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Das
Abentheuer im Walde.


Erstes Kapitel.

In dem Herzen, dessen einmahl schnöder Eigennutz sich bemächtigt, erstirbt die Quelle jedes warmen und edlen Gefühls; ein Gift der Tugend und des Geschmacks am Schönen, verdirbt er diesen, so wie er jene vernichtet. Es wird eine Zeit kommen, mein Freund, wo der Tod die Bande der Habsucht auflösen, und es der Gerechtigkeit vergönnt seyn wird, wieder in ihre Rechte zu treten.«

Mit diesen Worten nahm der Advokat Nemours von dem Herrn de La Motte Abschied, als dieser um Mitternacht in den Wagen stieg, der ihn von Paris, von seinen Gläubigern und der Verfolgung der Gesetze entfernen sollte. De La Motte dankte seinem Freunde für den letzten Beweis seiner Güte, für die Beförderung seiner Flucht, und sagte ihm noch ein letztes trauriges Lebewohl. Die Todtenstille der Stunde und seine äußerst bedrängte Lage versenkten ihn in stummen Tiefsinn.

Diejenigen Leser, welche Guyot de Pitaval kennen, den treusten der Schriftsteller, welche uns die Rechtshändel im Pariser Parlament während des siebenzehnten Jahrhunderts aufbehalten haben, werden sich gewiß der merkwürdigen Geschichte zwischen Pierre de La Motte und dem Marquis Philipp de Montalt erinnern; und ihnen sey hiemit zur Nachricht gesagt, daß der Flüchtling, den wir hier in ihre Bekanntschaft einführen, eben dieser Pierre de La Motte war.

Als Frau von La Motte sich aus dem Kutschenschlage lehnte, und den letzten Scheideblick auf die Mauern von Paris warf – diese Scene ihres vergangenen Glückes, den Aufenthalt so vieler, die ihrem Herzen theuer waren, wich die Standhaftigkeit, welche bisher sie aufrecht hielt, der Gewalt des Schmerzes.

»Lebt alle wohl!« seufzte sie, »noch diesen Blick, und wir sind auf immer getrennt.« –

Thränen folgten ihren Worten; sie sank zurück und überließ sich ihrer Wehmuth. Die Erinnerung vergangener Zeiten drang schwer an ihr Herz. Noch vor wenig Monathen hatte sie sich von Freunden umgeben gesehen, im Schooße des Überflusses und der Ehre! jetzt des allen beraubt, eine elende Verwiesene aus ihrem Geburtsort, ohne Heimath, ohne Trost – ohne Hoffnung besserer Zeiten! Es war nicht ihr geringstes Leiden, daß sie Paris hatte verlassen müssen, ohne von ihrem einzigen Sohne Abschied zu nehmen, der sich bey seinem Regiment in Deutschland befand; ja, man hatte sie so eilig fortgetrieben, daß sie nicht Zeit behielt, ihm von ihrer Abreise und der unglücklichen Veränderung in seines Vaters Umständen Nachricht zu geben, hätte sie auch den Ort, wo er im Quartier lag, gewußt.

Pierre de La Motte stammte aus einem alten adelichen Geschlecht in Frankreich. Er war ein Mann, dessen Leidenschaften oft seine Vernunft überwältigten, und auf eine Zeitlang die bessere Stimme in seinem Innern betäubten; doch erlosch das Bild der Tugend, welches die Natur seinem Herzen eingeprägt hatte, nie ganz, wenn gleich der vorübergehende Reiz des Lasters es oft verdunkelte. Mit etwas mehr Seelenstärke, um der Versuchung zu wiederstehen, würde er ein schätzbarer Mensch gewesen seyn; so war er stets ein schwacher, und oft ein lasterhafter. Sein Geist war thätig und unruhig; seine Einbildungskraft war feurig, und verblendete oft, von der Gewalt der Leidenschaft unterstützt, sein Urtheil, und warf seine Grundsätze um. Unstät in seinen Zwecken, ohne festen Begriff von Tugend, leitete mehr Empfindung des Augenblicks, als Grundsatz seine Handlungen, und seine Tugend – wenn er je welche besaß – vermochte nie dem Drange des gegenwärtigen Eindrucks zu widerstehen.

Er hatte sich in früher Jugend mit Constanze Valencia, einem schönen reizenden Mädchen, das an ihrer Familie hieng, und von ihr zärtlich geliebt ward, vermählt. Ihre Geburt war der seinigen gleich; ihr Vermögen größer, und ihre Verbindung wurde unter dem schmeichelnden Beyfall und den frohen Glückwünschen aller ihrer Bekannten gefeiert. Ihr Herz hing an La Motte, in welchem sie eine Zeitlang den zärtlichsten Gemahl fand, bald aber rissen die verführerischen Lockungen von Paris ihn hin, und nach wenig Jahren ging sein Vermögen und seine Liebe im Strudel der Zerstreuung verloren. Ein falscher Stolz verhindert ihn, seinem Besten gemäß zu handeln und sich mit Ehren zurückzuziehen, so lange es noch Zeit war; seine angenommene Gewohnheiten ketteten ihn an den Ort seiner bisherigen Vergnügungen, und er lebte auf großen Fuß fort, bis alle Mittel erschöpft waren.

Endlich erwachte er aus seiner Betäubung, aber nur um sich in neue Verirrungen zu stürzen, und Plane zur Wiederherstellung seiner Finanzen zu versuchen, die ihn nur tiefer zum Verderben führten. Die Folgen einer Geschichte, worin er sich verwickelt hatte; trieben ihn jetzt mit dem kleinen Rest seines gescheiterten Vermögens zu einer gefährlichen und schimpflichen Flucht.

Es war seine Absicht, in eine der südlichen Provinzen zu gehen, und an den Gränzen des Königreichs in einem entlegenen Dorfe eine Zuflucht zu suchen. Seine Familie bestand aus seiner Frau, ihrem Mädchen und einem Bedienten, welche treu dem Schicksal ihrer Herrschaft folgten.

Die Nacht war dunkel und stürmisch, und sie mochten kaum anderthalb Meilen zurückgelegt haben, als Peter, der die Stelle des Kutschers vertrat, auf einer wüsten Haide, wo mehrere Wege sich kreuzten, still hielt und seinem Herrn sagte, daß er nicht wüßte, welchen Weg er einschlagen sollte. Das plötzliche Stillhalten des Wagens weckte La Motten aus seiner Träumerey, und erfüllte die ganze Gesellschaft mit Furcht vor Nachsetzern: er konnte Petern keine Richtung anzeigen, und die tiefste Finsterniß machte es gefährlich, ohne Richtung weiter zu fahren.

In dieser Angst sahen sie in einer Entfernung Licht, und nach vielem Zweifeln und Bedenken stieg La Motte aus und ging, in Hoffnung, Menschen zu finden, die ihn zurechtweisen könnten, darauf zu: er ging langsam vorwärts, weil er unbekannte Abgründe fürchtete. Das Licht kam aus dem Fenster eines kleinen alten Hauses, das eine Viertelstunde weit von ihnen einsam auf der Haide stand.

Nachdem er die Thüre erreicht hatte, stand er einige Augenblick still und lauschte ängstlich – er hörte nichts als das Brausen des Windes, der hohl über die Wüste strich. Endlich wagte er anzuklopfen, und nach Verlauf einiger Zeit, wo er verschiedene Stimmen sich bereden hörte, wurde er gefragt, was er begehrte? La Motte antwortete: er sey ein Reisender, der den Weg verloren hätte, und um Zurechtweisung nach der nächsten Stadt ersuchte.

»Die liegt über drey Meilen von hier,« sagt der Mann, »und der Weg ist äußerst schlecht, wenn Sie ihn auch sehen könnten. Wenn Sie nichts weiter als ein Bette verlangen, so steht es Ihnen zu Diensten, und sie thäten besser, hier zu bleiben.«

Der heftige Sturmwind, der immer wüthender auf La Motte eindrang, ließ ihn nicht ohne Furcht daran denken, vor Tagesanbruch weiter zu fahren; indessen wünschte er doch den Mann, mit dem er sprach, zu sehen, ehe er seine Familie diesem Hause anvertraute, und verlangte eingelassen zu werden. Eine lange, hagere Gestalt mit einem Licht in der Hand, öffnete die Thüre und nöthigte ihn herein.

Er folgte dem Mann durch einen Gang in ein fast unmöblirtes Zimmer, wo in einer Ecke ein Bett auf der Erde gebreitet lag. Das öde, verfallene Ansehen dieses Gemachs erregte in La Motte einen unwillkührlichen Schauder, und er war im Begriff, wieder herauszugehen, als der Mann ihn zurückstieß und die Thüre hinter sich verschloß. Der Muth verließ ihn, doch machte er einen verzweifelten, wiewohl vergeblichen Versuch, die Thüre zu sprengen und rief laut um Hülfe. Er erhielt keine Antwort, hörte aber über sich Stimmen von Männern: und da er nicht zweifelte, daß sie über seine Beraubung und Ermordung zu Rathe gingen, überwältigte seine Angst beynahe alle Bestimmung.

Doch nahm er bey dem Schimmer eines verlöschenden Lichts ein Fenster wahr, allein die Hoffnung, welche jetzt in ihm auflebte, verschwand sogleich, als er es mit starken eisernen Stäben verwahrt fand. Solche Vorkehrungen zur Sicherheit machten ihn bestürzt, und bestärkten seinen Verdacht. Allein, unbewaffnet, ohne auf Hülfe rechnen zu dürfen, sah er sich in der Gewalt von Menschen, deren Handwerk wahrscheinlich in Rauben und Morden bestand.

Nachdem er fruchtlos alle Möglichkeiten, zu entweichen, durchdacht hatte, bestrebte er sich, dem Ausgang mit Fassung entgegen zu gehen; aber ach! diese Tugend war nicht La Mottes Eigenthum!

Die Stimmen schwiegen und eine Viertelstunde lang blieb alles still, bis er zwischen dem Sausen des Windes das Schluchzen und Winseln eines Weibes zu vernehmen glaubte: er horchte aufmerksam, und wurde in seiner Vermuthung bestärkt; es waren zu deutlich Töne des Jammers. Bey dieser Gewißheit verließ ihn jedes Fünkchen übrig gebliebenen Muths, und ein schrecklicher Gedanke flog mit Blitzesschnelligkeit durch sein Gehirn. Höchst wahrscheinlich, so glaubte er, hatten die Leute im Hause seinen Wagen entdeckt, sich des Bedienten bemächtigt, um ungestört plündern zu können, und Frau von La Motte hieher geschleppt.

Er schloß dieß um so mehr aus der Stille, die eine Weile vor diesen Tönen im Hause herrschte. Oder vielleicht waren diese Menschen nicht Räuber, sondern Personen, an die sein Freund oder Bedienter ihn verrathen, und die man bevollmächtigt hatte, ihn der Gerechtigkeit auszuliefern. Doch wagte er kaum, die Redlichkeit seines Freundes zu bezweifeln, dem er das Geheimniß seiner Flucht und den Plan seiner Reise anvertraut, und der ihm den Wagen, worinn er entfloh, verschafft hatte.

»Nein, solche Niederträchtigkeit,« rief La Motte, »kann nicht in der menschlichen Natur, am wenigsten in Nemours Herzen wohnen!«

Ein Geräusch in dem Gange zu seinem Zimmer unterbrach seinen Ausruf – es kam näher; die Thüre wurde geöffnet, und der Mann, der La Motten eingelassen hatte, führte, oder schleppte vielmehr ein schönes junges Mädchen herein. Ihr Gesicht schwamm in Thränen, und sie schien dem äußersten Jammer zu erliegen. Der Mann schloß die Thüre ab, steckte den Schlüssel in die Tasche, ging auf La Motte zu, der zuvor mehr Leute in dem Gange bemerkt hatte, und setzte ihm eine Pistole auf die Brust:

»Sie sind gänzlich in unserer Macht,« sagte er; »keine Hülfe kann Sie erreichen; wenn Sie Ihr Leben zu retten wünschen, so schwören Sie dieß Mädchen an einen Ort zu bringen, wo sie mir nie wieder zu Gesicht kommen kann; oder lassen Sie sich vielmehr gefallen, sie mit sich zu nehmen: denn auf Ihren Schwur darf ich mich nicht verlassen; wohl aber kann ich dafür sorgen, daß Sie mich nie wieder finden. Antworten Sie geschwind, Sie haben keine Zeit zu verlieren.«

Er ergriff jetzt die zitternde Hand des Mädchens, das todtenbleich vor Schrecken zurück sank, und schob sie La Motten zu, dem Erstaunen die Sprache raubte. Sie fiel ihm zu Füssen, und flehte mit Augen, die von Thränen strömten, sein Mitleid an. Bey aller seiner Angst und Erschütterung war es ihm doch unmöglich, die Schönheit und Betrübniß des Gegenstandes, der vor ihm lag, gleichgültig anzusehen. Ihre Jugend, ihre anscheinende Unschuld, der kunstlose Ausdruck ihres Betragens, drang ihm an das Herz, und er wollte reden, als der Kerl, der sein staunendes Schweigen für Unschlüßigkeit hielt, ihm zuvorkam.

»Ich habe ein Pferd bereit, Sie fortzuschaffen,« sagte er, »und will selbst Sie über die Haide bringen. Kommen Sie binnen einer Stunde zurück, so finden Sie den Tod; nach dieser Zeit aber steht es Ihnen frey, wieder zu kommen, wenn Sie wollen.«

La Motte hub ohne zu antworten, das liebenswürdige Mädchen von der Erde auf, und fühlte sich von eigener Besorgniß so sehr erleichtert, daß er die ihrige zu stillen sich bemühete.

»Lassen Sie uns gehen,« sagte der Mann, »und sparen Sie dieß Gewäsch. Sie haben von Glück zu sagen, daß Sie noch so davon kommen. Ich will gehen und das Pferd satteln.«

Diese letzten Worte erweckten La Motte und stürzten ihn in neues Schrecken: er fürchtete, seines Wagens zu erwähnen, um nicht die Räuber zum Plündern zu reizen; und mit diesem Menschen fort zu reiten, konnte noch schlimmere Folgen nach sich ziehen. Es ließ sich vermuthen, daß Frau von La Motte aus Angst und Ungeduld nach dem Hause schicken würde, wo sie dieselbe Gefahr laufen, und er noch den Schmerz mehr empfinden mußte, sich von seiner Familie getrennt und der Gefahr ausgesetzt zu sehen, den Dienern der Gerechtigkeit in die Hände zu fallen, wenn er ihr nachspürte.

Während diese Betrachtungen in tumultarischer Schnelligkeit vor seiner Seele vorüber kreuzten, hörte er ein neues Geräusch in dem Gange: es erfolgte ein Lärmen und Handgemenge, und in demselben Augenblicke erkannte er die Stimme seines Bedienten, den Frau von La Motte ihm nachgeschickt hatte. Entschlossen, nunmehr zu entdecken, was sich nicht länger verheelen ließ, rief er laut, daß er kein Pferd brauchte, weil sein Wagen nicht weit von hier hielte, und daß der Mensch, dessen sie sich bemächtigt hätten, sein Bedienter wäre.

Der Mann rief ihm durch die Thüre zu, er möchte sich nur noch einen Augenblick gedulden, bald sollte er mehr von ihm hören. La Motte richtete nun seinen Blick auf seine unglückliche Gefährtinn, die bleich und kraftlos sich an die Mauer lehnte. Ihre Züge von zartester Schönheit, hatten durch den Schmerz einen unaussprechlichen Zauber bekommen: ein Reisekleid von aschgrauem Kammalot zeigte ihren Wuchs, wiewohl es ihn nicht hob: es war vorn aufgerissen, und ein Theil ihrer Haare fiel unordentlich auf ihre Brust herab, während der dünne, eilends übergeworfene Schleier zurückgewichen war.

Mit jedem Augenblicke, wo er sie betrachtete, stieg La Mottes Erstaunen und warmer Antheil. Solche Schönheit und Eleganz im Kontrast mit dem öden Hause und den rohen Sitten der Bewohner schien ihm mehr ein Roman der Einbildungskraft als ein Vorfall aus dem wirklichen Leben.

Er bemühte sich sie zu trösten, und sein Mitleid war zu innig, um verkannt zu werden. Ihre Furcht machte nach und nach den Regungen des Dankes und Schmerzens Platz.

»Ach,« sagte sie, »der Himmel hat Sie mir zur Hülfe gesandt, und gewiß wird er Sie belohnen: ich habe keinen Freund in der Welt, wenn ich ihn nicht in Ihnen finde.«

La Motte versicherte sie seines warmen Antheils, als der Eintritt des Mannes ihn unterbrach: er verlangte zu seiner Familie gebracht zu werden.

»Alles zu seiner Zeit,« hieß die Antwort: »ich habe für eine Person davon gesorgt, und werde es auch für Sie, so St. Petrus will. Seyn Sie nur ruhig.«

Diese beruhigenden Worte erneuerten La Mottens Schrecken, der nun inständigst flehte, ihm zu sagen, ob seine Familie in Sicherheit wäre?

»O, was das betrift, sicher genug, Sie werden sogleich bey ihr seyn: aber bringen Sie nicht die ganze Nacht mit Schwatzen zu. Erklären Sie sich, ob Sie gehen oder bleiben wollen. Sie wissen die Bedingungen.« –

Mit diesen Worten band man La Motten und das junge Frauenzimmer, welches die Angst stumm machte; setzte sie auf zwey Pferde, ein Mann hinter jeden, und sprengte in Galop davon. Sie waren beynahe eine halbe Stunde auf diese Weise fortgeritten, als La Motte zu wissen verlangte, wohin es ginge.

»Das werden Sie schon erfahren,« hieß es, »seyn Sie doch nur still!« –

Da La Motte alles Fragen unnütz fand, schwieg er, bis die Pferde still hielten. Sein Führer rief: Hallo! in einiger Entfernung antworteten Stimmen; nach wenig Augenblicken hörte er den Wagen rasseln, und gleich darauf einen Menschen, der Peter zurecht wies, welchen Weg er fahren sollte. Als der Wagen näher kam, rief La Motte, und erhielt, zu seiner unaussprechlichen Freude, Antwort von seiner Frau.

»Nun sind Sie über die Gränze der Haide, und können fahren, wohin Sie wollen,« sagte der Mann; »wenn Sie binnen einer Stunde zurückkehren, werden Sie mit ein paar Kugeln bewillkommt werden.«

Diese Warnung war höchst überflüßig für La Motte, den sie jetzt losbanden. Die junge Fremde seufzte tief, als sie in den Wagen stieg, und die Kerls, nachdem sie Petern noch einige Anweisungen gegeben und noch mehr Drohungen ausgestoßen hatten, warteten, um ihn abfahren zu sehen. – Man ließ sie nicht lange warten.

La Motte erzählte nun in aller Kürze, was ihm in dem Hause begegnet war, und auf welche Art man die Fremde zu ihm gebracht hatte. Während dieser Erzählung erregte ihr tiefes Schluchzen oftmahls die Aufmerksamkeit seiner Frau, die sich nach und nach zum Mitleid gegen sie gestimmt fühlte, und ihr Trost zuzusprechen suchte. Das unglückliche Mädchen beantwortete ihre liebreichen Zureden mit kunstlosen, einfachen Ausdrücken, und versank dann wieder in Thränen und Schweigen.

Frau von La Motte enthielt sich für jetzt aller Fragen, die zur Entdeckung ihrer Bekanntschaften leiten, oder eine Erläuterung der letzten Begebenheit fodern konnten, welche ihrem Nachdenken einen neuen Gegenstand darboth, und das Gefühl ihres eigenen Unglücks einigermaßen verminderte.

Selbst La Mottens Kummer verschwand auf eine Weile; er dachte über den letzten Vorfall nach, der ihm wie ein Traumgesicht, oder eine von den ausschweifenden Dichtungen eines Romans vorkam; er konnte keine Wahrscheinlichkeit hineinbringen, noch ihn auf irgend eine Weise erklären. Die gegenwärtige Last, die man ihm aufgebürdet hatte, und die Gefahr der Unannehmlichkeiten, die ihm noch in Zukunft daraus erwachsen konnten, verursachten ihm einige Unzufriedenheit, doch würkte Adelinens Schönheit und sichtliche Unschuld mit den Regungen der Menschlichkeit, die für sie sprach, zusammen, und er beschloß, sie zu beschützen.

Der Aufruhr in Adelinens Brust begann endlich sich zu legen. Schrecken milderte sich in Bekümmerniß, und Verzweiflung in Trauren. Die sichtliche Theilnahme ihrer Gefährten, besonders der Frau von La Motte, that ihrem Herzen wohl, und flößte ihre Hoffnung auf bessere Tage ein.

Traurig und schweigend verstrich die Nacht: die Seelen der Reisenden waren zu sehr beschäftigt mit ihrem mancherley Kummer, um Unterhaltung zuzulassen. Der so ängstlich ersehnte Morgen brach endlich an, und machte die Fremden einander näher bekannt. Adeline schöpfte Trost aus den Blicken der Frau von La Motte, die sie oft und aufmerksam ansah, und nicht leicht ein einnehmenderes Gesicht, eine schönere Figur gesehen zu haben glaubte. Das Schmachten des Kummers warf einen schwermüthigen Reiz über ihre Züge, der unmittelbar zum Herzen drang, und aus ihrem blauen Augen sprach eine durchdringende Sanftheit, die einen reinen liebenswürdigen Geist verrieth.

La Motte sah ängstlich aus dem Wagen, um über den Weg zu urtheilen und zu sehen; ob man ihn verfolgte. Die Dämmerung beschränkte seine Aussicht; er erblickte niemand. Endlich färbte die Sonne die östlichen Wolken und die Spitzen der höchsten Berge, und bald stand sie in vollem Glanz da. La Mottens Furcht verschwand und Adelinens Kummer milderte sich.

Sie kamen auf eine Wiese, die ein hohes, von Bäumen eingefaßtes Ufer umgrenzte, an deren Zweigen der Morgenthau die ersten grünen Knospen des Frühlings beglänzte. Die frische Morgenluft belebte Adelinen, deren Gefühl für alle Schönheiten der Natur aufs zarteste geöffnet war. Wenn sie die reiche Pracht des Rasens, das sanfte Grün der Bäume betrachtete, oder zwischen Öffnungen des Ufers die mannigfaltige Landschaft schimmern sah, deren dichte Wälder in fernen blauen Gebirgen verschwanden, klopfte ihr Herz von aufwallender Freude.

Neuheit erhöhte bey Adelinen den Reiz der Natur: sie hatte selten die Größe einer weiten Aussicht, die Pracht eines ausgebreiteten Horizonts, oder die mahlerischen Schönheiten eines beschränkten Amphitheaters gesehn. Ihre Seele hatte durch langen Druck die elastische Kraft nicht verloren, welche dem Ungemach widersteht; sonst würden bey aller Reizbarkeit ihrer Sinne die Schönheiten der Natur sie nicht mehr so leicht, auch nur in augenblickliche Ruhe, gewiegt haben.

Sie wanden sich endlich einen Hügel hinab, und La Motte, der sich wieder ängstlich umsah, erblickte ein offnes Feld, durch welches der Weg, beynahe ganz unbedeckt, in gerader Linie fortlief. Die Gefahr beunruhigte ihn, denn man konnte ohne Mühe viele Meilen weit von den Bergen, die er jetzt hinabfuhr, seiner Flucht nachsehn. Er erkundigte sich bey dem ersten Bauern, der ihnen begegnete, nach einem Wege zwischen den Bergen hin, hörte aber von keinem. Er versank in seine vorige Angst; seine Frau suchte, ungeachtet ihrer eignen Besorgnisse, ihn aufzurichten, da sie aber ihre Bemühungen unwirksam fand, überließ sie sich ebenfalls der Betrachtung ihres Schicksals. So wie sie weiter fuhren, sah La Motte nach der verlaßnen Gegend zurück, und oft wähnte er, Nachsetzer zu hören.

Die Reisenden hielten still, um in einem Dorfe zu frühstücken, wo endlich Waldungen den Weg bedeckten, und La Mottens Muth lebte wieder auf. Adeline schien ruhiger als sie noch gewesen war, und La Motte wagte es, sie um eine Erläuterung des Auftritts von vergangener Nacht zu bitten. Diese Frage erneute allen ihren Schmerz, und sie bat ihn mit Thränen, sie für jetzt mit allen Fragen über die Sache zu verschonen. La Motte drang nicht weiter in sie, bemerkte aber, daß sie fast den ganzen übrigen Tag in schwermüthigem Nachdenken zubrachte.

Sie fuhren jetzt zwischen Bergen hin, und waren folglich weniger in Gefahr, bemerket zu werden; doch vermied La Motte sorgfältig alle Städte, und hielt nur so lange, als für die Pferde nöthig war, in abgelegenen Dörfern still. Nachmittags ging der Weg länger als zwey Stunden durch ein tiefes Thal, das von einem Bach durchwässert, und von Gesträuch überschattet wurde.

La Motte hieß Peter nach einem dick bewachsenen Orte zufahren, der zur Seite lag. Hier stieg er mit seiner Familie aus; Peter mußte ihren Mundvorrath auf dem Rasen ausbreiten; sie setzten sich und genossen ein Mahl, das ihnen unter andern Umständen gewiß köstlich geschmeckt hätte.

Adeline zwang sich zu lächeln, allein ihr Ausdruck des Schmerzes wurde jetzt durch Unpäßlichkeit erhöht. Die heftige Seelenerschütterung und körperliche Ermüdung, die sie seit den letzten vier und zwanzig Stunden erlitten, hatte ihre Kräfte erschöpft, und als La Motte sie wieder zum Wagen führte, zitterte sie am ganzen Körper: doch ließ sie keine Klage verlauten, sondern bemühte sich vielmehr, so viel sie konnte, die Niedergeschlagenheit ihrer Reisegefährten zu zerstreuen.

Sie setzten den Tag über die Reise ohne allen Zufall oder Unterbrechung fort, und langten ungefähr drey Stunden nach Sonnenuntergang in Monville an; eine kleine Stadt, wo La Motte zu übernachten dachte. Ruhe war in der That der ganzen Gesellschaft nothwendig, deren blasses, verstörtes Aussehen nur zu auffallend war, um nicht von den Wirthsleuten bemerkt zu werden.

Sobald die Betten bereit waren, begab sich Adeline in ihr Schlafzimmer, wohin Frau von La Motte sie begleitete, welcher Bekümmerniß für die schöne Fremde jedes Bemühn, sie zu trösten und aufzurichten, eingab. Adeline vergoß jetzt nicht mehr Thränen des Schmerzes allein; sie vermischten sich mit denen, welche aus dem dankbaren Herzen fließen, wenn es unerwartete Theilnahme findet. Frau von La Motte verstand sie – nach einigen Augenblicken des Schweigens erneute sie ihre freundlichen Tröstungen und bat Adelinen, ihrer Freundschaft zu vertrauen; doch vermied sie sorgfältig, den Gegenstand zu berühren, der sie zuvor so sehr erschüttert hatte. Adeline fand endlich Worte, ihr Gefühl dieser Güte auszudrücken, und that es auf so offne, natürliche Art, daß Frau von La Motte innigst gerührt ihr gute Nacht sagte.

Ungeduldig, seine Reise fortzusetzen, stand La Motte des andern Morgens in aller Frühe auf. Alles war bereit, das Frühstück hatte schon eine Weile gestanden, aber Adeline ließ sich nicht sehn. Frau von La Motte ging in ihr Zimmer und fand sie in unruhigem Schlummer. Ihr Athem war kurz und unordentlich, sie fuhr oftmahls auf, oder seufzte und lallte unzusammenhängende Worte.

Während Madame mit Bekümmerniß ihre erschlafften Züge betrachtete, erwachte sie, sah auf, und reichte ihr die Hand, die von Fieberhitze brannte. Sie hatte eine unruhige Nacht gehabt, und als sie aufstehn wollte, wurde ihr Kopf, der unerträglich schmerzte, zu schwer; ihre Kräfte verließen sie, und sie sank zurück.

Frau von La Motte gerieth in die äusserste Unruhe; sie sah zugleich, daß es für Adelinen unmöglich war, weiter zu reisen, und daß eine Verzögerung ihrem Manne gefährlich seyn konnte. Sie ging zu ihm, und sein Unmuth läßt sich besser denken als beschreiben. Er sah alle Unannehmlichkeit und Gefahr eines Aufschubs, und doch konnte er sich nicht so ganz von aller Menschlichkeit entblössen, Adelinen der Sorge, oder vielmehr der Vernachlässigung von Fremden zu überlassen. Er ließ sogleich einen Arzt hohlen, und dieser erklärte, daß sie ein heftiges Fieber hätte, und ohne äusserste Gefahr nicht von der Stelle könnte.

La Motte entschloß sich nunmehr, den Ausgang abzuwarten, und suchte die Regungen der Angst zu unterdrücken, die ihn nur zu oft befielen. Indessen nahm er alle Vorsicht, die seine Lage zuließ, und brachte den größten Theil des Tages ausser dem Dorfe an einem Orte zu, von wo er den Weg bis in einige Entfernung übersehen konnte. Durch die Krankheit eines ihm unbekannten, ja ihm recht eigentlich aufgedrungenen Mädchens sich der höchsten Gefahr aussehen zu müssen, war auf alle Weise ein Unfall, welchen mit Fassung zu ertragen, La Motte nicht Philosophie genug besaß.

Adelinens Fieber stieg den Tag über, und Abends, als der Arzt fort ging, sagte er zu La Motte, der Ausgang müßte sich bald entscheiden. La Motte hörte diesen Wink ihrer Gefahr mit natürlicher Bekümmerniß an. Adelinens Schönheit und Unschuld hatten unwillkührlich über die ungünstigen Umstände, welche sie ihm zuführten, gesiegt, und er beschäftigte sich jetzt weniger mit der Last, die sie ihm in der Folge verursachen konnte, als mit der Hoffnung auf ihre Genesung.

Frau von La Motte bewachte sie mit zärtlicher Sorgfalt, und sah mit Bewunderung ihr stilles Dulden und ihre sanfte Ergebung. Adeline belohnte sie reichlich, so unvermögend sie sich auch glaubte.

»So jung ich auch bin,« sagte sie, »und verlassen von denjenigen, auf deren Schutz ich berechtigt wäre, weiß ich doch keine Bekanntschaft, die mir das Leben so wünschenswerth macht, als die, welche ich mit Ihnen zu knüpfen hoffe. Wenn ich genese, so wird mein Betragen am besten von meiner Dankbarkeit für Ihre Güte zeugen – Worte sind nur schwache Beweise.«

Ihr sanftes Wesen nahm die Frau von La Motte so sehr ein, daß sie die Crisis ihrer Krankheit mit einer Ängstlichkeit erwartete, welche alle andere Rücksichten ausschloß. Adeline brachte eine sehr unruhige Nacht zu, und als der Arzt des andern Morgens erschien, erlaubte er, ihr alles zu geben, was sie nur verlangte, und beantwortete La Mottens Fragen mit einer Freymüthigkeit, die keine Hoffnung übrig ließ.

Indessen fiel die Kranke, nach einigen kühlenden Tränken, in einen Schlaf, der mehrere Stunden anhielt, und so fest war, daß der Athem allein ihr Leben verrieth. Sie erwachte frey vom Fieber, und ohne alle Krankheit, außer einer Schwäche, die sie aber nach wenig Tagen so gut überstand, daß sie mit La Motte nach B– fahren konnte, einem Dorfe, das außer der Landstrasse lag, die er zu verlassen für rathsam hielt.

Hier brachten sie die Nacht zu, und setzten des Morgens in aller Frühe ihre Reise durch einen wüsten, waldichten Strich Landes fort. Um Mittag hielten sie in einem einsamen Dorfe still, wo sie eine Mahlzeit zu sich nahmen und sich Anweisung geben ließen, um den großen Fontaneiller Wald zu passiren, an dessen Rande sie sich jetzt befanden. La Motte wollte anfangs einen Wegweiser nehmen, allein er fürchtete mehr Nachtheil von der Kundschaft seines Weges, als er sich Nutzen von einem Geleitsmann in den Wildnissen dieses unbebaueten Erdstrichs versprach.

Er dachte jetzt nach Lyon zu gehn, wo er entweder in der Nachbarschaft sich verbergen, oder die Rhone hinauf nach Genf fahren wollte, wenn seine Umstände es in der Folge nöthig machten, Frankreich zu verlassen. Es war ungefähr zwölf Uhr Mittags und er eilte weiter, um wo möglich vor Einbruch der Nacht durch den Wald zu kommen und die Stadt jenseits zu erreichen. Nachdem sie sich mit frischem Proviant versehen und die nöthigen Erkundigungen eingezogen hatten, machten sie sich wieder auf und gelangten bald in den Wald.

Es war im Ende Aprils, und das Wetter ungewöhnlich schön. Die balsamische Frische der Luft, vom ersten reinen Duft der Kräuter geschwängert, und die milde Wärme der Sonne, deren Strahlen jeden Hauch der Natur belebten und jede Blühte des Frühlings öffneten, flößten Adelinen neues Leben und Gesundheit ein. Mit der Luft, die sie einathmete, schienen ihre Kräfte wiederzukehren, und wenn ihre Augen auf den romantischen Aussichten verweilten, welchen der Wald sich öffnete, schwoll ihr Herz von süßem Wohlgefühl: allein wenn sie ihren Blick von diesen Gegenständen ab, auf Herrn und Frau von La Motte wandte, deren zärtliche Sorgfalt sie ihr Leben verdankte, und auf deren Gesicht sie Wohlwollen und Liebe las, so glühte ihre Brust von süßen Regungen, und sie empfand die höchste Gewalt der Dankbarkeit.

Sie reisten den Tag über fort, ohne nur eine Hütte, oder ein menschliches Wesen zu sehn. Es war nahe vor Sonnenuntergang, der Wald schloß von allen Seiten die Aussicht ein, und La Motte fing an zu fürchten, daß sein Bedienter den Weg verfehlt hätte. Der Weg, wenn man anders eine leichte Spur auf dem Grase so heißen konnte, war bald von üppigen Gesträuch überwachsen, bald von tiefen Schatten verdunkelt, und Peter hielt endlich still, weil er des Wegs ungewiß war. La Motte, der in einem so wüsten einsamen Aufenthalt von der Nacht überfallen zu werden scheute, und sich lebhaft vor Räubern fürchtete, hieß ihn auf alle Weise weiter fahren, und wenn er keine Spur fände, einen offnern Theil des Waldes suchen.

Mit diesem Befehl fuhr Peter wieder fort, nachdem er aber eine kleine Strecke zurück gelegt hatte, und sich noch immer von Aussichten und Fußwegen im Walde eingeschlossen sah, ließ er den Muth sinken und hielt aufs neue still. Die Sonne war jetzt untergegangen, allein La Motte sah aus dem Fenster bey dem hellen Schimmer des westlichen Horizonts, einige dunkle Thürme in kleiner Entfernung zwischen den Bäumen empor steigen, und befahl Peter, darauf zuzufahren.

»Wenn sie zu einem Kloster gehören,« sagte er, »so können wir Aufnahme für die Nacht hoffen.«

Der Wagen fuhr unter den Schatten melancholischer Buchen hin, über welche die Abendröthe, welche noch die Luft färbte, eine Feyer ausgoß, die in den Herzen der Reisenden stillen Schauer erregte. Erwartung hielt sie schweigend. In Adelinen erwachte die Erinnerung an die letzten schrecklichen Ereignisse, und ihre Seele nahm nur zu leicht die Ahndung neuen Unglücks auf.

La Motte stieg am Fuße eines grünen Hügels aus, wo die Bäume sich dem Licht öffneten, und eine nähere, wiewohl unvollkommene, Aussicht auf das Gebäude zuließen.



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