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Zehentes Kapitel.

Das eben erwähnte Gespräch wurde durch Peters Hereinkunft unterbrochen, der, als er das Zimmer verließ, Adelinen bedeutend ansah, und ihr mit den Augen winkte. Sie war begierig zu wissen, was er wollte, und ging bald nachher in den Vorsaal, wo er umherschlenderte. So wie er sie sahe, legte er den Finger auf den Mund, und winkte ihr, in einen Winkel zu kommen.

»Nun Peter, was ists?« fragte sie.

»Still, Fräulein, um Gotteswillen sprechen Sie leise, wenn man uns hörte, wären wir alle verloren.«

Adeline bat ihn, sich deutlicher zu erklären.

»Ja, ja, Fräulein das ists, was ich schon den ganzen Tag gesucht habe. Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet und gewartet, gesehen und gesehen, bis ich fürchtete, mein Herr würde selbst mich zu sehen bekommen: allein es half alles nichts. Sie wollten mich nicht verstehen.«

Adeline bat ihn, sich kurz zu fassen.

»Ja Fräulein, ich bin nur Angst, daß man uns sieht; allein, was wollte ich nicht thun, um einem so guten jungen Frauenzimmer zu dienen, denn ich kann nicht daran denken, was Ihnen bevorsteht, ohne Sie zu warnen.«

»Um Gotteswillen, mache Er fort, oder man wird uns unterbrechen.«

»Nun denn! Zuvor aber müssen Sie mir bey der heiligen Jungfrau geloben, daß Sie niemahls wiedersagen wollen, was ich Ihnen offenbare. Mein Herr würde –«

»Ja, ja, ich verspreche alles!«

»Nun denn! Am Montag Abend, als ich – still, höre ich nicht einen Schritt? – O Fräulein, gehen Sie in den Kreuzgang – ich wollte um aller Welt Wunder nicht, daß man uns sähe. Ich will zur Saalthüre herausgehen, und Sie können durch den Gang gehen. Daß man uns ja nicht sieht!«

Adeline gerieth in die äußerste Unruhe über Peters Reden, und eilte in den Kreuzgang. Er erschien schnell, und nachdem er sich ängstlich umgesehen hatte, fing er sein Gespräch wieder an:

»Ja, wie ich sagte, Fräulein, Montags Nacht, als der Marquis hier schlief – Sie wissen, daß er lange aufblieb, und ich könnte die Ursache wohl rathen. Es kamen seltsame Dinge zum Vorschein, aber es ist nicht meine Sache, alles zu sagen, was ich denke.«

»Ums Himmelswillen, so komme er doch zur Sache,« rief Adeline ungeduldig; »was ist das für eine Gefahr, die mir droht? Mache Er fort, oder man wird uns gewahr werden.«

»Gefahr die Menge, Fräulein, wenn Sie alles wüßten; und wenn auch, was kann es nutzen, Sie können sich doch nicht selbst helfen. Allein das thut nichts zur Sache; genug, daß ich mir vorgenommen habe, es Ihnen zu sagen, wenn ich es auch bereuen sollte –«

»Oder vielmehr, Er hat sich vorgenommen, es mir nicht zu sagen, denn er macht keine Anstalt dazu. Allein, was meint er; er sprach von von dem Marquis. –«

»Still, Fräulein, nicht so laut! der Marquis, wie ich sagte, blieb lange auf, und mein Herr saß bey ihm. Einer von seinen Leuten ging in der eichnen Kammer zu Bett, und der andere blieb auf, um seinen Herrn auszuziehen. – Als wir nun zusammen sassen – Gott sey mir gnädig, die Haare stiegen mir empor – ich zittere noch, wenn ich daran denke. Als wir also zusammen sassen – aber so wahr ich lebe, dort kommt mein Herr. Ich sah ihn zwischen den Bäumen; wenn er mich sieht, so ist alles aus – ich wills Ihnen ein andersmahl sagen. –«

Mit diesen Worten eilte er in die Abtei, und verließ Adelinen in einem Zustande von Unruhe, Neugier und Verdruß. Sie ging in den Wald, und dachte über Peters Worte nach, die sie vergebens zu reimen sich bemühte; Frau von La Motte kam ihr nach, und sie sprachen über allerley Dinge, bis sie die Abtei erreichten.

Adeline wartete den Tag über vergebens auf Gelegenheit, Petern zu sprechen. Als er des Abends bey Tisch aufwartete, beobachtete sie ängstlich sein Gesicht, in Hoffnung einige Aufklärung darauf zu lesen. Beym Schlafengehen begleitete Frau von La Motte sie in ihr Zimmer und hielt sie mit allerley Gesprächen auf, so daß sie keine Gelegenheit fand, mit Peter zusammen zu kommen. – Frau von La Motte schien etwas auf dem Herzen zu haben, und als Adeline es bemerkete, und um die Ursache fragte, traten ihr Thränen in die Augen und sie ging schnell aus dem Zimmer.

Dieses Betragen, mit Peters Reden zusammengenommen, beunruhigte Adelinen, die nachdenkend sich auf ihr Bett setzte, und sich ihren Betrachtungen überließ, bis der Ton einer Glocke im untern Zimmer, die Zwölfe schlug, sie erweckte. Sie wollte sich zum Schlafen auskleiden, als sie sich des Manuscripts erinnerte, und es nun unmöglich fand, die Nacht zuzubringen, ohne es durchlesen zu haben. Die ersten Worte, die sie herausbringen konnte, lauteten folgendermaßen:


»Noch einmahl kehre ich wieder zu diesem armseligen Trost – noch einmahl ist mir vergönnt worden, einen neuen Tag zu sehen. Es ist jetzt Mitternacht! Meine einsame Lampe brennt neben mir, die Stunde ist schauderlich; allein für mich ist die Stille des Mittags wie die Stille der Mitternacht; eine dickere Finsterniß ist alles, wodurch sie sich unterscheiden. Die stillen, nie abwechselnden Stunden werden nur durch meine Leiden gezählt! Großer Gott, wann werde ich erlöst werden!

– – – – –
– – – – –

Aber warum dieses grausame Gefängniß? Ich habe ihn nie beleidigt. Wenn der Tod mir bestimmt ist, warum dieß Zögern? und wozu als zum Tode ward ich hieher gebracht. Diese Abtey – ach!« –

 

Hier war die Schrift wieder unleserlich und mehrere Seiten durch konnte Adeline nur unzusammenhängende Ausdrücke herausbringen.


»O bitterer Trank! wann, wann werde ich Ruhe genießen? O meine Freunde! will keiner mir zu Hülfe eilen, keiner von euch mein Leiden rächen? Ach wenn es zu spät ist, wenn ich auf immer dahin bin, dann werdet ihr mich zu rächen streben!

– – – – –
– – – – –

Noch einmahl ist die Nacht mir wiedergekehrt. Noch ein Tag in Einsamkeit und Elend hingebracht. Ich stieg ans Fenster herauf, weil ich glaubte, der Anblick der Natur würde meine Seele erquicken und mich stärken zu Ertragung dieses Leidens. Ach! auch dieser armselige Trost ist mir versagt: die Fenster gehen nach den innern Theilen dieser Abtey und lassen nur einen Schimmer des Tags ein, den ich nie wieder in vollem Lichte sehen soll. Vorige Nacht! Vorige Nacht! O Scene des Schreckens!« – –

 

Adeline schauderte: Sie fürchtete die nächsten Zeilen zu lesen, doch trieb Neugier sie weiter. – Noch zögerte sie – eine unerklärliche Bangigkeit bemächtigte sich ihrer.

»Eine schreckliche That ist hier begangen,« sagte sie, »die Reden der Bauern haben nicht gelogen. Mord –«

Diese Vorstellung erfüllte sie mit Entsetzen. Sie erinnerte sich des Dolchs, der ihre Schritte in dem geheimen Zimmer aufhielt, und dieser Umstand diente ihre schrecklichsten Vermuthungen zu bestärken. Sie wünschte ihn zu untersuchen; aber er lag in einem Winkel von jenem Zimmer und sie fürchtete sich.

»Unglückliches, unglückliches Schlachtopfer,« rief sie, »konnte kein Freund dich vom Untergange retten! O daß ich dir nahe gewesen wäre! aber was hätte ich für dich gekonnt! Ach, ich vergesse, daß ich vielleicht in diesem Augenblick gleich dir mit Gefahren umringt bin, in welchen kein Freund mich unterstützt. Nur zu gut ahnde ich den Urheber deines Elends!«

Sie hielt inne, und glaubte einen Seufzer zu hören, gleich wie in vergangener Nacht. Ihr Blut erstarrte, und sie saß einen Augenblick ohne Bewegung. Die einsame Lage ihres Zimmers, von der übrigen Familie abgeschnitten, (sie war jetzt wieder in ihrem alten Zimmer, das Frau von La Motte geräumet hatte) die kaum ihr Rufen hören konnte, machte einen solchen Eindruck auf ihre Einbildungskraft, daß sie beynahe umsank. Lange blieb alles still, und sie suchte ihre zerstörten Lebensgeister wieder zu sammeln.

Sie richtete ein kurzes Gebet an das Wesen, das bisher in aller Gefahr sie geschützt hatte. Nach und nach fühlte ihre Seele sich beruhiget und gestärkt: eine hohe Ergebung fühlte ihr Herz, und sie setzte sich noch einmahl zum Lesen nieder.

Einige Zeilen die unmittelbar folgten, waren erloschen

– – – – –

»Er sagte mir, ich würde nicht lange mehr zu leben haben, nicht länger als drey Tage, und ließ mir die Wahl zwischen Gift oder Dolch. O die Todesangst dieses Augenblicks! Großer Gott, du siehst mein Leiden! Oft sah ich, mit augenblicklicher Hoffnung zu entkommen, nach den hochvergitterten Fenstern meines Gefängnisses auf – ich nahm mir vor, alles, was im Kreise der Möglichkeit liegt, zu versuchen, und klimmte mit begieriger Verzweiflung die Fenster hinan, allein mein Fuß glitt aus, und ich stürzte betäubt zu Boden. Als ich mich wieder erhohlte, waren die Schritte eines Kommenden das erste, was ich hörte. Eine Erinnerung des Vergangenen kehrte wieder, und kläglich war mein Zustand. Ich schauderte vor dem, was kommen sollte. Derselbe Mann näherte sich – anfangs sah er mich mitleidig an, bald aber erhielt sein Gesicht seine natürliche Wildheit wieder. Doch kam er dießmahl nicht, um das Vorhaben seines Anstifters auszuführen – ich soll noch einen neuen Tage aufbehalten werden – Allmächtiger dein Wille geschehe!«

 

Adeline vermochte nicht weiter zu lesen. Alle Umstände, die das Schicksal dieses Unglücklichen zu bestätigen schienen, drängten sich vor ihre Seele: die Gerüchte von der Abtey – die Träume, die ihrem Auffinden der geheimen Zimmer vorhergegangen waren – die sonderbare Art, wie sie die Handschrift entdeckt hatte, und die Erscheinung, welche sie jetzt wirklich gesehen zu haben glaubte. Sie verwies sich, La Motten nichts von dem Manuscript und von den Zimmern gesagt zu haben, und nahm sich vor, die Eröffnung nicht länger als bis zum andern Morgen zu verschieben. Die Sorgen des Augenblicks, die unmittelbar ihr Gemüth beschäftigt hatten, und Furcht, das Manuscript zu verlieren, ehe sie es gelesen hätte, hatten sie abgehalten zu reden.

Eine solche Verbindung von Umständen konnte, wie sie glaubte, nur durch eine übernatürliche Macht bewirkt worden seyn, die den Schuldigen zur Rache bringen wollte. Diese Betrachtungen erfüllten ihre Seele mit einer schauerlichen Ehrfurcht, welche die Einsamkeit des alten großen Zimmers, worin sie saß, und die Stunde der Nacht bald in Schrecken erhöhten.

Sie war nie abergläubig gewesen, allein so seltsame Umstände waren bisher hier zusammen gekommen, daß sie es nicht für Zufall halten konnte. Ihre Einbildungskraft, durch diese Betrachtungen hinaufgespannt, wurde wieder jedem Eindruck geöffnet; sie fürchtete sich umzusehen, damit sie nicht wieder ein schreckliches Phantom erblickte, und fast wähnte sie, Stimmen in dem Sturme schwellen zu hören, der jetzt das Gebäude erschütterte.

Noch suchte sie ihren Empfindungen zu gebiethen, um nicht die Familie zu beunruhigen, allein sie wurden so peinlich, daß selbst die Furcht vor La Mottens Spott sie kaum abhalten konnte, ihr Zimmer zu verlassen. Ihr Gemüth war jetzt in einer solchen Verfassung, daß sie es unmöglich fand, die Geschichte auszulesen, wiewohl sie um der Qual der Ungewißheit zu entgehen, es versucht hatte. Sie legte es hin, und suchte sich wieder in Fassung zu sänftigen.

»Was habe ich zu fürchten?« sagte sie. »Ich bin wenigstens unschuldig, und werde nicht für das Verbrechen eines andern gestraft werden.«

Ein heftiger Windstoß, der jetzt durch die ganze Reihe von Zimmern fuhr, erschütterte die Thüre, die aus ihrem vorigen Schlafzimmer in die geheimen Zimmer führte, so stark, daß Adeline, nicht vermögend, länger in Ungewißheit zu bleiben, hinzu lief, um zu sehen, woher das Geräusch käme. Der Umhang, welcher die Thüre verbarg, wurde heftig erschüttert, und sie stand einen Augenblick, und betrachtete ihn mit unbeschreiblichem Schrecken, bis sie in dem Glauben, daß der Wind ihn bewegte, sich eine plötzliche Gewalt anthat, ihr Gefühl zu überwinden, und ihn aufzuheben.

In dem nämlichen Augenblick glaubte sie eine Stimme zu hören. Sie stand still, und horchte, aber alles war still, doch überwältigte ihre Angst sie so sehr, daß sie eben so unfähig war, das Zimmer zu untersuchen, als zu verlassen.

Nach wenig Augenblicken kam die Stimme wieder: sie war nunmehr überzeugt, daß sie nicht geirrt hatte, denn so leise sie auch war, hörte sie sie deutlich, und war fast gewiß, daß sie bey Nahmen gerufen ward. Ihre Fantasie war so rege, daß sie es sogar für die nähmliche Stimme hielt, die sie in ihren Träumen gehört hatte. Diese Überzeugung raubte ihr gänzlich ihr bischen Muth und in einen Stuhl sinkend, verlor sie alle Besinnung.

Sie wußte nicht, wie lange sie in diesem Zustande geblieben war, als sie aber wieder erwachte, raffte sie alle Kräfte auf, um die Wendeltreppe zu erreichen, wo sie laut rief. Niemand hörte sie, und sie eilte, so schnell ihre Kraftlosigkeit es zuließ, nach Frau von La Mottens Zimmer. Sie klopfte leise an, und erhielt Antwort von Madame, die in Schrecken gerieth, um eine so ungewöhnliche Stunde aufgeweckt zu werden, und glaubte, daß ihrem Manne eine Gefahr drohte. Als sie hörte, daß es Adeline war, die sich nicht wohl befand, eilte sie ihr schnell zu Hülfe. Das Schrecken, welches noch auf Adelinens Gesicht lag, erregte ihre Neugier, und sie erfuhr den Anlaß.

Madame gerieth durch diese Erzählung so sehr außer Fassung, daß sie La Motten aus seinem Bett rief, der mehr aufgebracht über diese unzeitige Störung, als theilnehmend an der Unruhe, die er vor sich sah, Adeline verwies, daß sie ihre Fantasie so sehr den Meister über ihre Vernunft spielen ließe. Sie erwähnte nun der innern Zimmer, die sie entdeckt hatte, und das Manuscript, Umstände, welche auf einmahl La Mottens Aufmerksamkeit so sehr erregten, daß er das Manuscript zu sehen verlangte, und sich entschloß, unverzüglich in die von ihr beschriebenen Zimmer zu gehen.

Frau von La Motte suchte ihn von seinem Vorsatz abzubringen, allein La Motte, bey dem Widerspruch immer das Gegentheil würkte, und der Adelinen das Lächerliche ihrer Furcht zu zeigen wünschte, beharrte darauf. Er rief Petern, um ihm zu leuchten, und verlangte, daß Frau von La Motte und Adeline ihn begleiten sollten. Madame bat um Entschuldigung, und Adeline erklärte anfangs, daß sie nicht zu gehen vermöchte, beide mußten aber nachgeben.

Sie stiegen den Thurm hinan, und traten mit einander in das erste Zimmer: denn keiner mochte der letzte seyn; im Zweyten war alles still und ruhig. Adeline gab das Manuscript her und zeigte auf den Umhang, der die Thüre verbarg. La Motte hob ihn auf und öffnete die Thüre, allein Madame und Adeline beschworen ihn nicht weiter zu gehen – nochmahls befahl er ihnen zu folgen.

Im ersten Zimmer war alles still; er äußerte seine Verwunderung, daß diese Zimmer so lange unentdeckt geblieben wären, und wollte in das Zweyte gehen, stand aber plötzlich still.

»Wir wollen unsere Untersuchung bis morgen verschieben,« sagte er, »der Dunst in diesen Zimmern ist zwar zu allen Zeiten ungesund, aber zur Nacht doppelt empfindlich. Ich ersticke beynahe. Peter, vergiß nicht, morgen früh die Fenster aufzumachen, damit die Luft durchstreichen kann.«

»Gott behüte, Ihro Gnaden,« sagte Peter, »sehen Sie denn nicht, daß ich nicht hinan reichen kann? Zudem glaube ich nicht daß sie gemacht sind, um geöffnet zu werden: sehen Sie nur die Stärken in eisernen Gitter. Das Zimmer sieht, so wahr ich lebe, einem Gefängniß gleich: ich stelle mir vor, dieß muß der Ort seyn, von dem die Leute sagten, daß keiner wieder herausgekommen sey.«

La Motte, der während dieser Rede die hohen Fenster aufmerksam betrachtete, unterbrach jetzt Peters Geschwätzigkeit, und befahl ihm, voran zu leuchten. Alle verließen willig diese Zimmer, und gingen in das untere, wo ein Feuer angemacht wurde, und sie eine Zeitlang zusammen blieben.

La Motte suchte aus Gründen, die ihm selbst am besten bekannt seyn mußten, Adelinen wegen ihrer Furcht und Entdeckungen aufzuziehen, bis sie ihn endlich mit einem Ernst, der ihn zurückhielt, aufzuhören bat. Er schwieg und bald darauf wagte Adeline, durch die Rückkehr des Tagslichts gestärkt, sich in ihr Zimmer und genoß einige Stunden ungestörten Schlafs.

Den folgenden Tag ließ sie ihre erste Sorge seyn, sich eine Zusammenkunft mit Peter zu verschaffen, den sie zu sehen hoffte, als sie die Treppe herunterging: allein er war nicht sichtbar, und sie ging in das Wohnzimmer, wo sie La Motte, dem Anschein nach, sehr unruhig fand. Adeline fragte ihn, ob er das Manuscript angesehen hätte?

»Ich habe es durchlaufen,« sagte er, »aber es ist durch die Zeit so sehr erloschen, daß man es kaum entziffern kann. Es scheint eine seltsame romanhafte Geschichte zu enthalten, und ich wundere mich nicht, daß Sie nach den schrecklichen Eindrücken, die Sie Ihrer Fantasie davon mittheilen ließen, Geister zu sehen wähnten, und wunderbares Geräusch hörten.«

Adeline glaubte, La Motte fände nicht für gut, sich überzeugen zu lassen und schwieg. Während dem Frühstück sah sie oft Petern (der aufwartete) mit ängstlichem Forschen an, und wurde aus seinen Blicken noch mehr überzeugt, daß er ihr etwas wichtiges mitzutheilen hatte. In Hoffnung mit ihm zu reden, verließ sie das Zimmer so bald als möglich, und ging in ihre gewöhnliche Allee, wo sie noch nicht lange gewesen war, als er erschien.

»Gott behüte Sie, Fräulein, es thut mir leid, daß ich Sie vorige Nacht so erschreckte.«

»Mich erschreckte,« sagte Adeline, »was hatte denn Er dabey zu thun?«

Er sagte ihr nun, als er geglaubt hätte, daß Herr und Frau von La Motte schliefen, hätte er sich an ihr Zimmer geschlichen, um die Erzählung vom Vormittage zu endigen; er hätte sie verschiednemahl so laut er sich getraut, gerufen; da er aber keine Antwort erhalten, gedacht, sie schliefe, oder wollte nicht mit ihm reden, und wäre also fortgegangen.

Diese Nachricht von der vernommenen Stimme erleichterte Adelinen; sie wunderte sich sogar, sie nicht erkannt zu haben, so wenig dieses auch bey der Verstörung ihres Gemüthes zu verwundern war.

Sie bat nunmehr Peter sich bey der Erläuterung der Gefahr, die ihr drohte, kurz zu fassen.

»Wenn Sie mich bey meiner eigenen Weise lassen, gnädiges Fräulein, so werden Sie es bald erfahren, allein wenn Sie mich übereilen, und mich in die Kreuz und Quere fragen, so weiß ich nicht was ich sage.«

»So will ich ihm denn seine Weise lassen; nur vergesse er nicht, daß man uns bemerken kann.«

»Ja, Fräulein, davor fürchte ich mich eben so sehr als Sie: denn ich glaube, ich würde fast eben so übel fahren: doch das thut nichts zur Sache; allein ich weiß, daß es schlimm für Sie aussehen wird, wenn Sie noch eine Nacht in dieser alten Abtey bleiben: denn wie ich zuvor sagte, ich weiß um alles,«

»Um was Peter?«

»Je nun, um diesen Anschlag, der im Werke ist.«

»Was, ist mein Vater –«

»Ihr Vater?« unterbrach Peter. »Das ist alles nur Wind, um Sie in Schrecken zu setzen: weder ihr Vater noch sonst jemand hat nach Ihnen gefragt, ja er weiß so wenig von Ihnen, als der Pabst –«

Adeline sah verdrießlich aus –

»Er spaßt,« sagte sie; »wenn er etwas zu sagen hat, so mache er fort, ich bin eilig.«

»Nun, nun Fräulein, ich meinte es nicht böse: werden Sie nur nicht ungehalten: allein Sie werden doch wohl nicht läugnen, daß Ihr Vater barbarisch ist. Aber, wie ich sagte, der Marquis de Montalt ist in Sie verliebt, und er und mein Herr (Peter sah sich rings um) haben Ihrenthalben die Köpfe zusammengesteckt.« –

Adeline erblaßte – sie begriff einen Theil der Wahrheit, und bat ihn begierig fortzufahren.

»Sie haben die Köpfe zusammen gesteckt. So viel hat Jakob, des Marquis Bedienter, mir gesagt. Peter, sagte er, du weißt wenig was vorgeht. Ich könnte dir alles sagen, wenn ich Lust hätte, allein es schickt sich nicht für die, denen man sich anvertraut, zu plaudern. Dein Herr wird wohl heimlich genug gegen dich seyn. Dieß verdroß mich, und ich wollte ihn sehen lassen, daß man mir so gut was anvertrauen könnte als ihm. Es könnte seyn, sagte ich, daß ich eben so viel wüßte, als du, wenn ich schon nicht damit groß thue – und dazu blinzte ich mit den Augen. So? sagte er, also weißt du Bescheid? Du bist heimlicher als ich gedacht hätte. Sie ist hübsch; sagte er, (er meinte Sie Fräulein) allein im Grunde ist sie doch nur ein armer Fündling; und so hat es nicht viel zu sagen. Ich wollte noch mehr von ihm heraushohlen, sonst hätte ich ihm eins aufs Mittel geben. Indem ich mich stellte, als wüßte ich so viel als er, lockte ich ihm alles aus, und er sagte mir – aber Sie werden ganz blaß, Fräulein, ist Ihnen nicht wohl?«

»Nein, nein,« sagte Adeline mit zitternder Stimme, und kaum im Stande, sich aufrecht zu halten, »fahr er nur fort.«

»Und so sagte er mir, daß der Marquis schon eine ganze Zeit um Sie herum gegangen wäre; allein Sie wollten ihn nicht erhören, und er hätte sogar vorgegeben, er wollte Sie heirathen, und es hälfe alles nichts. Was das Heirathen anbelangt, sagte ich, so wird sie vermuthlich wissen, daß die Marquise noch lebt, und auf andern Fuß wird sie sich nicht einlassen wollen.«

»Die Marquise ist also wirklich noch am Leben?«

»Ja freylich, Fräulein. Das wissen wir alle, und ich dachte, Sie hätten es auch gewußt. – Das werden wir sehen, sagte Jakob, wenigstens glaube ich, daß unser Herr sie überlisten wird. – Ich fuhr auf, ich konnte mir nicht helfen. Ja, ja, sagte er, du weißt, daß dein Herr ausgemacht hat, sie meinem Marquis auszuliefern.«

»Großer Gott, was soll aus mir werden?« rief Adeline.

»Ja Fräulein, ich bin recht Angst um Sie, aber hören Sie mich nur aus. Als Jakob dieses sagte, vergaß ich mich ganz. Ich glaube es nimmermehr, sagte ich, ich kann nimmermehr glauben, daß mein Herr im Stande ist, eine solche Schlechtigkeit zu begehen; er wird sie nicht ausliefern, so wahr ich ein Christ bin. – O sagte Jakob, steht es so! Ich dachte, du wüßtest alles, sonst hätte ich mein Maul gehalten. Doch kannst du dich bald überzeugen, wenn du an der Thüre horchen willst; so habe ichs auch gemacht; sie berathschlagen jetzt darüber.«

»Er braucht mir von diesem Gespräch weiter nichts zu widerhohlen, sage er mir nur, was er an der Thüre hörte.«

»Je nun, Fräulein, als er dieß sagte, nahm ich ihm beym Wort, und ging vor die Thüre, wo ich allerdings meinen Herrn und den Marquis zusammen über Sie sprechen hörte. Sie sagten mancherley, woraus ich nicht klug werden konnte; endlich aber hörte ich den Marquis sagen: Sie wissen die Bedingungen; nur unter diesen Bedingungen will ich versprechen, alles in Vergessenheit zu be – be – begraben, ja das war das Wort. Mein Herr sagt darauf zu dem Marquis, wenn er die und die Nacht, er meinte die künftige, Fräulein, wieder nach der Abtey kommen wollte, so sollte alles nach seinem Wunsch bereit seyn. Adeline soll dann Ihre seyn, gnädiger Herr, Sie wissen ihr Schlafzimmer.«

Bey diesen Worten rang Adeline die Hände, und sah in stummer Verzweiflung gen Himmel. Peter fuhr fort.

»Als ich dieß hörte, konnte ich nicht länger an dem zweifeln, was Jakob gesagt hatte. Nun was denkst du jetzt? sagte er. – Was sonst, als daß mein Herr ein Schurke ist. Nun ich denke, meiner ist auch einer, sagte er, was das anbelangt.« –

Adeline unterbrach ihn und fragte, was er weiter gehört hätte.

»In eben dem Augenblick,« sagte Peter, »hörten wir die gnädige Frau aus der andern Stube kommen, und retirirten uns in die Küche.«

»Sie war also bey diesem Gespräch nicht gegenwärtig?«

»Nein Fräulein, aber ich wette, mein Herr hat ihr alles gesagt.«

Diese anscheinende Treulosigkeit ihrer Freundinn erschütterte Adelinen fast so sehr, als das Verderben, welches ihr drohte. Nachdem sie einige Augenblicke, in äußerster Unruhe nachgedacht hatte, sagte sie zu Peter:

»Er hat ein gutes Herz, Peter, und fühlt einen gerechten Unwillen über seines Herrn Verrätherey. Will er mir zur Flucht behülflich seyn?«

»Ach Fräulein, wie wollte das möglich seyn? Zudem wohin können wir gehen? Ich habe keine Freunde hier herum, so wenig als Sie.«

»O,« antwortete Adeline in äußerster Bewegung, »wir fliehen vor Feinden: Fremde werden uns Freunde seyn; helfe er mir nur aus diesem Walde, und ich will ihm ewig danken, jenseits fürchte ich nichts mehr.«

»Ja, was diesen Wald anbelangt, so bin ich selbst ihn herzlich müde, obschon ich, als wir zuerst hieher kamen, glaubte, es würde sich recht schön darin leben lassen; wenigstens dachte ich, würde es ein anderes Leben seyn, als ich bisher geführt hatte. Allein diese Gespenster, die hier umgehen, – ich bin wohl nicht feigherziger als andere Leute auch, aber sie stehen mir doch nicht an: und dann sagt man so seltsame Dinge von dieser Abtey, und mein Herr – ich dachte sonst, ich würde ihm bis an das Ende der Welt treu dienen, aber jetzt kümmre ich mich nicht, ihn zu verlassen, da er sich gegen Sie so schlecht betragen hat.«

»Er will mir also entfliehen helfen?« sagte Adeline mit Lebhaftigkeit.

»Ja, was das anbelangt, Fräulein, so wollte ich herzlich gern, wenn ich nur wüßte wohin. Zwar habe ich eine Schwester in Steyer, aber das ist weit, und habe auch wohl ein wenig Geld von meinem Lohn über gespart, aber das würde uns nicht weit bringen.«

»Sehe er das nicht an; wenn ich nur erst einmahl aus dem Walde wäre, so wollte ich schon für mich selbst sorgen und ihn für seine Gutheit belohnen.«

»Fräulein, darum ist mirs nicht –«

»Nun wohl Peter, so lasse er uns überlegen, wie wir entkommen können. Diese Nacht, sagte er, diese Nacht will der Marquis wieder kommen?«

»Ja Fräulein, wenn es dunkel wird. Mir fällt so eben was ein. Meines Herrn Pferde grasen im Walde; wir könnten eines davon nehmen, und von der ersten Station zurückschicken: aber wie sollen wir es anfangen, daß man uns nicht sieht? Zudem, wenn wir bey Tage davon gehen, wird er uns bald nachsehen, und uns einhohlen, und wenn Sie bis Nachts warten, so wird der Marquis kommen, und dann ist alles vorbey. Wenn sie uns beyde zugleich vermissen, so werden sie rathen, wie es ist und sich gleich aufmachen. Könnten sie nicht zuerst gehen, und auf mich warten, bis der Lärmen vorüber ist? So könnte ich, während sie nach Ihnen um und um suchen, mich wegschleichen, und mit Ihnen im Sichern seyn, ehe sie daran dächten, uns nachzusetzen.«

Adeline sah ein, daß er Recht hatte, und konnte nicht umhin, sich über seinen Scharfsinn zu wundern. Sie fragte, ob er keinen Ort in der Nähe wüßte, wo sie verborgen bleiben könnte, bis er mit einem Pferde käme.

»Ich wüßte wohl einen Ort, wo Sie sicher genug wären, denn niemand wagt sich in die Nähe: allein es heißt, daß es nicht richtig darin wäre und vielleicht dürften Sie sich scheuen.«

Adeline dachte an die vergangene Nacht und wurde über diese Nachricht etwas betroffen; allein ein Gefühl ihrer gegenwärtigen Gefahr drängte sich wieder herbey, und überwältigte jede andere Furcht.

»Wo ist der Ort,« sagte sie, »wenn er mich verbergen kann, so will ich mich nicht lange besinnen.«

»Es ist ein altes Grab, das in der dicksten Gegend des Waldes steht, auf dem nächsten Wege ungefähr eine kleine Viertelstunde, und auf dem weitesten wohl eine halbe Stunde von hier. Als mein Herr sich noch im Walde zu verstecken pflegte, folgte ich ihm zuweilen dahin, allein das Grab habe ich nicht eher als gestern gefunden. Doch das hilft uns zu nichts; wenn Sie sich dahin wagen wollen, Fräulein, so will ich Ihnen den nächsten Weg zeigen.«

Mit diesen Worten zeigte er auf einen krummen Fußweg zur Rechten. Adeline sah sich rings um, und als sie niemand wahrnahm, bat sie Petern, sie nach dem Grabe zu führen. Sie verfolgte den Weg, bis er sich in eine finstere, romantische, und den Strahlen der Sonne beynahe unzugängliche Gegend verlor, und kamen an die Stelle, wo Louis einmahl seinem Vater nachgespürt hatte.

Die Stille und Feyerlichkeit der Gegend erfüllte Adelinens Herz mit Schauder, sie stand still und überschaute sie eine Zeitlang schweigend. Endlich führte Peter sie in das Innere der Ruinen, wo sie einige Stuffen hinab stiegen.

»Ein alter Abt wurde hier vor langer Zeit begraben; wie ich von des Marquis Leuten gehört habe,« hub Peter an, »und vermuthlich gehörte er zu jener Abtey: allein ich sehe nicht ein, warum er sichs gelüsten läßt, umher zu wandern; er wurde doch sicher nicht ermordet?«

»Ich hoffe nicht,« sagte Adeline.

»Das ist mehr, als man von allen sagen kann, die in der Abtey begraben liegen, und –«

Adeline unterbrach ihn:

»Still, ich höre ein Geräusch; der Himmel behüte uns vor Entdeckung.«

Sie lauschten, aber alles war still und sie gingen weiter. Peter öffnete eine niedrige Thüre und sie traten in einen dunkeln Gang, wo der Weg oft durch Schut und lose Steine erschwert wurde, und sie nöthigte, behutsam zu gehen.

»Wohin kommen wir? fragte Adeline.

»Ich weiß es wirklich selbst nicht,« antwortete Peter, »denn ich war noch nie so weit; aber der Ort scheint sicher genug.«

Plötzlich hemmte ihm etwas den Weg: es war eine Thüre, die seiner Hand wich und eine Art von Zelle zeigte, die man bey dem Schimmer, die durch ein Gitterfenster von oben hinein fiel, dunkel erkannte. Nur auf einen Theil des Platzes fiel ein Strahl, der die größere Hälfte in Schatten ließ.

Adeline seufzte.

»Dieß ist ein fürchterlicher Ort,« sagte sie, »doch wenn er mir Zuflucht gewährt, ist es für mich ein Pallast. Erinnere Er sich Peter, daß meine Ruhe und Ehre von seiner Treue abhängt; sey Er vorsichtig und entschlossen. In der Dämmerung kann ich mich am unbemerktesten von der Abtey schleichen und will Ihn in dieser Zelle erwarten. So bald Herr und Frau von La Motte mit Suchen in den Gewölben beschäftigt sind, bring Er ein Pferd hieher: drey Schläge mit der Peitsche an das Grab sollen das Signal seyn. Ums Himmelswillen sey Er vorsichtig und pünktlich.«

»Das werde ich, Fräulein, es mag auch kommen, was da wolle.«

Sie gingen wieder durch den Wald zurück, und Adeline, die bemerkt zu werden fürchtete, hieß Petern voraus nach der Abtey gehen, und einen Vorwand wegen seiner Abwesenheit aussinnen, wenn man ihn ja vermißt haben sollte.

Sobald sie wieder allein war, ließ sie einem Strom von Thränen Lauf, und hing dem Übermaß ihres Schmerzens nach. Sie sah sich ohne Freunde, ohne Verwandte, verlassen, hülflos und den entsetzlichen übeln Preis gegeben. Verrathen von den Menschen, die sie seit so langer Zeit als ihre Beschützer geliebt, als ihre Ältern geehret hatte! diese Betrachtungen erfüllten ihr Herz mit den bittersten Qualen und das Gefühl ihrer eigenen Gefahr wurde auf eine Zeitlang von dem Schmerz, solche Unwürdigkeit bey andern zu entdecken, verschlungen.

Endlich rief sie alle Stärke auf, lenkte ihre Schritte nach der Abtey und suchte geduldig die Abendstunde zu erwarten, und in Gegenwart des Herrn und der Frau von La Motte einen Schein von Fassung anzunehmen. Für den Augenblick wünschte sie den Anblick von beiden zu vermeiden, weil sie sich nicht getraute, ihre Bewegung zu verbergen, und eilte auf ihr Zimmer, so wie sie die Abtey erreichte. Hier bemühte sie sich ihre Aufmerksamkeit auf gleichgültige Gegenstände zu lenken, aber vergebens: die Gefahr ihrer Lage, die schmerzliche Täuschung in dem Charakter derjenigen, die sie so sehr geschätzt, ja sogar geliebt hatte, beschäftigte ihre Gedanken zu sehr.

Einem edeln Herzen kann nichts empfindlicher seyn, als Treulosigkeit in denjenigen zu entdecken, die unser Vertrauen besassen, selbst, wenn es uns auch keinen ausdrücklichen Nachtheil brächte. Vor allem aber empörte sie das Betragen der Frau von La Motte: die mit solcher Heimlichkeit an ihrem Verderben arbeiten könnte.

»Wie sehr hat meine Einbildungskraft mich getäuscht,« sagte sie, »welch ein Gemählde entwarf sie mir von der Güte der Welt! Und muß ich denn glauben, daß jedermann grausam und betrüglich ist? Nein, möge ich immer getäuscht werden, und immer leiden, ehe ich in einem solchen elenden Zustande des Mißtrauens lebe.«

Sie bemühte sich nun, Frau von La Mottens Betragen bey sich selbst zu entschuldigen, indem sie es der Furcht vor ihrem Manne zuschrieb.

»Sie darf sich ihm nicht entgegen setzen,« sagte sie, »sonst würde sie mich vor meiner Gefahr warnen, und mir helfen, ihr zu entgehen. Nein nimmermehr will ich sie fähig glauben, zu meinem Verderben behülflich zu seyn. Nur Furcht verschließt ihr den Mund.«

Adeline fand einigen Trost in diesem Gedanken. Die Güte ihres Herzens lehrte sie, hier zu sophistisiren. Sie sah nicht, daß sie Frau von La Mottens Schuld höchstens nur milderte, wenn sie ihr Betragen der Furcht zuschrieb; ein zwar etwas weniger niederträchtiger, aber nicht minder selbstsüchtiger Grund.

Sie blieb in ihrem Zimmer, bis sie zu Tisch gerufen wurde, und ging dann mit schwankenden Schritten und klopfendem Herzen herunter. Als sie La Motten sah, zitterte sie, Trotz aller Anstrengung und erblaßte: sie konnte den Mann, der sie dem Verderben bestimmt hatte, unmöglich, auch nur mit anscheinender Gleichgültigkeit ansehen.

Er bemerkte ihre Bewegung und fragte, ob sie sich nicht wohl befände. Sie sah, in welche Gefahr sie sich setzen konnte, und um ihn nicht die wahre Ursache ahnden zu lassen, raffte sie alle Kräfte zusammen und antwortete mit heiterem Gesicht, daß ihr nichts fehlte.

Bey Tisch erhielt sie sich in einer Fassung, welche würklich die mannigfaltige Angst ihres Herzens verbarg. Wenn Sie La Motten ansah, so waren Schrecken und Unwillen ihre herrschenden Gefühle; wenn aber ihr Blick auf seine Frau fiel, so empfand sie andere Regungen. Dankbarkeit für ihre vorige Zärtlichkeit hatte sich bey ihr lange in Zuneigung befestigt und ihr Herz schwoll jetzt von bittern Schmerz und Kränkung.

Frau von La Motte schien niedergeschlagen und sagte wenig. La Motte schien durch eine erzwungene Lustigkeit Gedanken zuvorkommen zu wollen: er lachte und sprach, und schüttete ganze Humpen Wein hinunter: es war die Lustigkeit der Verzweiflung. Seine Frau gerieth in Unruhe, und wollte ihm Einhalt thun, allein er beharrte bey seinen Bachusopfern, bis alle Besinnung ihn zu verlassen schien.

Frau von La Motte fürchtete, daß er in diesem Zustande sich verrathen möchte, und ging mit Adelinen in ein anderes Zimmer. Adeline erinnerte sich der glücklichen Stunden, die sie einst mit ihr zubrachte, als noch Vertrauen alle Zurückhaltung verbannte und Sympathie und Achtung, Gesinnungen der Freundschaft einflößten. Diese Stunden waren auf immer dahin; sie konnte der Frau von La Motte ihren Kummer nicht länger mittheilen, ja sie nicht länger mehr achten.

Doch war bey aller Gefahr, worein ihr sträfliches Schweigen sie gesetzt hatte, es ihr nicht möglich, mit ihr zu reden, da sie wußte, daß es das letztemahl war, ohne einen Grad von Schmerz zu empfinden, den Weisheit Schwäche nennen, Guthmüthigkeit aber mit einem sanftern Nahmen ehren wird.

Frau von La Motte schien beynahe einem gleichen Gefühl zu unterliegen: ihre Gedanken waren von dem Gegenstand des Gesprächs abwesend, und es herrschte oft eine lange Stille. Sie heftete oftmahls verstohlene Blicke der Zärtlichkeit auf Adelinen, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Adeline wurde hierdurch so sehr bewegt, daß sie verschiedenemal im Begriff war, sich ihr zu Füssen zu werfen und Mitleid und Schutz von ihr zu erflehen. Kältere Überlegung zeigte ihr, wie gefährlich und unbesonnen ein solches Betragen seyn würde: sie unterdrückte ihre Bewegung, fand sich aber endlich genöthigt, sich aus Frau von La Mottens Gegenwart zu entfernen.



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