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Fünftes Kapitel.

Adeline und Peter setzten indessen ihre Reise ohne allen Unfall fort, und landeten in Savoyen; wo Peter sie aufs Pferd setzte, und zu Fuße neben her trabte. Als er seine väterlichen Gebirge zu Gesichte bekam, brach seine ausschweifende Freude in öftern Ausruffungen aus, und er konnte nicht aufhören, Adelinen zu fragen, ob sie jemahls in Frankreich solche Berge gesehen hätte.

»Nein, nein« sagte er, »für französische Hügel mögen sie gut genug seyn, mit unsern Gebirgen aber dürfen sie sich nicht messen.«

Adeline, in Bewunderung der erhaben und schauderlichen Scene verloren, stimmte sehr warm in Peters Behauptung ein, welches ihm Muth machte, sich noch ausführlicher über die Vorzüge seines Landes zu ergiessen: dessen Nachtheile vergaß er gänzlich, und wiewohl er seinen letzten Sous an die Kinder der Bauern verschenkte, die barfuß neben dem Pferde herliefen, sprach er doch von nichts als vom Glück und Zufriedenheit der Einwohner.

Sein Geburtsort machte in der That eine Ausnahme von der allgemeinen Beschaffenheit des Landes, er war blühend, gesund und glücklich, und hatte diese Vorzüge großentheils der Thätigkeit und Aufmerksamkeit des würdigen Landpredigers, der ihm vorstand, zu danken.

Adeline, die jetzt die Wirkungen langer Angst mit Erschöpfung zu fühlen anfing, wünschte sehnlich das Ziel ihrer Reise herbey, und fragte Petern ungeduldig, ob es noch nicht bald erreicht sey. Bey der geschwächten Stimmung ihrer Lebensgeister erregte die dunkle Größe der Gegenstände, die kurz zuvor Regungen entzückender Erhabenheit in ihr erweckten, nur schauderliche Empfindungen: sie zitterte bey dem Geräusch der Ströme, die zwischen den Klippen hinrollten, und in der Tiefe des Thals brüllten, und schauderte zurück vor dem Anblicke der Precipicen Die Übersetzerin hat hier das das englische Wort für »Felsüberhänge« einfach ›eingedeutscht‹. ( D. Hrsg.), die zu Seiten den Weg überhingen, dann wieder unter ihm sich beugten. So müde sie auch war, stieg sie doch häufig ab, um zu Fuße den steilen, steinigten Weg hinan zu klimmen, den sie zu Pferde zu reisen fürchtete.

Der Tag neigte sich, als sie einem kleinen Dorfe am Fuße der Savoyschen Alpen nahe kamen, und die Sonne, die jetzt im schönsten Abendglanz hinter ihren Gipfeln versank, warf die letzte, sanfte und glühende Beleuchtung über die Landschaft, und lockte Adelinen, so ermattet sie auch war, einen Ausruf des Entzückens ab.

Die romantische Lage des Dorfes zog bald ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es stand am Fuße einiger ungeheuern Gebürge, die eine Kette rings um einen See in kleiner Entfernung bildeten, und deren herabhängende Wälder das Dörfchen umfaßten. Der See, auch nicht vom leisesten Lüftchen bewegt, strahlte die röthliche Schattirung des Horizonts mit der erhabenen Gegend, die seinen Rand einfaßte, zurück, und verdunkelte sich jeden Augenblick mit der einbrechenden Dämmerung.

Als Peter das Dorf erblickte, brach er in ein Freudengeschrey aus.

»Gott sey Dank,« sagte er, »wir sind jetzt unserer Heimath nahe; da ist mein lieber Geburtsort. Er sieht noch gerade so aus als vor zwanzig Jahren; und da stehn auch noch die alten Bäume rund um unsere Hütte, und der breite Felsen, der hinter ihr aufsteigt. Mein braver Vater starb hier, Fräulein. Gebe Gott, daß meine Schwester noch lebt; es ist lange her, seit ich sie nicht gesehn.«

Adeline horchte mit schwermüthigem Vergnügen auf Peters kunstlose Ausdrücke, der bey der Erinnerung an die Scenen seiner vorigen Tage, sie aufs neue wieder zu durchleben schien. So wie sie sich dem Dorfe näherten, zeigte er immer auf neue Gegenstände seiner Erinnerung:

»Und dort steht auch des guten Pfarrers Haus, das so gut ist als manches Schloß. Sehn Sie, Fräulein, das große weisse Haus dort, wo der Rauch sich kräuselt, am Rande jenes Sees! Mich soll wundern, ob er noch lebt. Er war noch nicht alt, als ich den Ort verließ, und von jedermann geliebt; aber der Tod verschont niemand.«

Sie hatten nunmehr das Dorf erreicht, das äusserst nett war, wiewohl es nicht viel Bequemlichkeit versprach. Peter war kaum zehn Schritte fortgegangen, als ihm ein alter Bekannter begegnete, der ihm die Hand gab, und sich gar nicht wieder von ihm trennen konnte. Er fragte nach seiner Schwester, und hörte, sie wäre wohl und am Leben. So wie sie weiter gingen, drängten sich so viele alte Freunde um ihn her, daß Adeline des Wartens ganz müde wurde. Manche, die er bey voller Kraft des Lebens verließ, schwankten jetzt unter den Schwachheiten des Alters, während ihre Söhne und Töchter, die er nur als spielende Kinder gekannt hatte, ihm aus dem Gedächtniß gewachsen waren, und in der Blühte der Jugend da standen. Endlich kamen sie an die Hütte, wo seine Schwester, der man seine Ankunft schon gemeldet hatte, ihm entgegen kam und ihn mit unverstellter Freude bewillkommte.

Adelinens Anblick schien sie in Verwunderung zu setzen; doch half sie ihr vom Pferde, und führte sie in eine kleine reinliche Hütte, wo sie mit einer gutmüthigen Freundlichkeit sie bewillkommte, die eine bessere Lage geschmückt haben würde. Adeline bat, auf einige Augenblicke allein mit ihr zu sprechen, weil das Zimmer von Peters Bekannten ganz erfüllt war, sagte ihr dann so viel als nöthig, von ihren Umständen, und fragte, ob sie eine Wohnung in der Hütte bekommen könnte.

»Ja, Fräulein, so gut als ich sie habe, es thut mir nur leid, daß sie nicht besser ist. Aber Sie scheinen sich nicht wohl zu befinden. Was soll ich Ihnen machen?«

Adeline, die lange mit Mattigkeit und Übelseyn gekämpft hatte, erlag jetzt. Sie sagte, daß ihr wirklich nicht wohl wäre, doch hoffte sie, Ruhe würde sie wieder herstellen, und sie bäte, daß man ihr so bald als möglich ein Bette zurecht machte. Die gute Frau ging sogleich und kam bald wieder, um sie in eine kleine Kammer zu führen, deren Reinlichkeit ihre einzige Empfehlung war.

Allein ohngeachtet ihrer Ermüdung konnte sie nicht schlafen; ihre Seele kehrte trotz alles Bestrebens in die vergangenen Scenen zurück, oder stellte ihr finstere und unvollständige Erscheinungen der Zukunft dar.

Der Abstand zwischen ihrer Lage und der Lage anderer Menschen, von ihrer ersten Erziehung an, traf sie gewaltsam und sie weinte.

»Sie haben Freunde und Verwandte,« sagte sie, »die sich bestreben, sie vor allem, was ihnen schaden, ja was nur ihnen mißfallen kann, zu verwahren; die nicht nur für ihre künftige Sicherheit, sondern auch für ihre Vortheile wachen, und sie sogar abhalten, sich selbst Nachtheil zuzufügen. Ich aber habe Zeit meines Lebens nie einen Freund gekannt, bin meistens von Feinden umringt und selten von Gefahren und Widerwärtigkeiten frey gewesen. Doch gewiß – ich bin nicht geboren, um ewig elend zu seyn; die Zeit wird kommen, wo – –«

Sie wollte eben dem Gedanken nachhängen, daß sie eines Tages noch glücklich seyn könnte, als plötzlich Theodors Lage ihr einfiel, und sich nun ausrief:

»O nein, niemahls kann ich nur Ruhe hoffen!«

 

Des andern Morgens in aller Frühe kam die gute Hausfrau, um zu fragen, wie sie geschlafen hatte, und fand, daß sie wenig Schlaf gehabt, und sich weit schlimmer befand als am Abend zuvor. Die Unruhe ihres Gemüths trug vieles bey, die fieberhaften Symptomen, die sich bey ihr zeigten, zu erhöhen, und noch an demselben Tage nahm ihre Krankheit ein sehr ernsthaftes Ansehn. Sie bemerkte ihren Fortschritt mit Fassung, ergab sich in den Willen der Vorsehung und fühlte wenig Kummer, das Leben zu verlassen.

Ihre gütige Wirthinn that alles, was sie konnte, um ihr Erleichterung zu verschaffen, und es war weder Arzt noch Apotheker im Ort, der der Natur hätte in den Weg treten, und ihr einen ihrer Vortheile rauben können. Demohngeachtet nahm die Krankheit schnell zu, und am dritten Tage fing sie an zu fantasieren, worauf sie in einen Zustand der Betäubung sank.

Sie wußte nicht, wie lange sie in diesem kläglichen Zustande gelegen hatte; als sie aber ihre Besinnung wieder erhielt, fand sie sich in einem Zimmer, das ihr ganz unbekannt war. Es war geräumig und schön, das Bett und alle Geräthschaften einfach und elegant. Einige Minuten lag sie in einer Verzückung von Erstaunen, und suchte ihre zerstreuten Vorstellungen von dem Vergangenen zu sammlen, indem sie beynahe fürchtete sich zu bewegen, damit nicht das angenehme Gesicht vor ihren Augen verschwände.

Endlich wagte sie, sich aufzurichten; sogleich hörte sie eine sanfte Stimme neben ihr sprechen, und sah den Vorhang an einer Seite leise von einem schönen Mädchen in die Höhe ziehn, das sich über das Bette bog, und mit einem Lächeln gemischter Zärtlichkeit und Freude fragte, wie sie sich befände?

Adeline staunte mit stummer Bewunderung das süßeste weibliche Gesicht an, das sie jemahls gesehn hatte; ein Gesicht, in welchem der Ausdruck von Sanftheit mit lebhaftem Geiste und Feinheit verbunden, durch edle Einfalt geadelt war.

Endlich sammelte sie sich so weit, um dem holden Geschöpfe danken zu können, und wünschte zu wissen, wo sie sey.

»Wir haben zu danken,« sagte das süße Mädchen und drückte ihr die Hand; »o wie freu ich mich zu sehn, daß Sie wieder zur Besinnung gekommen sind!«

Mit diesen Worten flog sie nach der Thüre und verschwand. In wenig Minuten kam sie mit einem ältlichen Frauenzimmer wieder, das sich mit zärtlicher Theilnahme dem Bette näherte, und nach Adelinens Befinden fragte: sie antwortete auf diese Frage so gut, als die Bewegung ihrer Lebensgeister es zuließ, und wiederhohlte ihren Wunsch zu wissen, wem sie so sehr verbunden sey.

»Das sollen Sie schon nachher erfahren,« sagte das Frauenzimmer, »für jetzt beruhigen Sie sich damit, daß diejenigen, die um Sie sind, sich durch Ihre Genesung reichlich für ihre Mühe belohnt halten werden. Unterwerfen Sie sich nur allem, was sie befördern kann, und halten Sie sich so ruhig als möglich.«

Adeline lächelte dankbar und nickte eine schweigende Einwilligung. Das Frauenzimmer ging hinaus um Arzney zu holen, die sie Adelinen eingab, den Vorhang wieder zuzog, und sie der Ruhe genießen ließ. Allein ihre Gedanken waren zu beschäftigt, um sie ruhen zu lassen. Sie betrachtete das Vergangene und sah das Gegenwärtige, und wenn sie beydes verglich, erfüllte der Abstand sie mit Erstaunen. Das Ganze schien ihr gleich einer der plötzlichen Verwandlungen, die in Träumen so häufig sind, wo wir von Schmerz und Verzweiflung ohne, zu wissen wie, zu Wohlgenuß und Entzücken übergehn.

Doch sah sie mit banger Angst, die ihre Genesung zu verspäten drohte, auf die Zukunft hin, und wenn sie der Worte ihrer Wohlthäterinn sich erinnerte, bemühete sie sich, diese Bangigkeit zu unterdrücken. Hätte sie die Denkungsart der Menschen, bey welchen sie jetzt sich befand, besser gekannt, so würde ihre Ängstlichkeit, in so fern sie nur ihre eigne Person betraf, sich sehr vermindert haben. La Lüc, der Besitzer dieses Hauses, gehörte zu den seltnen Menschen, zu welchem das Unglück nicht leicht vergebens um Hülfe blickte, und deren angeborne Güte, durch Grundsätze befestigt, einförmig und unanmaaßend sich in Handlungen zeigt. Folgendes kleines Gemählde seines häuslichen Lebens, seiner Familie und Sitten wird seinen Charakter in helleres Licht setzen: es wurde nach dem Leben gezeichnet, und seine Wahrheit wird hoffentlich dessen Länge vergüten.


Die Familie La Lüc.

In dem Dorfe Leloncourt, das wegen seiner pittoresken Lage am Fuße der Savoyischen Alpen berühmt ist, lebte Arnaud La Lüc, ein Geistlicher, geboren aus einer alt adlichen Familie in Frankreich, die ihr zertrümmertes Vermögen zu einer Zeit, wo die Wuth des bürgerlichen Aufstandes die Hugenotten verfolgte, eine Zuflucht in der Schweiz zu suchen zwang. Er war Pfarrer des Orts und eben so beliebt, wegen der Frömmigkeit und Menschenliebe, die den Christen bezeichnet, als geachtet wegen der Würde und erhabnen Gesinnung des Philosophen. Seine Philosophie war die der Natur, von gesundem Menschenverstande geleitet. Er verachtete das Geschwätz der neuern Schulen und die glänzende Ungereimtheit von Systemen, die ihre Schüler geblendet haben, ohne sie aufzuklären, und sie geführt ohne zu überzeugen.

Sein Geist war durchdringend; sein Blick weit und sein System, so wie seine Religion, einfach, der Vernunft gemäß und erhaben. Die Bewohner seines Kirchspiels sahen ihn als ihren Vater an; während seine Lehren ihre Gemüther lenkten, rührte sein Beyspiel ihre Herzen.

In früher Jugend verlor La Lüc ein zärtlich geliebtes Weib. Dieser Verlust warf einen Anstrich sanfter, rührender Schwermuth auf seinen Charakter, welcher ihm blieb, als schon die Zeit die Erinnerung daran geschmolzen hatte. Philosophie hatte sein Herz gestärkt, nicht verhärtet; sie machte ihn fähig, dem Druck des Kummers vielmehr zu widerstehen, als ihn abzuschütteln.

Eigne Widerwärtigkeit Die Übersetzerin verwendet das Wort hier sozusagen ›transitiv‹, indem die La Lüc widerfahrene ›Widerwärtigkeit‹ gemeint ist. » Calamity taught him …« heißt es im Original: »Eigenes Unglück lehrte ihn …«. ( D. Hrsg.) lehrte ihn mit inniger Theilnahme das Leiden andrer empfinden. Sein Einkommen von seiner Pfarrey war klein, und der Überrest des getheilten und geschmolzenen Vermögens seiner Vorfahren vermehrte es nicht sehr: allein wenn er auch nicht immer allem Mangel des Dürftigen abhelfen konnte, reichte doch stets sein Mitleid und lehrreiches Gespräch dem geistig Leidenden Trost und Beruhigung.

Oft bewegten ihn bey solchen Gelegenheiten die süßen, erhabnen Empfindungen seines Herzens, zu sagen, daß der Wollüstling, könnte er nur einmahl dieses Gefühl schmecken, nie mehr den süßen Wohlgenuß, Gutes zu thun, vorbey lassen würde. Unwissenheit des wahren Vergnügens leitet weit häufiger; als Reiz des falschen zum Laster.

La Lüc hatte einen Sohn und eine Tochter, die beym Tode ihrer Mutter zu jung waren, um ihren Verlust zu beklagen. Er liebte sie mit äusserster Zärtlichkeit als Abkömmlinge derjenigen, die er nie zu beweinen aufhörte; und es war eine Zeitlang seine einzige Freude, die allmählige Entfaltung ihrer zarten Seelen zu beobachten, und sie zum Guten zu lenken.

Er behielt den tiefen, stillen Kummer seines Herzens für sich allein: nie drängten seine Klagen sich andern auf, und selten nannte er seine Verstorbene. Seine Schmerz war zu heilig für das gemeine Auge. Oft zog er in die tiefe Einsamkeit der Gebürge sich zurück, brütete zwischen ihren schauderlichen furchtbaren Abgründen über der Erinnerung vergangner Zeiten und gab sich dem vollen Genusse des Schmerzes hin.

Bey seiner Zurückkunft von diesen kleinen Wandrungen war er stets heitrer und zufriedner. Eine süße Ruhe, die fast bis zur Glückseligkeit stieg, war über seine Seele ausgegossen, und sein Betragen war wohlwollender, leutseliger als je. Wenn er seine Kinder anblickte und zärtlich sie küßte, schlich sich oft eine Thräne in sein Auge; allein es war die Thräne zärtlicher Wehmuth, unvermischt mit der scharfen Lauge des Schmerzes und seinem Herzen theuer.

Bey dem Tode seiner Frau, nahm er eine unverehlichte Schwester zu sich; ein verständiges, würdiges Frauenzimmer, die innigen Antheil an ihres Bruders Wohl nahm. Ihre zärtliche Aufmerksamkeit und vernünftiges Betragen, verfrühte Im englischen Original » anticipated«: »nahm … vorweg«. ( D. Hrsg.) die Wirkung der Zeit in Milderung seines Kummers, und ihre unermüdete Sorgfalt für seine Kinder, welche die Güte ihres eignen Herzens bewies, brachte sie dem seinigen näher.

Mit unaussprechlichem Vergnügen spähte er in Claras Zügen das Bild ihrer Mutter aus. Dieselbe Sanftheit des Betragens, das holdselige Wesen der Verblichnen entwickelten sich bald, und so, wie sie heranwuchs, erinnerten ihre Handlungen ihn oft so stark an seine verlorne Gattinn, daß er in eine Träumerey versank, welche alle Kräfte seiner Seele zu verschlingen schien.

Mit den Pflichten seines Amts, der Erziehung seiner Kinder, und philosophischen Untersuchungen beschäftigt, flossen seine Jahre ruhig dahin. Die zarte Schwermuth, womit Kummer seine Seele gefärbt hatte, war durch langes Nachhängen, ihm werthgeworden, und er würde sie nicht um den glänzendsten Traum luftigen Glücks hingegeben haben.

Wenn ein vorübergehender Unfall Im englischen Original » passing incident«: »ein (sich ereignender) Vorfall«. ( D. Hrsg.) ihn bekümmerte, so suchte er Trost bey dem Bilde von ihr, die er so treu geliebt hatte, und einer sanften, von der Welt romanhaft genannten Wehmuth sich überlassend, gewann er allmählig seine Fassung wieder. Dieß war das geheime Wohlgefühl, zu dem er von kleinen Verdrüßlichkeiten sich zurückzog, der einsame Genuß, welcher die Wolke des Kummers zertheilte, seine Seele über diese Welt empor hob, und die Erhabenheit einer andern seinem Blicke öffnete.

Der Fleck Erde, den er jetzt bewohnte, die umliegende Gegend, die romantischen Schönheiten der nahen Spaziergänge waren ihm theuer: denn einst hatte Clara sie geliebt! sie waren die Zeugen ihrer Zärtlichkeit, seines Glücks gewesen.

Sein Haus stand am Rande eines kleinen Sees, den Berge von unermeßlicher Höhe fast umringten, die in mannigfaltigen grotesken Formen aufsteigend, eine wunderbar feyerliche, erhabne Scene bildeten. Bereits in diesem Werk, das im Original 1791 erschien, nähert sich Ann Radcliffe einer neuen Ästhetik der Landschaftswahrnehmung, die dem bislang prädominanten Ideal der arkadischen Landschaft mit ihrem » locus amoenus« als gleichwertig gegenübergestellt und später in ihrem Hauptwerk, The Mysteries of Udolpho (1794), zur Vollendung gebracht wird. Dort (Teil I, Kapitel 5) verwendet die Dichterin auch die berühmt gewordene Formulierung: » beauty sleeping in the lap of horror«: der Ausdruck, an ›Dornröschen‹ gemahnend, bringt das Landschaftsideal der gothic novel auf den Punkt: grandiose, pittoreske Schönheit, die den Betrachter zugleich erschauern lässt. – Ann Radcliffe hat in The Mysteries of Udolpho diese Passage in Anführungszeichen gesetzt und kennzeichnet sie damit als Zitat. Tatsächlich ist ihr exakter Wortlaut so nicht nicht zu identifizieren; jedoch findet sich in dem Werk › Observations … on the Mountains and Lakes of Cumberland and Westmoreland‹ (1786) von William Gilpin, dem theoretischen und praktischen Begründer des ›Pittoresken‹ in der bildenden Kunst in England, eine Stelle, wo der Autor, gelegentlich der Beschreibung von Derwentwater, einen gewissen Mr. Aviton, Organist von St. Nicholas in Newcastle, erwähnt, von dem es heißt, er habe den See, als er sich inmitten der Berge befand, mit dem Ausruf beschrieben: » here is beauty indeed - beauty lying in the lap of horror!« Dass Ann Radcliffe William Gilpin gelesen hat, geht unzweifelhaft aus ihren Tagebüchern hervor. Interessant ist zudem, wie unmittelbar die Idee von Radcliffes alpinem Szenario nicht etwa auf konkrete Anschauung der betreffenden fremden Landschaften, sondern auf die graphische Kultur des 18. Jh. im Zusammenhang des inländischen Tourismus zurückgeht. (Siehe die Notiz von Mark Bennett in › Romantic Textualities‹ 2014) ( D. Hrsg.) Dunkle Wälder, mit kühnen Vorragungen der oft nackten, oft mit der Purpurblühte wilder Blumen bedeckten Felsen untermischt, hingen über den See, und schimmerten im klaren Spiegel des Wassers. Die wilden Alpengebürge, die in weiterer Ferne empor stiegen, waren entweder mit ewigem Schnee bedeckt, oder zeigten schreckliche Klippen und Massen von harten Felsen, deren Anblick stets wechselte, so wie die Strahlen des Lichts verändert auf ihrer Oberfläche spielten, und deren Häupter oft in undurchdringliche Nebel gehüllt waren. Einige Hütten und kleine Gruppen von Häusern, am Rande des Sees zerstreut, oder in pittoresken Prospecten oben am Felsen schwebend, waren die einzigen Gegenstände, die den Anstaunenden an die Menschheit erinnerten.

An einer Seite des Sees, schräg dem Hause gegenüber, wichen die Gebürge zurück, und eine lange Kette von Alpen dehnte sich perspectivisch aus. Ihre unzähligen Farben und Schattirungen, einige in blaue Nebel gehüllt, andre mit reichem Purpur bestrichen, und wieder andre nur, zum Theil in Licht schimmernd, gaben der Scene ein reiches und zaubrisches Colorit.

Das Haus war nicht übermäßig groß, aber sehr bequem, und zeichnete sich durch elegante Einfalt und gute Ordnung aus. Der Eingang war ein kleiner Vorsaal, der durch eine Glasthüre, die an den Garten stieß, eine Aussicht auf den See und das prachtvolle Schauspiel an seinen Ufern gab. Zur linken des Vorsaals lag La Lücs Studierzimmer, wo er gewöhnlich seinen Morgen zubrachte; und gleich daran stieß ein kleines Cabinet mit chymischen Apparaten, astronomischen Instrumenten und andern wissenschaftlichen Werkzeugen.

Zur Rechten war das gemeinschaftliche Wohnzimmer und hinter demselben ein Gemach, das ausschließend die Mademoiselle La Lüc bewohnte. Hier wurden verschiedne Arzneyen und Destillationen aus Kräutern nebst dem Apparat zu ihrer Bereitung aufbewahrt. Aus diesem Zimmer wurde das ganze Dorf reichlich mit physischen Trost versehn: denn Mademoiselle setzte einen Stolz darin, für erfahren in Heilung der Krankheiten ihrer Nachbarn gehalten zu werden.

Hinter dem Gebäude stieg eine Gruppe von Fichten auf, und vorn dehnte eine lehne Siehe Anm. 1. ( D. Hsrg.) Anhöhe, mit Gras und Blumen bedeckt, sich bis zum See hin, dessen Wellen mit dem Rasen gleichflossen, und den Acacien, die über seiner Fläche hinwehten, glühende Frische ertheilten. Blühende Stauden, mit Ulmen, Cypressen und immer grünen Eichen Quercus turneriPseudoturneri‹, z. B. die Grüneiche oder die Steineiche. Das natürliche Areal der Immergrünen Eiche befindet sich allerdings in den nördlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. Insofern ist fraglich, ob am Alpenrand solche Bäume vorzufinden waren. ( D. Hrsg.) untermischt, bezeichneten die Gränze des Gartens.

Wenn der Frühling wiederkehrte, war es Clarens Geschäft, die neu aufgeschoßnen Pflanzen zu binden, die Knospen der Blumen zu begießen, und sie mit den üppigen Zweigen der Sträuche vor den kalten Nordwinden, die von den Bergen herabbliesen, zu schützen. Im Sommer stand sie gewöhnlich mit der Sonne auf, und besuchte ihre Lieblingsblumen, wenn noch der Thau an ihren Blättern glänzte. Die Morgenkühle mit dem glühenden Colorit, welches dann die Gegend färbte, gaben ihrem unschuldigen Herzen ein reines und auserlesnes Vergnügen.

Mitten unter Scenen des Großen und Erhabnen geboren, hatte sie früh einen Geschmack für ihre Reize eingesogen, den die Einwirkung ihrer lebhaften Einbildungskraft erhöhte. Die Sonne über den Alpen aufgehn zu sehen, wie sie ihre beschneiten Häupter erleuchtete, und plötzlich ihre Strahlen über die ganze Natur ausschoß – den feurigen Glanz der Wolken im See unten sich spiegeln zu sehn, und den ersten Rosenhauch, der sich auf die emporragenden Felsen schlich, – waren die frühsten Vergnügungen, deren Clara empfänglich war.

Entzückt, die Natur selbst zu beobachten, gewann sie auch bald einen Geschmack für ihre Nachbildung und entwickelte frühzeitig eine glückliche Anlage zu Poesie und Mahlerey. Sie wählte aus ihres Vaters Bibliothek die italienischen Dichter, die wegen ihrer mahlerischen Schönheit am berühmtesten sind, und brachte oft die ersten Morgenstunden damit hin, unter dem Schatten der wilden Schlehen, die den Teich einfaßten, sie zu lesen. Hier versuchte sie auch oftmahls, rohe Abrisse von der umliegenden Gegend zu zeichnen, und endlich, durch wiederhohlte Versuche und durch einige Anweisung ihres Bruders, gelang es ihr so gut, daß sie zwölf Zeichnungen mit Crayon zu Stande brachte, die werth gefunden wurden, das große Wohnzimmer zu schmücken.

Der junge La Lüc spielte die Flöte und mit innigem Entzücken hörte sie ihm zu, wenn er am Rande des Sees unter ihren geliebten Acacien stand. Ihre Stimme war süß und langsam Im englischen Original » flexible«; wie die Übersetzerin hier auf »langsam« kommt, ist schwer zu begreifen. – Wie auch bei ihrer Übersetzung von The Mysteries of Udolpho lässt nach der Hälfte des zu übersetzenden Textes die Aufmerksamkeit der Schriftstellerin sichtlich nach, wie es auch – neben dem grundsätzlichen Wegfall aller Motti und sämtlicher lyrischen Einlagen – nun zu deutlichen Kürzungen kommt; letzteres wird in der Vorrede bereits angekündigt. Man darf aber nicht vergessen, dass für Meta Forkel die Übersetzungsarbeit vor allem ein Mittel war, sich als geschiedene, alleinerziehende Frau finanziell über Wasser zu halten. ( D. Hrsg.), wiewohl nicht stark, und sie lernte bald sie nach den Instrumenten moduliren. Von künstlichen Verwicklungen der Töne wußte sie nichts, ihre Arien waren einfach, und ihre Methode war es ebenfalls, allein sie gab ihnen bald einen rührenden Ausdruck, durch die Fühlbarkeit » sensibility« ( D. Hrsg.) ihres Herzens eingeflößt, der selten ihre Zuhörer ungerührt ließ.

La Lüc fand sein Glück darin, seine Kinder glücklich zu sehn, und da er Claras Neigung und Talent zur Tonkunst sah, brachte er von einer kleinen Reise nach Genf ihr eine Laute zum Geschenk mit. Sie nahm sie mit mehr Dank und Freude auf, als sie aussprechen konnte, und nach dem sie ein Lied darauf spielen gelernt hatte, eilte sie zu ihren geliebten Acacien und spielte es wieder und wieder, bis sie alles andere darüber vergaß. Ihre kleinen häuslichen Geschäfte, ihre Bücher, ihr Zeichnen, selbst die Stunde, die ihr Vater zu ihrem Unterricht widmete, wo sie mit ihrem Bruder zu ihm in sein Studierzimmer kam, und gemeinschaftlich mit ihm Kenntnisse einsammelte, selbst diese Stunde wurde versäumt.

La Lüc ließ sie hingehn. Mademoiselle war unzufrieden, daß ihre Nichte die Hausgeschäfte vernachlässigte, und wollte ihr einen Verweiß geben; La Lüc aber bat sie zu schweigen.

»Möge Erfahrung sie ihren Fehler einsehen lehren,« sagte er, »Verweise bringen selten Überzeugung in junge Seelen.«

Mademoiselle wandte ihm ein, ›daß Erfahrung ein langsamer Lehrmeister sey‹.

»Er ist desto sicherer,« versetzte La Lüc, »und nicht selten der schnellste von allen; wenn keine ernstlichen Übel daraus entstehen können, so fährt man am besten, ihm zu trauen.«

Der zweyte Tag verstrich Claren wie der erste, und der dritte wie der zweyte. Sie konnte jetzt mehrere Stücke spielen und kam zu ihrem Vater, um ihm zu wiederhohlen, was sie gelernt hatte.

Beym Abendessen war der Crem nicht zurecht gemacht, und keine Früchte auf dem Tische. La Lüc fragte nach der Ursache – Clara wußte sie und erröthete. Sie bemerkte, daß ihr Bruder abwesend war, doch wurde nichts gesagt. Gegen Ende der Mahlzeit erschien er; sein Gesicht drückte ungewöhnliche Zufriedenheit aus, allein er setzte sich schweigend nieder.

Clara fragte, was ihn vom Abendessen abgehalten hatte, und hörte, daß er einer kranken Familie in der Nachbarschaft das gewöhnliche Wochengeld, welches sein Vater ihnen gab, gebracht hätte. La Lüc hatte die Sorge für diese Familie seiner Tochter aufgetragen, und sie hätte den Tag zuvor ihnen das ausgesetzte Wochengeld bringen sollen, aber sie hatte alles vergessen, außer ihrer Musik.

»Wie fandest du die Frau?« sagte La Lüc zu seinem Sohne.

»Nicht gut, lieber Vater, sie hatte ihre Arzney nicht ordentlich bekommen, und die Kinder hatten heute wenig oder gar nichts zu essen gehabt.«

Clara erschrack:

»Heute nichts zu essen gehabt,« sagte sie zu sich selbst, »und ich habe den ganzen Tag unter den Schlehen am Teiche auf meiner Laute gespielt!«

Ihr Vater that nicht, als wenn er ihre Bewegung merkte, sondern wandte sich zu seinem Sohne.

»Ich verließ sie besser,« sagte dieser, »die Arzney, die ich ihr brachte, verschaffte ihr Linderung, und ich hatte das Vergnügen, ihre Kinder eine fröhliche Abendmahlzeit verzehren zu sehen.«

Clara, vielleicht zum ersten Mahl in ihrem Leben, beneidete ihm sein Vergnügen: ihr Herz war voll, und sie saß stillschweigend.

»Heute nichts zu essen gehabt,« dachte sie!

Sie zog sich tiefsinnig in ihr Schlafzimmer zurück. Die süße Heiterkeit, womit sie sich gewöhnlich zur Ruhe legte, war verschwunden. Sie konnte nicht mit Zufriedenheit an den vergangenen Tag denken.

»Wie traurig,« sagte sie, »daß ein so angenehmes Vergnügen die Ursache so vieles Schmerzes seyn muß! Diese Laute ist meine Freude und meine Quaal! –«

Dieser Gedanke verursachte ihr einen schweren innern Kampf; aber ehe sie zu einem Entschluß über den streitigen Punct kommen konnte, fiel sie in Schlaf.

Sie erwachte sehr früh des andern Morgens, und erwartete ungeduldig den Anbruch des Tages; endlich erschien die Sonne, sie stand auf und eilte mit dem Vorsatz, alles, was sie versäumt hatte, soviel möglich gut zu machen, nach der Hütte.

Sie verweilte lange darin, und als sie wieder zurück kam, hatte ihr Gesicht alle gewohnte Heiterkeit wieder gewonnen. Doch nahm sie sich vor, diesen Tag über ihre Laute nicht anzurühren.

Bis zum Frühstück beschäftigte sie sich, die Blumen aufzubinden, und die üppigen Ranken abzuschneiden, und endlich fand sie sich ohne zu wissen wie, wieder unter ihren geliebten Acacien am See.

»Ach,« sagte sie mit einem Seufzer, »wie süß würde das Lied, was ich gestern lernte, jetzt über dem Wasser ertönen!« –

Allein sie erinnerte sich ihres Vorsatzes und hielt die Schritte zurück, die sie unwillkührlich nach dem Schlosse lenken wollte.

Um die gewöhnliche Zeit kam sie zu ihrem Vater ins Studierzimmer, und hörte aus seinem Gespräch mit ihrem Bruder über das seit zwey Tagen Gelesene, daß sie viel nützliche Kenntnisse versäumt hatte. Sie bat ihren Vater, ihr zu erklären, worauf sich dieses Gespräch bezog, allein er antwortete ganz ruhig: da sie zu der Zeit, wo diese Materie abgehandelt sey, ein anderes Vergnügen vorgezogen hätte, müßte sie sich gefallen lassen, dießmahl in der Unwissenheit zu bleiben.

»Du willst den Lohn der Arbeit von den Zeitvertreibern der Müßigkeit ernten,« sagte er, »lerne vernünftig seyn, und erwarte nicht zu vereinigen, was nicht zusammen bestehn kann.«

Clara fühlte die Richtigkeit des Verweises, und erinnerte sich ihrer Laute.

»Welches Unheil hat sie verursacht!« seufzte sie. »Doch, ich habe mir ja vorgenommen sie heute den ganzen Tag nicht wieder anzurühren. Ich will zeigen, daß ich fähig bin, meinen Neigungen zu widerstehn, wenn ich die Nothwendigkeit einsehe.«

Mit diesem Vorsatz befliß sie sich mit mehr als gewöhnlicher Emsigkeit des Lernens.

Sie blieb ihrem Entschlusse treu, und als der Tag sich neigte, ging sie in den Garten um sich zu ergötzen. Der Abend war still und ungewöhnlich schön. Man hörte nur das leise Rauschen der Blätter, das nur zu Zeiten die Stille unterbrach, um sie feyerlicher zu machen, und das ferne Murmeln der Ströme, die zwischen den Klippen hinrollten. So wie sie am See stand und die Sonne langsam unter die Alpen sinken sah, deren Spitzen mit Gold und Purpur gefärbt waren; wie sie die letzten Strahlen des Lichtes auf dem Wasser schimmern sah, dessen Fläche auch nicht das kleinste Lüftchen kräuselte, seufzte sie:

»O wie süß müßte jetzt meine Laute schallen; in diesem Augenblicke, auf dieser Stelle, wo alles rings um mich so still ist!«

Die Versuchung war zu mächtig für Claras Entschluß; sie lief ins Haus, kam mit dem Instrumente wieder zu ihren geliebten Acacien, und spielte unter ihren Schatten bis die umliegenden Gegenstände in Dunkelheit vor ihrem Anblick schwanden. Allein der Mond ging auf, und sein zitternder Glanz auf dem Wasser machte die Scene zaubrischer als je.

Es war unmöglich, einen so entzückenden Ort zu verlassen. Clara konnte sich an ihren Lieblingsarien nicht satt spielen. Die Schönheit der Stunde erweckte all ihr Genie; noch nie hatte sie mit solchem Ausdrucke gespielt, und mit zunehmendem Entzücken horchte sie auf die Töne, die über dem Wasser hinschwebten, und in der fernen Luft erstarben. Sie war ganz bezaubert.

›Nein, es ließ sich nichts entzückenders denken, als am Rande des Sees, beym Mondenlichte unter ihren lieben Acacien Laute spielen!‹

Als sie wieder ins Haus kam, war das Abendessen vorbey. La Lüc hatte Clara beobachtet, und wollte sie nicht stören lassen.

So wie die Begeisterung der Stunde verschwand, erinnerte sie sich, daß sie ihren Vorsatz gebrochen hatte, und dieser Gedanke verursachte ihr Schmerz.

»Ich war stolz darauf, meinen Neigungen Gewalt anthun zu können,« sagte sie, »und ich habe schwach ihrem Antriebe nachgegeben. Aber was habe ich Übels gethan, da ich ihnen diesen Abend folgte? ich habe keine Pflicht versäumt, denn ich hatte keine zu verrichten. Über was brauche ich mich also anzuklagen? Es würde ungereimt gewesen seyn, meinen Entschluß zu halten, und mir ein Vergnügen zu versagen, da kein Grund zu dieser Selbstverläugnung da war.«

Sie schwieg, nicht ganz befriedigt durch diese Vernünfteley. Plötzlich nahm sie die Frage wieder vor:

»Aber wie kann ich gewiß seyn, daß ich meinen Neigungen widerstanden haben würde, wäre auch wirklich Ursache dazu vorhanden gewesen? Ich fürchte, ich würde auch die arme Familie, hätte sie meiner heute Abend bedurft, über dem Lautenspiele am See wieder vergessen haben!«

Sie erinnerte sich nun, was ihr Vater ihr verschiedentlich über das Kapitel der Selbstbeherrschung gesagt hatte, und empfand einige Unruhe.

»Nein,« sagte sie, wenn ich nicht glaube, daß Beharrlichkeit bey einem Vorsatze, den ich einmahl feyerlich gefaßt habe, eine hinlängliche Ursache ist, meine Neigungen zu bekämpfen, so fürchte ich, daß kein anderer Bewegungsgrund ihn zurückhalten wird. Ich nahm mir ernstlich vor, meine Laute heute nicht anzurühren, und habe meinen Entschluß gebrochen! Morgen vielleicht werde ich in Versuchung gerathen, eine Pflicht zu vernachläßigen: denn ich habe entdeckt, daß ich mich auf meine eigene Klugheit nicht verlassen darf. Da ich also die Versuchung nicht zu überwinden fähig bin, will ich sie fliehn.«

Am folgenden Morgen brachte sie ihrem Vater die Laute, und bat ihn, sie wieder zu sich zu nehmen, und wenigstens so lange aufzubewahren, bis sie ihren Neigungen gebiethen gelernt hätte.

La Lücs Herz schwoll als sie sprach.

»Nein, meine Clara,« sagte er, »es ist unnöthig, dir deine Laute zu nehmen: das Opfer, welches du bringen wolltest, beweist, daß du mein Vertrauen verdienst. Nimm dein Instrument wieder mit: da du Muth genug hast, ihm zu entsagen, wenn es dich von deiner Pflicht abführt, so zweifle ich nicht, daß du fähig seyn wirst, seiner Gewalt über dich Einhalt zu thun, da es dir jetzt wieder gegeben wird.«

Clara fühlte einen Grad von Vergnügen und Stolz bey diesen Worten, wie sie noch nie empfunden hatte: allein sie glaubte, um das erhaltene Lob zu verdienen, müßte sie das angefangene Opfer vollenden. In der Tönen Begeisterung des Augenblicks vergaß sie die Freuden der Musik in den höhern, nach wohl verdientem Lobe zu streben, und als sie die ihr angebothene Laute ausschlug, war sie sich nur der süßesten Regungen bewußt.

»Liebster Vater,« sagte sie, indem Thränen der Freude ihr ins Auge stiegen, »erlauben Sie mir, Ihr Lob zu verdienen, und dann werde ich gewiß glücklich seyn?«

Noch nie hatte La Lüc sie ihrer Mutter so ähnlich gefunden, als sie ihm in diesem Augenblicke dünkte; er küßte sie zärtlich und weinte still.

»Du verdienst es schon,« sagte er, sobald er wieder zu reden vermochte; »und ich gebe dir deine Laute als Lohn deines Betragens zurück!« –

Diese Scene rief zu zärtliche Erinnerungen in La Lücs Herz – er gab Claren das Instrument und ging schnell aus dem Zimmer.

 

La Lücs Sohn, ein Jüngling von den vielversprechendsten Anlagen, war von seinem Vater für die Kirche bestimmt worden, und hatte eine vortrefliche Erziehung von ihm erhalten, welche er auf einer Universität zu vollenden für gut hielt. Er wählte die zu Genf. Sein Plan ging nicht nur dahin, seinen Sohn zum Gelehrten zu bilden, sondern ihn zum glücklichen Menschen zu machen. Von früher Kindheit an hatte er ihn zu Abhärtung und Ausdauer gewöhnt und so wie er zum Jüngling heranwuchs, ermunterte er ihn zu männlichen Übungen und machte ihn mit nützlichen Künsten so wie mit abstracten Wissenschaften bekannt.

Sein Geist war hoch, und feurig sein Temperament, aber sein Herz edel und fühlbar. Er sah mit den lebhaftesten Erwartungen der Jugend, Genf und der neuen Welt, die sich ihm bald aufschließen würde, entgegen; und in dem Entzücken dieser Erwartungen vergaß er den Schmerz, den er sonst bey der Trennung von seiner Familie würde empfunden haben.

Ein Bruder der verstorbenen Madame La Lüc, die von Geburt eine Engländerinn war, wohnte mit seiner Familie zu Genf. Mit seiner Frau verwandt gewesen zu seyn, war ein hinlänglicher Anspruch auf La Lücs Herz, und er hatte stets ein freundschaftliches Verhältniß mit Herrn Audley unterhalten, wiewohl die Verschiedenheit ihrer Gemüths- und Denkungsart dies Verhältniß nie zu Freundschaft reifen ließ. La Lüc schrieb ihm jetzt und äußerte ihm seine Absicht, seinen Sohn nach Genf zu schicken, den er seiner Aufsicht empfahl. Herr Audley beantwortete diesen Brief aufs freundschaftlichste, und kurz nachher, da ein Bekannter von La Lüc nach Genf berufen wurde, beschloß er, daß sein Sohn ihn begleiten sollte.

Die Trennung war dem Vater schmerzhaft, und Claren beynahe unerträglich. Mademoiselle war bekümmert, und trug Sorge, eine hinlängliche Quantität Hausarzeney in seinen Koffer zu packen; wobey sie nicht unterließ, ihn mit der Heilkraft und dem Gebrauch derselben bey verschiedenen Unpäßlichkeiten ausführlich bekannt zu machen; doch war sie so vorsichtig, die Vorlesung in Abwesenheit ihres Bruders zu halten.

La Lüc und seine Tochter begleiteten den jungen Mann bis zur nächsten Stadt, wo La Lüc nochmahls allen Rath, den er ihm schon über sein Verhalten, und die Einrichtung seiner Studien gegeben hatte, wiederhohlte, und ihm mit aller zärtlichen Schwäche eines Vaters, das letzte Lebewohl sagte. Clara weinte und empfand tiefere Betrübniß, als die Veranlassung rechtfertigte; allein es war beynahe das erstemahl, daß sie Kummer gekannt hatte, und sie gab kunstlos » artlessly«; hier: offen, ohne Geziertheit. ( D. Hrsg.) seiner Gewalt nach.

In stillem Nachdenken ritten La Lüc und Clara nach Hause, und der Tag neigte sich, als sie den See, und bald darauf ihre Wohnung zu Gesicht bekamen. Noch nie hatte sie düster geschienen bis jetzt; jetzt aber wanderte Clara traurig durch jedes verlassene Zimmer, wo sie ihren Bruder zu sehn gewohnt war, und erinnerte sich an tausend Umstände, die sie in der Gegenwart würde für unbedeutend gehalten haben, denen aber jetzt die Einbildungskraft einen Werth verlieh. Der Garten, die Gegenstände ringsumher, alles hatte ein melancholisches Ansehn, und lange Zeit verging, ehe sie ihr natürliches Gepräge, und Clara ihre Lebhaftigkeit wieder erhielten.

 

Beynahe vier Jahre waren seit dieser Trennung verflossen, als eines Abends, da Mademoiselle La Lüc und ihre Nichte bey der Arbeit zusammen saßen, eine gute Frau aus der Nachbarschaft sie zu sprechen wünschte. Sie kam, um sich einige Arzeneymittel und den Rath der Mademoiselle La Lüc auszubitten.

»Es hat sich ein trauriger Vorfall in unserer Hütte zugetragen,« sagte sie; »das Herz thut mir weh für die arme junge Person.«

Mademoiselle bat sie, sich näher zu erklären, und die Frau erzählte, daß ihr Bruder Peter, den sie seit so vielen Jahren nicht gesehen, angekommen wäre, und ein junges Frauenzimmer mitgebracht hatte, das wahrscheinlich sterben würde. Sie beschrieb ihre Krankheit, und theilte die Umstände, die Peter von ihrer traurigen Geschichte erzählt hatte, mit, wobey sie nicht unterließ, sich solche Übertreibungen zu erlauben, als ihr Mitleid für die unglückliche Fremde, und ihr Hang zum Wunderbaren ihr eingaben.

Diese Erzählung dünkte der Mademoiselle La Lüc sehr ausserordentlich: doch bewegte sie Mitleid mit dem unglücklichen Zustande der armen Leidenden, näher nachzufragen.

»Lassen Sie mich zu ihr gehen, liebe Tante,« sagte Clara, die mit bereitwilligem Mitleid der Erzählung der armen Frau zugehört hatte; »lassen Sie mich zu ihr gehen, sie muß Trost bedürfen, und ich wünsche sehr zu sehen, wie es ihr geht.«

Mademoiselle erkundigte sich noch weiter nach den Umständen der Krankheit, legte ihre Brille nieder und erklärte, sie wollte selbst gehen. Clara bat, mitgehen zu dürfen. Sie warfen ihre Mäntel um, und folgten der Frau in ihre Hütte, wo in einer kleinen engen Kammer, auf einem elenden Bette Adeline lag, blaß, abgezehrt und unbewußt von allem, was um sie her vorging.

Mademoiselle wandte sich zu der Frau und fragte sie, wie lange das junge Frauenzimmer schon so gelegen hätte? während Clara ans Bette trat, die beynahe leblose Hand, die auf der Decke lag, ergriff, und sie bekümmert ansah.

»Sie wird nichts gewahr,« sagte sie, »das arme Geschöpf! Wenn sie doch in unserm Hause wäre! Sie würde mehr Bequemlichkeit haben, und ich wollte sie verpflegen.«

Die Frau sagte der Mademoiselle La Lüc, daß die Kranke schon verschiedene Stunden so gelegen hätte. Mademoiselle fühlte ihr den Puls und schüttelte den Kopf.

»Diese Kammer ist sehr enge,« sagte sie.

»O gewiß, sehr enge;« rief Clara lebhaft, »sie würde in unserm Hause weit besser seyn, wenn man sie hinbringen könnte.«

»Das wollen wir erst sehen,« sagte ihre Tante, »indessen laß mich mit Petern sprechen; ich habe ihn seit vielen Jahren nicht gesehn.«

Sie ging in das vordere Zimmer, und die Frau lief aus der Hütte, um ihn zu suchen. Sobald sie fort war, sagte Clara:

»Dieß ist eine elende Wohnung für die arme Fremde, sie kann hier gewiß nicht besser werden: lassen Sie, liebe Tante, lassen Sie sie zu uns bringen, mein Vater wird es gewiß gerne sehen. Ausserdem liegt in ihrem Gesicht, so unbeseelt es auch ist, etwas, das mich ganz für sie einnimmt.«

»Wirst du denn niemahls die romanhaften Begriffe fahren lassen, die Leute nach ihrem Gesichte zu beurtheilen? Es kommt hier nicht darauf an, was für eine Art von Gesicht die Kranke hat; ihr Zustand ist beklagenswerth, und ich wünsche, ihn zu verbessern, aber zuvor muß ich mit Petern reden.«

»Ich danke Ihnen, meine beste Tante, ach so wird sie gewiß zu uns gebracht.«

Mademoiselle wollte antworten, aber indem trat Peter herein, und nach mancherley Freudensbezeugungen, womit er sie begrüßte, fragte sie ihn näher um Adelinens Geschichte, und erfuhr alles, was Peter selbst davon wußte, welches nicht mehr war, als daß sein voriger Herr sie in einer sehr bedrängten Lage gefunden, und daß er sie von der Abtey weggebracht hätte, um sie vor den Verfolgungen eines französischen Marquis zu retten.

Peters einfältiges, ehrliches Wesen ließ ihr nicht zu, seine Wahrhaftigkeit zu bezweifeln, wiewohl einige Umstände sie in ausserordentliche Verwunderung setzten, so wie sie ihr ganzes Mitleid erweckten. In Clarens Augen stiegen oftmahls Thränen bey seiner Erzählung, und als er sie geendigt hatte, sagte sie:

»Ich weiß gewiß, liebe Tante, wenn mein Vater die Geschichte dieses unglücklichen jungen Mädchens hört, so wird er sich nicht weigern, ihr an Vatersstatt zu seyn, und ich will sie als meine Schwester lieben.«

»Sie verdient es gewiß,« sagte Peter, »denn sie ist sehr gut.« –

Er ergoß sich nun in einen Schwall von Lobeserhebungen, die bey ihm ungewöhnlich waren. –

»Ich will nach Hause gehen, und die Sache mit meinem Bruder überlegen,« sagte Mademoiselle La Lüc; »allerdings müßte sie in ein luftigeres Zimmer gebracht werden. Unser Haus ist nahe, daß ich denke, man wird sie ohne Gefahr zu uns schaffen können.«

»Gott segne Sie, Mademoiselle,« rief Peter und schlug in die Hände, »Gott segne Sie für Ihre Güte gegen dieß arme Kind«

La Lüc war eben von seinem Abendspaziergange zu Hause gekommen, als sie herein traten. Sie sagten ihm, wo sie gewesen waren, und seine Schwester erzählte ihm Adelinens Geschichte und gegenwärtigen Zustand.

»O laßt sie auf alle Weise hierher bringen,« sagte La Lüc, dessen Augen von der Empfindlichkeit seines Herzens zeugten, »sie kann hier besser verpflegt werden, als in Susannens Hütte.«

»O das wußte ich, daß Sie so sagen würden, mein liebster Vater,« rief Clara; »ich will sogleich das grüne Bett für sie zurecht machen.«

»Nur nicht so hitzig, Nichte,« fiel Mademoiselle ein – »es ist keine so große Eile nöthig; man muß erst einige Dinge überlegen; allein du bist jung und romanhaft –«

La Lüc lächelte.

»Es ist schon spät und kühl,« fuhr sie fort, »und es dürfte gefährlich seyn, sie vor Morgen herzubringen. Morgen aber in aller Frühe soll ein Zimmer zurecht gemacht, und sie herüber gehohlt werden: indessen will ich ihr eine Arzeney zubereiten, die ihr gute Dienste leisten wird.«

Clara willigte widerstrebend ein, und Mademoiselle begab sich in ihr Kabinet.

Am folgenden Morgen wurde Adeline, in Decken gehüllt, und so gut als möglich vor der Luft verwahrt, nach dem Hause gebracht, wo der gute La Lüc wünschte, daß man alle Sorgfalt auf sie wenden möchte, und wo Clara mit unermüdeter Zärtlichkeit und Besorgniß ihrer wartete. Sie blieb fast den ganzen Tag über in Bewußtlosigkeit liegen; gegen Abend aber athmete sie freyer, und Clara hatte die Freude, endlich ihre Sinnen wieder hergestellt zu sehen.

In diesem Augenblick war es, als sie sich in der Lage fand, von welcher wir uns diese Abschweifung erlaubten, um eine nähere Beschreibung von dem ehrwürdigen La Lüc und seiner Familie zu geben. Der Leser wird finden, daß seine Tugenden und Freundschaft für Adelinen diese Erwähnung verdienten.



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