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Neuntes Kapitel.

Das Manuscript, welches Adeline den Abend zuvor gefunden hatte, war ihr den Tag über oft eingefallen; allein sie war entweder zu sehr mit den Vorfällen des Augenblicks beschäftigt, oder zu furchtsam vor Unterbrechung gewesen, um sich daran zu wagen. Jetzt zog sie es aus der Schieblade, worin sie es verborgen hatte, hervor, und in der Absicht, nur die ersten Seiten flüchtig zu überblicken, setzte sie sich damit an ihre Bette.

Sie öffnete es mit einer heißen Neugierde, welche die entfärbte und fast erloschne Dinte nur langsam befriedigte. Die ersten Worte waren gänzlich verloren, diejenigen aber, womit die Erzählung anzufangen schien, lauteten folgendermaßen:


»O Ihr, die vielleicht dereinst Unglück oder Zufall an diesen Ort bringt, wer ihr auch seyd, mit euch rede ich! Euch offenbare ich die Geschichte meines Wehs, und fordere euch auf, es zu rächen. Vergebene Hoffnung! doch gewährt mir der Gedanke einigen Trost, daß vielleicht eines Tages ein menschliches Auge lesen wird, was ich jetzt schreibe; daß die Worte, welche mein Leiden schildern, eines Tages dem fühlenden Herzen Mitleid entlocken werden.

Doch trocknet eure Thränen! euer Mitleid ist jetzt fruchtlos. Lange haben die Qualen des Elends geendet, die Stimme der Klage ist verhallt! Es ist Schwachheit, ein Mitleid zu wünschen, das nicht eher erregt werden kann, bis ich in die Ruhe des Grabes sinke, und den Lohn der Ewigkeit genieße!

So wisset denn, daß am zwölften October 1642 ich auf dem Wege nach Caux, auf der nähmlichen Stelle, wo dem Gedächtniß des unsterblichen Heinrichs eine Ehrensäule errichtet ist, von vier Kerls ergriffen wurde, die meinen Bedienten zu Boden streckten, und mich durch Wildnisse und Wälder nach dieser Abtey brachten. Ihr Betragen glich nicht gemeinen Räubern, und ich merkte bald, daß eine höhere Macht sich ihrer zu irgend einem schrecklichen Zwecke bediente. Vergebens wandte ich Bitten, bot ich ihnen Bestechungen an, mir ihrem Anstifter zu entdecken, und ihr Vorhaben aufzugeben: sie wollten nicht das geringste von ihren Absichten verrathen.

Als sie aber nach einer langen Reise, auf diesem Gebäude mit mir anlangten, erkannte ich auf einmahl ihren nichtswürdigen Anstifter, und übersah seinen schrecklichen Plan nur zu gut. Welch ein Anblick! Alle Donner des Himmels schienen auf dieß schutzlose Haupt geschleudert! O Stärke! stähle mein Herz zu –«

 

Adelinens Licht wollte jetzt im Leuchter erlöschen, und die bleiche Dinte, die schwach beschienen wurde, vereitelte ihr Bemühen, die Züge zu unterscheiden: sie konnte kein Licht heraufhohlen, ohne zu verrathen, daß sie noch auf war, welches Verwunderung erregen, und zu einer Erläuterung führen mußte, die sie nicht wünschte. Auf solche Art gezwungen, das Lesen aufzugeben, welches so viele Ursachen ihr schauderlich anziehend machten, legte sie sich in ihr niedriges Bett.

Was sie von der Handschrift gelesen hatte, erweckte einen furchtbaren Antheil an dem Schicksale des Verfassers und rief schreckliche Bilder vor ihre Seele.

»In diesen Zimmern!« sagte sie, und schloß schaudernd die Augen.

Endlich hörte sie Frau von La Motte zu Bett gehen, und die Schreckbilder der Furcht zerstreuten sich und gaben dem Schlafe Raum.

 

Den andern Morgen weckte Frau von La Motte sie auf, und sie fand zu ihrem großen Kummer es schon so weit über ihre gewöhnliche Zeit, daß sie das Manuscript nicht mehr vornehmen konnte. – La Motte schien ungewöhnlich finster und aus seiner Frau Gesicht leuchtete eine Niedergeschlagenheit hervor, die Adeline ihrer Bekümmerniß um sie zuschrieb.

Das Frühstück war kaum verzehrt, als das Getrampel von Pferden die Ankunft eines Fremden verkündigte. Adeline sah den Marquis absteigen, und wollte schnell nach ihrem Zimmer eilen, ohne an ihr Versprechen gegen La Motte zu denken; allein der Marquis war schon im Vorsaal und richtete, als er sie fortgehen sah, einen fragenden Blick auf La Motte. La Motte rief sie zurück, und erinnerte sie durch ein nur zu verständliches Stirnrunzeln an ihr Versprechen. Sie rief alle Fassung zu Hülfe, näherte sich aber doch mit sichtlicher Bewegung, während der Marquis sie mit seiner gewöhnlichen Ungezwungenheit und leichten Munterkeit anredete.

Diese sorglose Zuversichtlichkeit verdroß und befremdete Adelinen, wiewohl sie ihren Stolz erweckte, und ihr eine gewisse Würde gab, die ihn beschämte. Er sprach mit Verlegenheit, und schien oft abwesenden Geistes zu seyn. Endlich stand er auf, und ersuchte Adelinen, ihm eine kleine Unterredung zu gönnen. Herr und Frau von La Motte wollten das Zimmer verlassen, als Adeline sich zu dem Marquis wendete, und ihm erklärte, sie wünschte keine andere Unterredung als in Gegenwart ihrer Freunde. Allein dieß war vergebens, sie waren bereits fort, und La Motte sagte ihr im Hinausgehen durch einen Blick, wie sehr ein Versuch, ihm nachzufolgen, ihn beleidigen würde.

Sie saß eine Weile in stummer, ängstlicher Erwartung.

»Ich sehe,« fing der Marquis endlich an, »daß das Betragen, wozu mich das Feuer meiner Leidenschaft hinriß, mir in Ihrer Meinung geschadet hat, und daß es mir schwer werden wird, Ihre Achtung wieder zu erlangen; allein ich hoffe, der Antrag, den ich Ihnen jetzt mit meinem Rang und Vermögen mache, wird die Aufrichtigkeit meiner Liebe hinlänglich beweisen, und das Vergehen, welches Leidenschaft allein erzeugte, vergüten.«

Nach diesem Probestück von Alltagsberedsamkeit, welches der Marquis als ein Vorzeichen des Triumphs zu betrachten schien, wollte er Adelinens Hand küssen, die sie aber schnell mit den Worten zurückzog:

»Gnädiger Herr, Sie wissen bereits meine Meinung über diesen Punct, und es ist beynahe überflüssig, Ihnen zu wiederhohlen, daß ich die mir zugedachte Ehre nicht annehmen kann.«

»Erklären Sie sich, liebenswürdige Adeline, ich wüßte nicht, Ihnen bis jetzt diesen Antrag gemacht zu haben.«

»Sie thun sehr wohl, gnädiger Herr! mich daran zu erinnern, da ich nach ihrem ersten Antrage nur auf einen Augenblick einen andern anhören konnte.«

Sie stand auf, um das Zimmer zu verlassen.

»Bleiben Sie, Fräulein,« sagte der Marquis mit einem Blicke, worin beleidigter Stolz sich zu verbergen strebte, »lassen Sie nicht eine übertriebene Empfindlichkeit gegen Ihren wahren Vortheil wirken: erinnern Sie sich, welche Gefahren Sie umgeben, und verwerfen Sie nicht so obenhin einen Antrag, der Ihnen wenigstens einen anständigen Schutzort gewährt.«

»Was auch meine Unglücksfälle seyn mögen, gnädiger Herr, so bin ich mir doch nie bewußt, sie Ihrer Bemerkung aufgedrungen zu haben; erlauben Sie mir also zu sagen, daß Ihre Erwähnung derselben mehr einer Beleidigung als einem Mitleid gleich sieht.«

Der Marquis, wiewohl mit sichtlicher Verlegenheit, war in Begriff zu antworten; allein Adeline ließ sich nicht aufhalten, und begab sich in ihr Zimmer. So hülflos sie auch war, empörte sich ihr Herz gegen seinen Antrag, und sie beschloß fest, ihn nie anzunehmen. Allerdings kam zu ihrem Mißfallen an seinem Charakter und zu dem Unwillen über seinen vorigen Antrag noch der Einfluß einer andern Neigung und eines Andenkens, das sie nicht aus ihrem Herzen vertilgen konnte.

Der Marquis blieb zu Tisch, und aus Rücksicht für La Motte, erschien Adeline, fand aber seine Blicke so unerträglich, daß sie bald sich zurückzog. Frau von La Motte folgte ihr, und erst des Abends konnte sie ihr Manuscript wieder hervorziehen. Sobald Herr und Frau von La Motte in ihrem Zimmer waren, und alles still schien, setzte sie sich zu ihrem Licht und las folgendes:


»Die Kerls banden mich von meinem Pferde los, und führten mich durch die Halle die Windeltreppe hinauf; Widerstand war vergebens, doch sah ich mich um, ob ich nicht ein Wesen erblickte, das minder hart wäre, als die Menschen, die mich hieher brachten. Umsonst! niemand erschien, und dieser Umstand bestärkte meinen ärgsten Verdacht. Diese Heimlichkeit weissagte ein schreckliches Ende. Nachdem wir durch einige Zimmer gegangen waren, standen sie in einem still, das mit alten Tapeten behangen war: ich fragte, warum wir nicht weiter gingen, und erhielt zur Antwort, ich würde es bald erfahren.

In diesem Augenblick erwartete ich, das Werkzeug des Todes aufgehoben zu sehn, und befahl mich schweigend Gott. Allein noch war der Tod mir nicht bestimmt; sie huben den Vorhang auf, und öffneten eine Thüre, ergriffen mich beym Arm und führten mich durch eine Reihe düstrer Zimmer. Im letzten standen sie wieder still, die schreckliche Dunkelheit des Orts schien einer schwarzen That geneigt und flößte mir wieder Todesgedanken ein. Nochmahls sah ich mich nach dem Werkzeug der Zerstörung um, und nochmahls wurde ich verschont. Ich flehte zu wissen, was mir aufbehalten sey: es war jetzt nicht mehr nöthig, nach dem Urheber des Anschlags zu forschen. Sie schwiegen zu meinen Fragen, sagten mir aber endlich, dieses Zimmer sey mein Gefängniß. Nach diesen Worten setzten sie mir einen Krug Wasser hin, verließen das Zimmer und ich hörte die Thüre hinter mir verschließen.

O Ton der Verzweiflung! O Augenblick unaussprechlicher Angst! die Angst des Todes selbst kann nicht schrecklicher seyn. Vom Lichte des Tages, von Freunden, vom Leben ausgeschlossen – denn so weissagte es mein Herz – in der Blüthe meiner Jahre, auf dem Gipfel meiner Aussichten, und der Ahndung von Schrecknissen Preis gegeben, furchtbarer vielleicht als alle, welche die Gewißheit erzeugen konnte. Ich erliege unter –«

 

Hier waren verschiedene Seiten der Handschrift vermodert, und ganz unlesbar. Mit vieler Mühe brachte Adeline folgendes heraus.


»Drey Tage sind nun in Einsamkeit und Schweigen verstrichen; die Schrecken des Todes schweben stets vor meinen Augen, ich will mich auf den schrecklichen Wechsel vorzubereiten suchen. Wenn ich des Morgens erwache, ist es mit dem Gedanken, daß ich nicht mehr leben werde, noch eine Nacht zu sehen. Warum wäre ich hieher gebracht, warum so strenge verhaftet, als zum Tode? Und doch, welche Handlung meines Lebens hat dieses von der Hand eines Mitgeschöpfs verdient? – Von m –

– – – – –
– – – – –

O mein Kind! O meine fernen Freunde! Nie werde ich euch wieder sehen! nie mehr den Scheideblick der Liebe empfangen! nie einen Abschiedssegen ertheilen! – Ihr wißt meinen elenden Zustand nicht – ach! durch keine menschlichen Mittel könnt ihr ihn wissen. Ihr glaubt mich glücklich, sonst würdet ihr mir zu Hülfe fliegen. Ich weiß, daß mein Schreiben mir zu nichts helfen kann; doch ist es Trost, meinen Schmerz auszuschütten; und ich segne den Mann, der minder barbarisch als seine Gefährten, mir diese Mittel, sie aufzuzeichnen, verschaft hat. Ach! er weiß nur zu gut, daß er nichts zu fürchten braucht. Meine Feder kann keine Freunde mir zu Hülfe rufen, kann meine Gefahr nicht entdecken, bis es zu spät ist. O ihr, die ihr dereinst leset, was ich jetzt schreibe, schenkt eine Thräne meinem Leiden. Oft habe ich um das Elend meiner Mitgeschöpfe geweint.«

 

Adeline hielt inne. Hier wandte sich der unglückliche Schreiber unmittelbar an ihr Herz: er sprach in der Kraft der Wahrheit, und vermöge einer starken Täuschung der Fantasie schien es, als wären seine vergangenen Leiden in diesem Augenblick gegenwärtig. Sie war eine Zeitlang unvermögend fortzufahren und saß in tiefsinnigem Schmerz.

»In diesen nähmlichen Zimmern,« sagte sie, »war der arme Leidende verhaftet – hier –«

Sie fuhr zusammen, und glaubte einen Laut zu hören, aber die Stille der Nacht blieb ungestört.

»In diesen Zimmer,« fuhr sie fort, »wurden diese Zeilen geschrieben, Zeilen, bey denen der Gedanke sein Trost war, daß dereinst ein mitleidiges Auge sie lesen würde; diese Zeit ist jetzt gekommen. Dein Elend, o du Gekränkter, wird beklagt, da, wo es erduldet ward. Hier, wo du bittest, weine ich um dich!«

Ihre Einbildungskraft war erschüttert, und die Bilder eines verirrten Geistes erschienen mit der Kraft der Wirklichkeit. Aufs neue fuhr sie fort und lauschte, und deutlich glaubte sie von einer leise hinter ihr flüsternden Stimme hier wiederhohlen zu hören. Das Papier fiel aus ihrer Hand, doch dauerte ihr Schrecken nur einen Augenblick: sie wußte, daß es nicht seyn konnte, und überzeugt, daß nur Ihre Fantasie sie hintergangen hatte, nahm sie es wieder auf und las fort:


»Wozu werde ich aufbehalten? Wozu dieses Zögern? Wenn ich sterben soll, warum nicht schnell? Drey Wochen habe ich nun in diesen Mauern zugebracht, und in dieser ganzen Zeit hat kein Blick des Mitleidens meinen Kummer gesänftigt; keine Stimme, außer meiner eigenen, in mein Ohr getönt. Die Gesichter der Menschen, die zu mir kommen, sind finster und stier; ihr Stillschweigen unüberwindlich. Diese Stille ist furchtbar! ihr, die ihr erfuhrt, was es heißt, in der Tiefe der Einsamkeit leben; die ihr eure traurigen Tage ohne einen erheiternden Laut zu hören, zubrachtet, ihr, nur ihr könnt sagen, was ich fühle, nur ihr könnt wissen, wie viel ich erdulden wollte, um nur den Ton einer menschlichen Stimme zu hören!

O harte Nothwendigkeit! O Zustand lebendigen Todes! Welche schreckliche Stille! Alles rings um mich ist todt; und lebe denn ich wirklich? oder bin ich nur Bildsäule? Ist dieses ein Traumgesicht? Sind diese Dinge wirklich? Ach – meine Sinnen verwirren sich! Dieses todtengleiche, ewige Schweigen, dieses finstere Gemach – das Schrecken fernerer Qual hat meine Fantasie zerstört. O nur eine Freundesbrust, mein mattes Haupt daran zu lehnen, ein herzlicher Laut, meine Seele zu erquicken.

– – – – –
– – – – –

Ich schreibe verstohlen; er, der mir die Mittel dazu verschaft hatte, ist, wie ich fürchte, für einige Zeichen des Mitleids, die er verrathen haben mag, gestraft worden: ich habe ihn in vielen Tagen nicht gesehen, vielleicht war er geneigt, mir zu helfen, und man läßt ihn nicht mehr zu mir. – Vergebne, eitle Hoffnung! – Nie wieder werde ich diese Mauern verlassen, so lange Leben in mir ist. –

Noch kein Tag ist verstrichen, und ich lebe noch! morgen um diese Zeit werden vielleicht meine Leiden im Tode versiegelt seyn. Ich will mein nächtliches Tagebuch fortsetzen; bis die Hand, die es schreibt, im Tode erstarrt – wann dieses Tagebuch aufhört, so wisse der Leser, daß ich nicht mehr bin. Vielleicht sind dieß schon die letzten Zeilen, welche ich jemahls schreibe.« –

– – – – –
– – – – –

Adeline hielt inne, während ihre Thränen reichlicher flossen.

»O du Unglücklicher, und war keine erbarmende Hand, dich zu retten! Ewiger Gott, deine Wege sind wunderbar!«

Ihre Fantasie, die jetzt in den Regionen, des Schreckens wanderte, überwältigte nach und nach ihre Vernunft. Es stand ein Spiegel auf dem Tische vor ihr, und sie fürchtete sich, hineinzusehen, um nicht ein anderes Gesicht als das ihrige zu treffen: andere schreckliche Bilder und fremde, fantastische Erscheinungen schwebten durch ihre Seele.

Ein hohler Seufzer schien neben ihr hin zu streichen.

»Heilige Jungfrau,« rief sie, »stehe mir bey!« und warf einen furchtvollen Blick im Zimmer umher. »Dieß ist gewiß mehr als Einbildung.«

Ihre Angst überwältigte sie jetzt so ganz, daß sie auf dem Puncte stand, die Familie herbey zu rufen, aber Furcht verspottet zu werden, hielt sie zurück. Auch fürchtete sie, sich zu bewegen, ja nur zu athmen. So wie sie dem Winde horchte, der durch das Fenster ihres einsamer Zimmers strich, glaubte sie wieder einen Seufzer zu hören. Ihre Fantasie verweigerte sich aller Herrschaft der Vernunft, und indem sie die Augen aufschlug, schien eine Gestalt, die sie nicht deutlich erkennen konnte, durch einen dunklen Winkel des Zimmers zu schleichen: ein Todesschauer durchdrang sie, und sie saß starr auf ihren Stuhl geheftet: endlich erleichterte ein tiefer Seufzer ihre gepreßte Brust, und ihre Sinnen schienen wieder zu kehren.

Da alles ruhig blieb, fragte sie sich nach einiger Zeit, ob nicht ihre Fantasie sie getäuscht hätte, und überwand ihren Schrecken so weit, daß sie sich enthielt, Frau von La Motte zu rufen: doch war ihre Seele so geängstigt, daß sie sich nicht getraute, das Manuscript wieder hervorzusuchen, sondern nach einem Gebet um Fassung und Ruhe sich zu Bette begab.

Als sie des Morgens erwachte, spielten die freudigen Strahlen der Sonne am Fenster, und vertrieben die Schreckbilder der Dunkelheit: ihr Geist, durch den Schlaf gesänftigt und gestärket, verwarf die mystischen, unruhigen Eingebungen der Einbildungskraft. Erfrischt und dankbar stand sie auf; als sie aber zum Frühstück herunter ging, floh dieser vorübergehende Strahl des Friedens bey dem Anblick des Marquis, dessen häufige Besuche auf der Abtey, nach dem was vorgefallen war, ihr mißfielen, und sie beunruhigten. Sie sah, daß er entschlossen war, auf seinen Verfolgungen zu beharren; und die Kühnheit und Fühllosigkeit dieses Betragens erregte ihren Unwillen, während es ihren Abscheu vermehrte.

Aus Schonung gegen La Motte suchte sie diese Regungen zu verbergen, wie wohl sie zu glauben anfing, daß er zu viel von ihrer Gefälligkeit forderte, und ernstlich erwog, wie sie die Nothwendigkeit, sie fortzusetzen, vermeiden könnte. Der Marquis bezeugte ihr die ehrerbietigste Aufmerksamkeit, allein sie blieb still und zurückhaltend, und ergriff die erste Gelegenheit, das Zimmer zu verlassen.

Als sie die Wendeltreppe herauf ging, trat Peter unten in den Vorsaal, und da er sie sah, stand er still, und sah sie bedenklich an. Sie bemerkete ihn nicht, allein er rief sie leise beym Nahmen, und machte ein Zeichen, als hätte er ihr etwas mitzutheilen. In dem nähmlichen Augenblick aber öffnete La Motte die Thüre des gewölbten Zimmers und Peter verschwand eilends. Sie ging in ihr Zimmer, über diesen Wink, und die Behutsamkeit, womit Peter ihn gegeben hatte, nachdenkend.

Bald aber kehrten ihre Gedanken zu dem gewohnten Gegenstande zurück. Drey Tage waren nun verstrichen, und sie hatte nichts von ihrem Vater vernommen: sie fing an zu hoffen, daß er von den heftigen Maßregeln abgestanden sey, die La Motte zu verstehen gab, und einen sanftern Plan zu ergreifen dächte: wenn sie aber seinen Charakter in Erwägung zog, schien ihr dieses unwahrscheinlich, und sie fiel in ihre vorigen Besorgnisse zurück. Ihr Aufenthalt auf der Abtei war jetzt durch die Beharrlichkeit des Marquis und durch das Betragen, welches La Motte ihr auflegte, höchst peinlich geworden; doch konnte sie nicht ohne Furcht an eine Rückkehr zu ihrem Vater denken.

Theodors Bild schlich sich oft in ihre Gedanken, und seine sonderbare, schnelle Abreise quälte sie. Sie hatte eine dunkle Ahndung, daß sein Schicksal mit dem ihrigen verwebt sey, und ihr Kämpfen, sich des Andenkens an ihn zu erwehren, zeigte ihr nur stärker, wie sehr ihr Herz an ihm hing.

Um ihre Gedanken von diesen Gegenständen abzuziehen, und die Neugier zu stillen, die in der vorigen Nacht so sehr gereizt war, nahm sie jetzt das Manuscript zur Hand, wurde aber durch die Hereinkunft der Frau von La Motte gehindert, die ihr sagte, daß der Marquis fort wäre. Sie brachten den Morgen mit Arbeiten und gewöhnlichem Gespräch zu. La Motte ließ sich nicht sehen, bis bey Tisch, wo er wenig sprach, und Adeline noch weniger. Doch fragte sie ihn, ob er nichts von ihrem Vater gehört hätte?

»Gehört habe ich nichts von ihm,« erwiederte er, »allein nach dem, was ich von dem Marquis erfahren habe, muß ich glauben, daß er nicht weit ist.«

Adeline erschrack, doch war sie im Stande, mit gehöriger Festigkeit zu antworten:

»Ich habe Sie bereits nur zu sehr in mein Unglück verwickelt, und sehe jetzt ein, daß Widerstand Sie verderben wird, ohne mir zu nutzen; aus diesem Grunde bin ich bereit, zu meinem Vater zu gehen, und Ihnen fernere Unannehmlichkeit zu ersparen.«

»Das ist ein rascher Entschluß,« versetzte La Motte, »und wenn Sie dabey beharren, werden Sie es künftig bereuen. Ich rede jetzt als Freund mit Ihnen, Adeline, und bitte Sie, mich ohne Vorurtheil anzuhören. Der Marquis hat, wie ich vernehme, Ihnen seine Hand angetragen, und ich weiß nicht, ob ich mich mehr wundern soll, daß ein Mann von seinem Rang und Gewichte eine Verbindung mit einem Mädchen ohne Vermögen und Ansehen suche; oder daß ein Mädchen in solchen Umständen nur einen Augenblick bey sich anstehen kann, die angetragnen Vortheile sich zu Nutzen zu machen. Sie weinen, Adeline, lassen Sie mich hoffen, daß Sie von der Albernheit Ihres Betragens überzeugt sind, und nicht länger mit Ihrem Glück spielen wollen. Die Freundschaft, die ich Ihnen bewiesen habe, muß Sie überzeugen, daß ich Sie schätze, und keinen andern Grund. habe, Ihnen diesen Rath zu geben, als Ihr eigenes Bestes. Doch sehe ich mich genöthigt, Ihnen zu sagen daß, wenn auch Ihr Vater nicht auf Ihre Zurückgabe dringt, ich nicht weiß, wie lange meine Umstände mir erlauben werden, Ihnen selbst diesen dürftigen Unterhalt zu reichen. Sie schweigen? –«

Der Schmerz, welchen diese Worte ihr auspreßten, erstickte ihre Sprache, und sie fuhr fort zu weinen. Endlich sagte sie:

»Lassen Sie mich zu meinem Vater gehen! Ich würde in der That die Freundschaft, deren Sie erwähnen, schlecht verdienen, wenn ich nach dem, was Sie mir gesagt haben, wünschen könnte zu bleiben; und den Marquis anzunehmen, ist mir, nach meiner Empfindung, unmöglich.«

Theodors Bild stieg vor ihr auf, und sie schluchzte laut. La Motte saß eine Weile nachdenkend:

»Seltsame Verblendung,« rief er endlich! »Ist es möglich, daß Sie bey diesem romanhaften Heroismus beharren, und einen so unmenschlichen Vater als den Ihrigen, dem Marquis de Montalt vorziehen können! Ein Schicksal so voll Gefahr einem Leben der Pracht und des Vergnügens!«

»Verzeihen Sie mir, eine Verbindung mit dem Marquis würde wohl Pracht, aber nie Vergnügen seyn! Sein Charakter ist mir zuwider, und ich ersuche Sie inständig, seiner nie wieder zu erwähnen.«



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