu ertragen vermochte. Mit der Wärme und Offenheit der Jugend suchte sie eine Erklärung dieses veränderten Betragens und eine Gelegenheit sich von aller Absicht, es gereizt zu haben, zu reinigen. Allein dieser wich Frau von La Motte klüglich aus, während sie zu eben der Zeit Winke fallen ließ, die Adelinen nur tiefer verwirrten und ihren Schmerz herber machten.

»Ich habe die Liebe verloren, die mein Alles war,« sagte sie. »Sie war mein einziger Trost – und ich habe ihn verloren, ohne nur meine Schuld zu wissen. Doch bleibt mir das Bewußtseyn, keine Unfreundlichkeit verdient zu haben, und wenn gleich sie mich verlassen hat, werde doch ich sie immer lieben.«

So bekümmert verließ sie oft das Zimmer und hing in der Einsamkeit einer Traurigkeit nach, die sie bis jetzt nicht gekannt hatte.

Eines Morgens, da sie nicht schlafen konnte, stand sie sehr früh auf. Das schwäche Tageslicht dämmerte durch die Wolken, breitete sich allmählich über den Horizont aus und verkündigte die aufgehende Sonne. Jeder Reiz der Landschaft enthüllte sich langsam, feucht vom Thau der Nacht und glänzend durch die Dämmerung, bis endlich die Sonne erschien und den vollen Strom des Tages ausgoß. Die schöne Stunde lockte sie heraus, und sie ging in den Wald, um die Süßigkeit des Morgens zu genießen. Die Gesänge der neu erwachten Vögel begrüßten sie, und die frische Luft war gewürzt vom Hauche der Blumen, deren Farben heller durch die Thautropfen glänzten, die an ihren Kelchen hingen.

Sie wanderte fort, ohne die Entfernung zu merken, und die Krümmungen des Bachs führten sie in ein kleines Thal, welches mit Gruppen von Bäumen durchflochten eine so romantische Scene bildete, daß sie sich am Fuße eines Baumes niedersetzte, um den Anblick ganz zu genießen. Diese Bilder sänftigten unmerklich ihren Kummer, und flößten ihr die süße Melancholie ein, welche dem fühlenden Herzen so wohl thut.

Eine ganze Weile saß sie in Träumerey verloren, während die Blumen, die an dem Ufer neben ihr aufsprießten, in neuem Leben zu lächeln schienen, und ihr eine Vergleichung mit ihrem eigenen Zustande entlockten. Sie seufzte und sann, und sang dann mit einer Stimme, deren zaubrischer Wohlklang sich nach den zärtlichen Regungen ihres Herzens modelte, ein kleines Lied.

Ein fernes Echo verlängerte ihre Töne und sie hörte schweigend dem sanften Nachhall zu, bis sie endlich die letzte Strophe wiederhohlte, und sich von einer fast eben so zärtlichen und minder fernen Stimme antworten hörte. Verwundernd sah sie auf und erblickte einen jungen Mann im Jagdkleide, der sich an einem Baum lehnte, und sie mit der tiefen Aufmerksamkeit eines entzückten Herzen anstaunte.

Tausend Besorgnisse flogen durch ihre Gedanken, und erst jetzt besann sie sich auf ihre weite Entfernung von der Abtey. Sie stand eilends auf, um fortzugehen, als der Fremde sich ehrerbiethig nahte – wie er aber ihren ängstlichen Blick und ihr Zurückweichen bemerkte, stand er still. Sie verfolgte ihren Weg nach der Abtey, und wiewohl sie gern gewußt hätte, ob man ihr folgte, hielt doch Delikatesse sie ab, sich umzusehen.

Sie fand die Familie noch nicht zum Frühstück versammlet, und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie sich mit Vermuthungen über den Fremden beschäftigte. Sie glaubte, nur um La Mottens willen bey diesem Gegenstande interessirt zu seyn, und hing ohne Bedenken der Erinnerung an den edeln Anstand und an die einnehmende Figur nach, welche diesen jungen Fremden so sehr auszeichnete. Sie hielt es für unmöglich, daß ein Mensch von so edelm Ansehen in einen Plan zum Verrath eines Mitgeschöpfs verwickelt seyn könnte, und ungeachtet sie sich auf keine Weise seine Erscheinung in diesem Walde erklären konnte, verwarf sie doch jeden nachtheiligen Verdacht.

Sie nahm sich vor, La Motten nichts von diesem kleinen Vorfall zu sagen, weil sie wußte, daß er nur darüber in Angst gerathen und um einer wahrscheinlich eingebildeten Gefahr willen, wirkliches Leiden ausstehen würde, doch beschloß sie, auf einige Zeit ihre Spaziergänge im Walde einzustellen.

Als sie zum Frühstück herunter kam, bemerkte sie an Frau von La Motte eine mehr als gewöhnliche Zurückhaltung. La Motte kam kurz nach ihr herein, und machte einige unbedeutende Bemerkungen über das Wetter, worauf er nach einem gesuchten Bestreben, heiter zu scheinen, in seinen gewohnten Tiefsinn zurück fiel. Adeline beobachtete ängstlich Frau von La Mottens Gesicht, und wenn ein Strahl von Fröhlichkeit darauf erschien, war es Sonnenschein für ihre Seele; aber nur selten genoß sie diese Erquickung. Ihr Gespräch war gezwungen und zielte oft auf etwas mehr, als man verstand. Louis Eintritt war Adelinen eine willkommene Erleichterung, denn fast fürchtete sie schon, einige Worte zu sprechen, damit nicht ihre zitternde Stimme ihre innere Unruhe verriethe.

»Dieser schöne Morgen hat Sie früh aus Ihrem Zimmer gelockt,« sagte Louis zu Adelinen.

»Ohne Zweifel hatten Sie auch eine angenehme Gesellschaft,« fiel Madame ein; »ein einsamer Spaziergang macht selten Vergnügen.«

»Verzeihen Sie, ich hatte niemand als meine Gedanken.«

»Wirklich? So müssen Ihre Gedanken wohl sehr angenehm seyn.«

»Ach,« antwortete Adeline, indem unwillkührlich eine Thräne sich in ihr Auge drängte, »meine Gedanken haben jetzt wenig Gegenstände der Freude mehr, wobey sie verweilen können.«

»Das ist doch in der That sehr sonderbar« fuhr Madame fort.

»Kann es wohl wirklich sonderbar seyn, Madame, wenn diejenigen trauern, die ihren letzten Freund verloren haben?«

Frau von La Mottens Gewissen gestand den Vorwurf ein und sie erröthete.

»Das ist doch wohl nicht Ihr Fall, Adeline,« sagte sie endlich, und warf einen ausdrucksvollen Blick auf La Motte.

Adeline, zu unschuldig für allen Verdacht, bemerkte ihn nicht, sondern lächelte durch ihre Thränen und antwortete: ›es würde sie freuen, wenn es so wäre.‹

La Motte hatte während dieses Gesprächs in Gedanken vertieft gesessen, und Louis, der nur dunkel den Sinn errieth, blickte bald seine Mutter bald Adelinen um Erläuterung an. Die letzte betrachtete er mit einem so zärtlichen Ausdrucke des Mitleids, daß Frau von La Motte die Empfindung seiner Seele in seinem Blicke zu lesen glaubte, und unverzüglich mit sehr ernsthafter Miene auf Adelinens letzte Worte erwiederte:

»Ein Freund kann nur schätzbar seyn, wenn unser Betragen ihn verdient: die Freundschaft, welche den Werth ihres Gegenstandes überlebt, ist für beyde nur Schande.«

Der Nachdruck, womit sie diese Worte sagte, beunruhigte Adelinen auf das neue, und sie antwortete sanft: ›sie hoffte nie einen solchen Vorwurf zu verdienen.‹ Madame schwieg, Adeline aber fühlte sich so tief gekränkt, daß Thränen mit Gewalt aus ihrem Augen drangen und sie ihr Gesicht in ihrem Schnupftuch verbergen mußte.

Louis stand mit einiger Bewegung auf, und La Motte, aus seinem Tiefsinn erweckt, fragte, was es gäbe, schien aber, ehe er eine Antwort erhalten konnte, seine Frage vergessen zu haben.

»Adeline mag es Ihnen selbst erklären,« sagte Frau von La Motte.

»Ich habe dieß nicht verdient,« antwortete sie, »weil aber meine Gegenantwort Ihnen mißfällig ist, will ich mich zurückziehen.«.

Sie ging nach der Thüre, als Ludwig, der unruhig im Zimmer auf und ab schritt, sie sanft bey der Hand faßte.

»Hier liegt ein unglückliches Mißverständniß zum Grunde,« sagte er, und wollte sie wieder auf ihren Stuhl führen; allein sie war zu niedergeschlagen, um fernern Zwang ertragen zu können, und zog ihre Hand zurück.

»Lassen Sie mich fort,« erwiederte sie, »wenn ein Mißverständniß hier zum Grunde liegt, so bin ich unfähig es zu erklären.«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Louis Blicke folgten ihr und er wandte sich ehrerbiethig zu seiner Mutter:

»Gewiß thun Sie ihr Unrecht,« sagte er, »bey allem was heilig ist, sie verdient eine zärtlichere Behandlung.«

»Du bist sehr beredt für sie, darf ich fragen, was dich so für sie gewonnen hat?

»Ihr liebenswürdiges Betragen, das man nicht sehen kann, ohne es zu schätzen.«

»Vielleicht traust du zu viel auf deine eigene Beobachtung: es könnte seyn, daß dieß liebenswürdige Betragen dich hinterginge.«

»Verzeihen Sie mir, es kann mich auf keine Weise hintergehen.«

»Du hast wahrscheinlich gute Ursachen zu dieser Versicherung, und ich sehe aus deiner Bewunderung dieser arglosen Unschuld, daß es ihr gelungen ist, auch dein Herz zu fangen.«

»Es ist ihr gelungen, meine wärmste Bewunderung auf sich zu ziehen, ohne daß sie je eine solche Absicht haben konnte.«

Frau von La Motte wollte antworten, wurde aber durch ihren Mann verhindert, der auf das neue aus seinen Träumen erweckt, nach der Ursache des Streits fragte.

»Lassen Sie doch die Kindereyen,« sagte er mit mißfälligem Tone. »Wahrscheinlich hat Adeline ein Versehen im Haushalten begangen, und eine so schreckliche Beleidigung verdient allerdings exemplarische Strafe. Nur bitte ich, mich mit Ihren Zänkereyen zu verschonen. Wenn Sie tyrannisiren müssen, Madame, so thun Sie es für sich.«

Mit diesen Worten ging er hinaus, Louis folgte ihm auf dem Fuße nach und Madame blieb ihren eigenen unmuthigen Gedanken überlassen. Ihre üble Laune entsprang aus der gewöhnlichen Quelle. Sie hörte, daß Adeline spatzieren gegangen war, und da La Motte sich ebenfalls in aller Frühe in den Wald begeben hatte, gab ihre Einbildung ihr ein, daß beyde eine Zusammenkunft verabredet hätten. Adelinens Eintritt, die kurz vor La Motten kam, bestärkte sie in ihrem Verdacht, und ihre Erbitterung stieg zu einem solchen Grade, daß weder die Gegenwart ihres Sohnes, noch ihre gewohnte gute Lebensart, den Ausbruch ihrer Leidenschaft zurückhalten konnte. Adelinens Betragen sowohl, als La Mottens anscheinende Gleichgültigkeit hielt sie für Verstellung; so wahr ist es, »daß die unbedeutendsten Kleinigkeiten dem verblendeten Auge der Eifersucht heilige Gewißheit sind.«

Adeline war in ihr Zimmer gegangen, um ihren Thränen freyen Lauf zu lassen. Sobald ihre erste Bewegung nachließ, ging sie ihr ganzes Betragen durch; und da sie nichts fand, dessen sie sich anschuldigen konnte, wurde sie ruhiger und fand ihren besten Trost im Bewußtseyn ihrer redlichen Gesinnung. Im Augenblick der Anklage kann zuweilen die Unschuld mit der Strafe sich bedrückt fühlen, welche nur dem Schuldigen gebührt; allein Betrachtung zerstört die Täuschung des Schreckens und führt der schmerzenden Brust den Trost der Tugend zu.

La Motte war in den Wald gegangen, wohin Louis ihm folgte, in der Absicht, den Gegenstand seiner Schwermuth zu berühren.

»Der Morgen ist sehr schön,« sagte Louis, »wenn Sie mir erlauben, will ich Sie begleiten.«

La Motte verbarg seine Unzufriedenheit, und nachdem sie eine Weile gegangen waren, veränderte er den Weg, und schlug einen Fußpfad ein, der nach der entgegen gesetzten Richtung führte, die Louis den Tag zuvor ihn hatte nehmen sehen.

Louis bemerkte, daß der Gang, den sie verlassen hätten, schattiger und angenehmer wäre. – La Motte that nicht, als wenn er es hörte.

»Er führt zu einem sonderbaren Ort, den ich gestern entdeckte,« fuhr Louis fort.

La Motte sah auf: Louis, beschrieb das Grabmahl und sein Abenteuer. La Motte faßte ihn bey dieser Erzählung scharf in das Auge, während er selbst sich sichtlich verfärbte.

»Du warst sehr verwegen,« antwortete er, nachdem Louis seine Erzählung geendiget hatte, »dich an diesen Ort zu wagen. Ich wollte dir wohl rathen, vorsichtiger beym Erforschen der Tiefen dieses Walds zu seyn! Ich habe mich noch nicht über eine gewisse Grenze hinein gewagt und weiß folglich nicht, was für Bewohner er enthält. Deine Nachricht beunruhigt mich, denn wenn Räuber sich in dieser Gegend aufhalten, so bin ich nicht sicher vor ihren Anfällen. Zwar habe ich wenig zu verlieren, mein Leben ausgenommen.«

»Und das Leben der Ihrigen,« fiel Louis ein. –

»Natürlich,« sagte La Motte.

»Ich möchte gern mehr Gewisheit über diesen Punct haben« fuhr Louis fort, »und überlege eben, auf welche Art wir sie erhalten könnten.«

»Das ist unnütz zu überlegen,« sagte sein Vater mit finsterer Miene, »die Nachforschung selbst ist Gefahr: vielleicht würdest du mit deinem Leben für deine Neugier büssen müssen. Unsere einzige Sicherheit ist, uns unentdeckt zu halten. Komm, laß uns wieder nach der Abtey gehen.«

Louis wußte nicht, was er denken sollte; allein er enthielt sich, weiter von der Sache zu reden. La Motte verfiel bald nachher in Tiefsinn, und sein Sohn ergriff die Gelegenheit, die Niedergeschlagenheit zu beklagen, die er seit einiger Zeit an ihm bemerkt hätte.

»Lieber beklage die Ursache davon,« sagte La Motte mit einem Seufzer.

»Das thue ich herzlich, was sie auch sey. Darf ich es wagen, Sie darum zu fragen?«

»Sind dir denn meine Unfälle so wenig bekannt, daß du eine solche Frage thun mußt? Bin ich nicht von meiner Heimath, von meinen Freunden, ja beynahe aus meinem Vaterlande vertrieben, und du kannst noch fragen, was mich bekümmert?«

Louis fühlte die Richtigkeit dieses Vorwurfs und schwieg einen Augenblick.

»Daß Sie bekümmert sind, darf mich freylich nicht befremden, theuerster Vater; es würde vielmehr zu verwundern seyn, wenn Sie es nicht wären.«

»Nun was befremdet dich denn?«

»Die Heiterkeit, die ich anfänglich an Ihnen bemerkte.«

»Eben klagst du, daß ich niedergeschlagen bin, und jetzt scheint es dir nicht recht, daß ich einst heiter war. Wie soll ich das nehmen?«

»Sie mißverstehen mich, mein Vater, nichts würde mich inniger freuen, als diese Heiterkeit wiederkehren zu sehen: die nähmliche Ursache des Kummers war auch damahls vorhanden, und doch waren Sie heiter.«

»Meine damahlige Erheiterung hättest du ohne Schmeicheley auf deine eigene Rechnung schreiben können; deine Gegenwart freute mich, und ich wurde zugleich von einer Last Besorgnisse befreyt.«

»Warum aber sehe ich Sie jetzt nicht mehr heiter, da noch derselbe Anlaß, den Sie so gütig äußern, da ist.«

»Und warum besinnst du dich nicht, daß du mit deinem Vater sprichst?«

»Ich besinne mich dessen, und nur Sorge für meinen Vater konnte mich so weit treiben: mit unbeschreiblichem Schmerz sehe ich, daß ein geheimer Kummer an Ihnen nagt: entdecken Sie ihn, liebster Vater, denen, die einen Antheil an allem, was Sie bekümmert, fordern, und lassen Sie durch Theilnahme seine Bitterkeit mildern.«

Louis blickte auf, er sah seines Vaters Gesicht bleich wie der Tod; seine Lippen bebten, indem er sprach:

»Dein Scharfsinn, so sehr du auch darauf bauen magst, hat dich dießmahl irre geführt. Ich habe keinen Kummer, als den ich dir bereits gesagt habe, und ich bitte mir aus, daß dieses Gespräch nie wieder angeknüpft wird.«

»Wenn Sie es befehlen, so muß ich gehorchen, aber verzeihen Sie mir, wenn –«

»Ich will nicht verzeihen, junger Mensch« – fiel sein Vater unwillig ein, »das Gespräch soll hier zu Ende seyn.« –

Hierauf beschleunigte er seine Schritte, und Louis, der es nicht weiter zu führen wagte, ging schweigend neben ihm, bis sie die Abtey erreichten.

 

Adeline brachte den größten Theil des Tages in ihrem Zimmer zu, wo sie ihr Herz gegen das unverdiente Mißfallen der Frau von La Motte zu stählen suchte. Dieses Geschäft war schwerer, als das, sich selbst loszusprechen. Sie liebte sie, und hatte auf ihre Freundschaft getraut, die ihr trotz des letzten Betragens, noch immer schätzbar war. Sie hatte nicht verdient, sie zu verlieren, allein Madame war so ungeneigt zu Erläuterungen, daß sie wenig Hoffnung sah, sie wieder zu erlangen, so ungegründet auch ihr Mißfallen seyn möchte. Endlich suchte sie sich zu beruhigen und gewaltsam ihr Herz zum Schweigen zu bringen.

Mehrere Stunden lang beschäftigte sie sich mit einer Nätherey, die sie für Frau von La Motte angefangen hatte, und zwar that sie dieß ohne die Absicht, dadurch um ihre Gunst zu werben, sondern weil sie eine gewisse Befriedigung dabey empfand, Unfreundlichkeit auf diese Art zu vergelten. Selbstliebe mag wohl der Centralpunct seyn, um den die menschlichen Neigungen sich drehen; denn alle Ursachen, die zur Selbstbefriedigung führen, lassen sich am Ende in Selbstliebe auflösen, doch sind einige dieser Neigungen so fein in ihrer Natur, daß sie beynahe den Nahmen Tugend verdienen, wenn wir gleich ihren Ursprung nicht läugnen können, und von dieser Art war gewiß Adelinens Gefühl.

Mit dieser Beschäftigung und mit Lesen brachte sie so viel als möglich vom Tage hin. Bücher machten in der That stets ihr Hauptvergnügen, und ihre Quelle des Unterrichts aus. La Motte hatte zwar wenige, aber diese waren sehr gut gewählt und Adeline konnte Vergnügen daran finden, sie mehr als einmahl zu lesen. Wenn ihre Seele durch ihrer Freundinn Behandlung, oder durch Rückblick auf ihr frühes Mißgeschick bekümmert war, so wiegte ein Buch sie in sanfte Ruhe. La Motte besaß verschiedene der besten italiänischen Dichter, deren Sprache Adeline im Kloster gelernt hatte. Sie konnte ihre Schönheiten fühlen, und sie begeisterten sie oft mit schwärmerischen Entzücken.

Gegen Abend verließ sie ihr Zimmer, um den Untergang der Sonne zu genießen, entfernte sich aber nicht weiter, als bis in eine Allee des Waldes, die nach Westen ging. Bey ihrer Zurückkunft in die Abtey kam ihr Louis entgegen, der nicht umhin konnte, ihr seyn Beyleid über den Auftritt des Morgens zu bezeugen, und sie seines wärmsten Eifers, wenn er zur Aufklärung des Mißverständnißes zwischen ihr und seiner Mutter beytragen könnte, zu versichern.

Adeline dankte ihm für sein freundschaftliches Anerbiethen, das sie tiefer fühlte, als sie zu äußern rathsam fand.

»Ich bin mir keines Vergehens bewußt,« sagte sie, »das mir den Unwillen der Frau von La Motte könnte zugezogen haben, und weiß ihn folglich auf keine Weise zu erklären. Ich habe oft eine Aufklärung gesucht, die sie aber eben so sorgfältig vermied, und halte es deßwegen für das Beste, die Sache nicht weiter zu berühren. Indessen erlauben Sie mir, Sie meines wärmsten Danks für Ihre Güte zu versichern.«

Ludwig seufzte und schwieg.

»Ich wünschte wohl,« sagte er endlich, »Sie möchten mir erlauben, mit meiner Mutter zu sprechen. Ich bin fast überzeugt, daß ich sie von ihrem Irrthum überführen würde.«

»Auf keine Weise,« erwiederte Adeline. »Die Unzufriedenheit Ihrer Frau Mutter hat mir sehr weh gethan, allein sie zu einer Erläuterung zwingen zu wollen, würde sie nur erhöhen; statt sie aus dem Wege zu räumen. Lassen Sie mich Sie bitten, keinen solchen Versuch zu machen.«

»Ich unterwerfe mich Ihrem Urtheil,« sagte Ludwig, »wiewohl es dießmahl ungern geschieht, ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen nützlich seyn zu können.«

Er sprach diese Worte in einem so zärtlichen Ton, daß Adeline zum ersten Mahle die Empfindungen seines Herzens merkte. Hätte sie mehr Eitelkeit besetzen, so würde sie längst Louis Aufmerksamkeit für etwas mehr als bloße Höflichkeit gehalten haben. Sie that nicht, als ob sie seine letzten Worte bemerkte, sondern schwieg, und beschleunigte unwillkührlich ihre Schritte. Louis sprach nichts weiter, sondern schien in Gedanken versunken, und dieß Schweigen dauerte fort, bis sie die Abtey erreichten.



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