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Fünftes Kapitel

Der Leser wird an einen Ort gebracht, wohin ihn ein besserer Erzähler viel früher geführt haben würde.

Nach der Astrologen maßgeblicher Meinung zeigt ein Komet an:

Erstens: Grausame und übermütige Ratschläge, Uneinigkeit, Verräterei und Aufruhr.

Zweitens: Räuberei, Unsicherheit der Straßen und große Angst und Schwermütigkeit unter den Leuten.

Drittens: Großer Reiche und Könige Untergang, Krieg, Pestilenz und böse Krankheiten.

Viertens: Veränderung der Religion, Gesetze und der weltlichen Ordnung, beneben einer unersättlichen Begierde zu allerhand Neuerungen.

Von allen diesen schönen Sachen hatte sich bis jetzt, das heißt Mitte Juni 1556, noch wenig ereignet, und nur eine große Angst, Unruhe und Schwermütigkeit hatte sich, wie wir bereits im Anfange unseres Bilderbuches bemerkt haben, der Menschheit im allgemeinen und der so leichtlich träumerischen, vorsorglichen und nachdenklichen deutschen Nation bemächtigt.

Man erwartete die grausen Dinge, welche die Zukunft bis jetzt noch in ihrem Schoße barg, wie ein Kranker beim Zahnarzt wartet, bis die Reihe an ihn kommt.

Diese große Unruhe aber brachte natürlich mit dem Wunderstern auch das Geschrei in Verbindung, welches sich im Frühling des Jahres 1556 anhub von dem heiligen Born der Grafschaft Pyrmont, einen Büchsenschuß von der Paderbornschen Stadt Lügde gelegen.

Wir haben die erste Nachricht davon erhalten durch das klägliche Notschreiben, welches Fräulein Ursula von Spiegelberg an ihren Herrn Bruder, den jungen Grafen zu Pyrmont, gerichtet hatte und welches denselben so eilig als möglich nach Haus beorderte, der Menschensündflut zu steuern.

Nun war der Komet wieder verschwunden vom Himmelsgewölbe; alle Feuchtigkeit, welche die Erde nur irgend abgeben wollte, hatte das Ungetüm aufgesogen; der heiße, dürre Sommer, welcher die Folge davon war, stand in seiner vollsten Blüte.

Wir führen den Leser ein in das Herz dieser wunderlichen Geschichte, ein in das grüne, von der Emmer durchrauschte Waldtal von Pyrmont, allwo auf dem Heiligen Anger der heilige Born, der Gesundbrunnen, welcher im Jahre 1556 einen ganz andern Anblick bot als heute, sprudelte.

Aber es liegt uns daran, darzutun, daß wir das leichte, buntbemalte und ausgeputzte Gebäude unserer Geschichte nicht auf einem losen Grunde unvorsichtig und leichtsinnig erbaut haben, sondern daß wir uns wohl vorgesehen und alles in Obacht genommen haben, daß unserer Feder nichts entschlüpfe, was nicht zu verantworten, was eitel Gewäsch und Maultum sei.

Gewichtiger Männer Zeugnis können und wollen wir dafür anziehen!

Da ist zuerst der Herr Magister Heinrich Bünting, ein frommer und wohlgelehrter Mann, welcher in seiner: »Newen, vollständigen Braunschweig- und Lüneburgischen Chronika« erzählt:

»Es brach aber im selbigen Jahr – Eintausendfünfhundertsechsundfünfzig – gegen den Frühling ein Geschrei aus von dem heiligen Brunn in der Grafschaft Pyrmont. – Dieser Brunn ist vor vielen Jahren wegen seiner Kräfte nicht unbekannt gewesen, denn Anno 1502 und die folgenden Jahre etliche Male die Wohlgeborene Fraw Margaretha, Geborne von der Lippe, Graf Bernhards Tochter, Graf Johann des Altern zu Rittberg Gemahlin, diesen Ort oftmals besucht und dieses Brunns heilsames Wasser zu ihren Leibesgebrechen ersprießlich gebrauchet.«

»Aber im obgesagten Jahr 1556 ward dieser Brunn in den Ruhm und Ansehen gebracht, daß nicht allein aus den angrenzenden Provincien des deutschen Landes, sondern fast aus der ganzen Christenheit, aus Spanien, Frankreich, Engelland, Schottland, Dännemark, Schweden, Polen und Ungarn, ja, aus Italien selbst, Leute haufenweis dahinkamen, ihrer Krankheit durch Kraft dieses heiligen Brunnens sich zu entledigen. Unter vier Wochen haben sich daselbst über zehentausend Menschen befunden. Die benachbarten Dörfer waren Tag und Nacht mit Kranken beladen, daß schier kein Winkel ledig war. Die etwas Fürnehmes waren, machten sich nach der Stadt Lügde. Die ward dergestalt mit frembden Gästen erfüllet, daß in den Häusern kein Raum mehr übrig war. An Brod, Bier und anderem Proviant mangelt es offtermalen, daß die Armut große Not litte. – Es sammelte sich eine so große Menge, daß das Volk im Holze Lager aufschlug und Fleisch- und Brodscharren errichtete. In Summa, es war gleich einem großen Feldlager.« –

Wir ziehen einen zweiten Gewährsmann aus der Nacht der Vergessenheit hervor, den Brunnendoktor Herrn Johannes Pyrmontanus, welcher also schreibt:

»Anno 1556 ward dieser heilige Brunnen eines großen Ansehens, Würden und Namens – und seine Tugend überaus bekannt und ruchtbar, also daß er unversehens anfing zu unzähligen Krankheiten nützlich und heilsam gebraucht zu werden. Und ging es dieser Ordnung nicht anders zu, als wenn's lauter Aqua vitae – Fons salutis, ja Christus der lebendige Brunn selbst gewesen, so wirklich in diesem Wasser operiret hätte. In Summa, Menschenzungen, Schreiber und Dichter hätten nicht genugsam seine edle Kraft, Tugend und Operation ausreden, schreiben oder verfassen mögen. Es kamen zu derselben Zeit dahin allerlei Nationen, so bresthaft waren – so dieses Wunder, zum Teil ardore visendi, zum Teil durch verursachte Notdurft visitirten.« –

Noch viele andere Schriftsteller könnten wir auf solche Weise zitieren; sie blasen alle mit vollen Backen das Lob unseres heiligen Borns. Aber es mag genug sein mit den beiden Angeführten.

Ob nun der Emmerfluß von den Ambronen seinen Namen bekommen hat oder ob die Ambronen von dem Emmerfluß ihren Namen genommen haben, das wollen wir nicht weiter untersuchen; unsere gelehrte Untersuchung würde doch nur verdunkelnden Staub aufrühren, und die günstige Leserin den Husten davon bekommen.

Ob der Prokonsul P. Quinctilius Varus nach seiner Versetzung aus Syrien nach Germanien in dem fons bulliens, dem Brodelbrunn, gebadet und aus dem heiligen Born getrunken habe, wird wohl in Ewigkeit eine Frage bleiben.

Ob die Irmensäule auf dem Arminiusberge gestanden hat, ist auch sehr zweifelhaft.

Weniger anzugreifen ist dagegen die Nachricht, daß der Kaiser Carolus Magnus, welcher bekanntlich die Quellen und lustigen Ströme gar sehr liebte und gern seine Hoflager an einem schönen Wasser hielt, im Jahre nach der Geburt unseres Herrn siebenhundertvierundachtzig in der Gegend der Stadt Lügde das Weihnachtsfest feierte. Da wird der gewaltige Herr trotz der Winterszeit den Wunderbrunn sich jedenfalls von einem gefangenen Sachsen haben zeigen lassen. Jedenfalls hat er dann auch, obgleich er meines Wissens durchaus nicht an den Nerven litt und nur im hohen Alter ein wenig von der Gicht gezwackt wurde, von dem heilsamen Wasser getrunken. Sagt ja auch der gelehrte Jesuit Nikolaus Schatenius in seiner Historia Westphalica:

»Praeter Ambram, qui nunc Emmera dicitur, Carolum oblectarunt Pyrmontanae aquae in conspectu Ludae, acore et medela celebres.«

Im vierzehnten Jahrhundert finden wir den frommen Mönch Henricus von Herford, einen Dominikaner aus dem Kloster des heiligen Apostels Paulus zu Minden, welcher den heilsamen Brunnen im Huetagau zuerst Fons sacer, den »heiligen Born«, nennt. Dieser Mönch ist im Jahre 1370 zu Minden gestorben und in der Dominikanerkirche begraben.

Doch – manum de tabula! Blasen wir jetzt den gelehrten Staub, welcher sich während aller dieser dem Erzähler langweiligen und dem Leser gleichgültigen Auseinandersetzungen auf unserm Manuskripte angesammelt hat, lustig fort, und stürzen wir uns frischen Mutes in das bunteste und zugleich kläglichste Getümmel, welches die tollste Phantasie in ihren ausgelassensten Träumen aufsteigen lassen kann.

Der Schauplatz, mit welchem wir es hier zu tun haben, dehnt sich zwischen der Stadt Lügde, den Dörfern Holzhausen, Oestorf, Löwenhausen und andern, welche wir nicht aufzuzählen brauchen. Ziemlich in der Mitte liegt das Schloß Pyrmont auf dem heiligen Anger, auf welchem vor Jahrhunderten der große fränkische Karl sein Heerlager aufgeschlagen hatte und auf welchem jetzt das Heerlager der Kranken, der Landstreicher, der Besessenen, der Gaukler, der Diebe, der Abenteurer aufgeschlagen war.

Überall rauschten und plätscherten Bäche und Bächlein aus den Waldtälern lustig hervor und trieben mancherlei Mühlen, als die Hambornmühle, die Bruchmühle, die Trinkenaumühle und viele andere mehr, welche alle aber nicht ausreichten für den Bedarf des versammelten Volksspieles.

Die Sonne glitt bereits wieder abwärts am wolkenlosen, tiefblauen Himmel.

Es war ein sehr heißer Tag des heißen Sommers.

In Oestorf wimmelte es durcheinander auf die merkwürdigste Weise.

»Herren und Frauen, Jungkherrn und Reiter, Fuhrleut, Kärrner, Landsknecht, Freybeuter« – Menschen und Vieh drängten sich in den Gassen in Staub und Hitze. Die Häuser, gleich überfüllten Gefäßen, quollen über von Kranken und Gesunden, von reiner und schmutziger Wäsche. Aus allen Fensteröffnungen schauten schwitzende Menschengesichter, Kinder kreischten, Weiber zankten sich; die Bresthaften stöhnten, die Gesunden fluchten, die Esel schrieen, die Pferde wieherten, und immer neuer Zuzug drängte sich, die Dorfgasse entlang, dem heiligen Anger zu.

Das verschüchterte Federvieh hatte sich über das Getümmel so hoch als möglich erhoben und errettet und schrie und gackerte von den Bäumen und Zäunen, ja von den Hausdächern seine Not und Verwunderung in die Welt aus. Es war ein wunderswürdiger Lärm, ein Lärm in der Blüte, ein Lärm, wie ihn nur das lärmende, hallohende, spektakelnde sechzehnte Jahrhundert in solcher Vortrefflichkeit hervorbringen konnte.

Wenn man sich nun dazu die bunten Trachten von Mann und Weib vorstellt, die Federbarette, die Bettlermäntel, die absonderlichen Waffen und Fuhrwerke, die Rosse, Maulesel und Hunde der Fremden, die ausländische Dienerschaft derselben in ihren landesüblichen, fremdartigen Kostümen und über dieses alles einen Schleier von Sonnenglut und Staubwolken legt, so hat man ein schwaches Bild von dem Dorfe Oestorf am 15. Juni 1556.

Mit wahrem Schauder und Widerstreben drängt man sich in eins der überfüllten Häuser; aber davon hilft uns jetzt kein Gott. Eins wimmelt wie das andere, und in der Arche Noah konnte kein wüsteres Durcheinander, nicht mehr Dreck, Stank und Übelstand herrschen.

Wir treten in eins der niedrigen, mit Stroh gedeckten, hüttenartigen Gebäude, welches sich ziemlich am Ausgange des Dorfes, dem Schloß Pyrmont zu, befindet.

Hier sitzen in einem dumpfigen, schwarz geräucherten Stübchen, welches der Bauer für schweres Geld und viele, viele gute Worte geräumt hat, welches aber die Fliegen nicht räumen wollen, da man nur Gewalt gegen sie anwendet, drei hochgelehrte und hoch beschwerte ältliche Herren an einem wackligen Tische auf wackligen Sesseln.

Alle drei Herren sind mit dem Podagra behaftet und wollen den bösen Gast durch die Heilkraft des heiligen Borns vertreiben. Zwei der Herren haben das linke Bein, einer hat das rechte Bein dicht umwickelt. Alle drei sind in schwarze Gewänder gekleidet, deren Schnitt uns erkennen läßt, daß sie sämtlich dem Lehrstande angehören; alle drei haben ihre Krückstöcke neben sich, alle drei schwitzen und ächzen mehr, als sich eigentlich mit ihrer Würde verträgt – fett, fetter, am fettesten ist ihre Leibesbeschaffenheit, in aufsteigender Proportion, zu definieren. Ihr wackelnder Tisch ist mit Büchern, Papieren und Schreibgerätschaften bedeckt – der Gedanke, bei solcher Hitze, bei solchem Lärm vor dem Fenster zu schreiben, ist fürchterlich und würde jedes regelrecht organisierte Menschenkind auf der Stelle töten!

Die drei schwarzgekleideten Herren müssen wohl nicht regelrecht organisiert sein, sie – haben geschrieben, und die Dinte ist noch nicht eingetrocknet in den niedergelegten Federn! Sie schwitzen entsetzlich und – sind benamset: Herr Helmerikus Bone – Herr Christopherus Studtius und – Herr Hermanus Huddäus, Rektor und nachher Pastor supremus zu Minden, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, welcher mit Philipp Melanchthon korrespondierte, »als welcher sein Präzeptor gewesen war«.

Als Schüler eines solchen Mannes und eifrigster Lutheraner würde der Rektor Huddäus mit seinem Zipperlein lieber in einen lutherischen Hühnerstall oder Taubenschlag zu Oestorf gekrochen sein als das gute, aber katholische Quartier, welches man ihm in Lügde anbot, angenommen haben.

In diesem Augenblick hielt der gute Mann ein mit lateinischen Versen beschriebenes Blatt Papier in der Hand. Er hatte die Lektüre des Poems soeben beendet und wischte atemschöpfend mit dem Sacktüchlein die glänzende Dichterstirn. Seine beiden gichtbrüchigen Freunde wischten sich ebenfalls die Stirnen mit den Sacktüchlein und gaben ihren Beifall und ihre vollkommene Übereinstimmung mit dem Vorgelesenen durch ein gravitätisches Kopfnicken und Gebrumm zu erkennen.

»Sehr wacker, hochgelahrtester Herr Rektore!« sagte der Doktor Bone und schnitt dabei unwillkürlich eine erschreckliche Grimasse, weil ihm sein Übel in demselben Augenblicke auf die boshafteste Weise durch die Zehe fuhr.

»Ei ei, o, o!« seufzte er. »Ach, meine Großmutter war ein künstliches Weib und der beste Doktor, so weit und breit zu finden war – uh, uh, was gäb ich drum, wenn sie mir ein richtig Mittel nachgelassen hätte gegen diese Teufelsplage! Wacker, sehr wacker, hochgelahrtester Herr Collega!«

»Mirabile dictum, collega!« rief Herr Christophorus Studtius. »Virgilius Maro hätt's nicht besser gemacht und zu Wege gebracht! Uf – welche Hitze! Horazischer Schwung – ciceronianische Latinität, geehrter Herr Collega – ohe – eheu! eheu! heu! heu!«

Auch er griff nach seinem schmerzenden Bein.

Der Rektor Huddäus lächelte im befriedigten Autorgefühle sieghaft, aber bescheiden. Er setzte ein vergessenes Pünktlein über ein I und hob dann wieder den Blick: »Nun werd ich mit der günstigen Erlaubnis der Herren den Herren auch die Übersetzung für das gemeine Volk, den ungelehrten Haufen – profanum vulgus – vorlesen... o Himmel, hu, hu – o gütiger Gott!«

Auch der letzte des gelehrten Dreigestirns erfuhr von neuem auf die eindringlichste Weise, daß er sein Bein nicht allein innehabe, sondern den Besitz desselben mit einem sehr ungern gesehenen und bewirteten Gaste teilen müsse. Aber noch etwas anderes verhinderte den deutschen Vortrag des Wackern.

Ein mächtiges Klopfen erschütterte die baufällige Tür auf solche Weise, daß die drei Herren erschrocken in die Höhe fuhren.

»Introite! Tretet ein; aber lasset die Türe ganz und heil!« rief der Rektor Huddäus, und ein junger Mann in der Reitertracht jener Zeit erschien auf der Schwelle und blies die Backen weit auf vor innerlichem Lachen ob dem Anblick der drei geplagten, schwarzen Gelehrten. Wir haben Mühe, in dem jungen Gesellen unsern guten Freund Eckenbrecher, den Galgenstrick von Holzminden, zu erkennen. Die fremde Luft und das fremde Brod haben ihm sehr wohl getan; Prügel hat er von seinen Kameraden dreimal tüchtig bekommen; man hat ihn zu einem stattlichen Reitersburschen mit Lederkoller, hohen Stiefeln, Schwert und breitkrämpigem Spitzhut herausstaffiert. Trotz seines heitern Temperamentes umschwebt in vergessenen Augenblicken ein Schatten innerlicher Rührung seine nichtsnutzige, windbeutelige Nase. Er hat erkannt, daß die Ferne sich zu einer Nähe verwandelt, welche keineswegs bloß Geld, Freiheit und Wonne ist. Klaus Eckenbrecher hat Zustände kennengelernt, in welchen sich der Mensch sogar nach dem Bakel eines Ehrn Valentin Fichtner und nach der lateinischen Grammatik zurücksehnen kann. –

Der Rektor Huddäus und die beiden andern Herren schienen den Reiter recht gut zu kennen. Sie nickten ihm auf seine Verbeugung holdselig zu, und der Rektor von Minden fragte:

»Nun, was bringet Ihr mir Gutes, mein junger Meister?«

»Verzeihet, daß ich Euch störe, günstige Herren, bei der großen Hitz; aber Herrendienst ist ein schlimmer Dienst und gehet vor allem. Ich bringe Euch, Herr Rektor, einen schönen Gruß von meinem gnädigen Herrn, dem Herrn Grafen, an Eure Wohlgelahrtheit, und so Ihr die Gesetzlein für den Born fertig hättet, wär's seine Bitt, daß Ihr kämet, sie ihm vorzulesen. Mein Herr Graf möchte sie wohl heute noch hören und sie anschlagen am Lindenbaum, von wegen des Volkes, so nicht mehr zu bändigen ist, wenn ihm nicht alsogleich die zehn Gebote schwarz auf weiß vor die Rotznasen genagelt werden!«

Man sieht aus dieser langen Rede, daß der Klaus bereits Höflichkeit im Hofdienst gelernt hatte und es verstand, sich recht zierlich und anmutig auszudrücken.

Der Rektor Huddäus nahm seine Ansprache auch mit Wohlwollen auf und entgegnete:

»Soeben ist mit Gottes Hülfe das geringe Werk gelungen. Gern wäre ich dienstwilligst bereit, Euch zu dem Herrn zu Pyrmont zu folgen; aber –« Hier brach der Rektor ab und blickte trübselig nieder auf sein umwickeltes krankes Bein, welches auf einem niederen Schemel ruhte.

»O, daran hat mein gnädiges Fräulein Ursula fürsorglich gedacht!« rief lächelnd Klaus Eckenbrecher. »Sie hat ihre Sänfte mit mir gehen lassen und mir befohlen, Eure Würden anzufassen gleich einem rohen Ei. Vor der Tür wartet die Sänfte auf Eure Hochgelahrtheit, und wenn Ihr Euch mir anvertrauen wollt –«

»Gratias ago dominae meae, ich danke dem gnädigen Fräulein!« sagte seufzend der Rektor, welcher viel lieber ruhig sitzen geblieben wäre bei den Kollegen.

»Ich werde kommen«, sprach er, nahm seine Papiere zusammen, faltete sie und steckte sie zärtlich in die Brusttasche seines weiten Obergewandes. Mühsam und ächzend erhob er sich, wobei er sich auf den Arm Eckenbrechers stützte.

»So bin ich bereit! Uf – mein Fuß! Vorsichtig – ach, Gnade! Vor – vorsichtig – oh!«

Die beiden Kollegen beneideten den Rektor in diesem Augenblick nicht um die Ehre der Aufstellung der Bronnengesetze; es überlief sie sogar ein gewisses kitzelndes Behagen, als sie zuschauten, wie ihr gelehrter Freund Arm in Arm mit dem jungen Reisigen zur Tür hinaushumpelte hinein in die Sonnenglut und die turba magna, den Spektakel des großen Haufens.

Behutsam hob man den Rektor Huddäus in die harrende Sänfte des Fräuleins Ursula; aber es ging trotz aller angewandten Sorgfalt nicht ohne verschiedene leisere oder lautere Wehrufe ab. Nachdem der wackere Mann sicher eingepackt war, setzten sich die schwitzenden Träger in Bewegung und bahnten sich mit großer Mühe einen Weg durch die Menschenhaufen, welche die Dorfgasse anfüllten. Unser Freund Klaus Eckenbrecher schritt dicht neben der Tür der Sänfte her, um den ihm anvertrauten Schatz von Gelehrsamkeit und Zipperlein, welcher in dem schwankenden Kasten in ein sehr trübseliges Selbstgespräch sich versenkte, so sicher als möglich durch das Getümmel zu geleiten.

Es tat wahrlich not, daß der handfeste junge Reitersmann zugegen war; denn je mehr man sich dem heiligen Born näherte, desto toller wurde das Getümmel und Gedränge.

Hier kam ein kreischender Karren, mühsam nachgeschleppt von einem spatlahmen Pferde, welches von einem alten, verdorrten Weibe gelenkt wurde. Unter der Leinwanddecke, welche über dieses Gefährt gespannt war, kauerten andere alte, verdorrte und verhutzelte Weiberlein, welche viele Spottreden und Sticheleien in der Menge zu ertragen hatten, sich aber weidlich dagegen nach Weiberart wehrten.

Der heilige Born zu Pyrmont war ja auch als ein Jungbrunnen im Land ausgeschrieen, und was alt war und Vertrauen hatte, konnte durch das Wunderwasser wieder jung und frisch werden gleich dem jüngsten und frischesten Mägdelein. Das war ein Segen! Das verrunzelteste Greuel und Scheuel hatte die beste Aussicht auf rosige Wangen, helle Augen und Gliederfülle – jedes Urgroßmütterchen konnte das lustige Jugendleben mit Liebäugeln, Männer-Quälen und -Betrügen von vorn anfangen, ohne Gefahr zu laufen, deswegen von einem Hexengericht befragt zu werden.

Hier wackelte ein Landsknecht mit verbundenem Arm oder Kopf einher und fluchte sich eine freie Bahn. Gegen jede Wunde und Brausche, mochte sie noch so alt und bösartig, mochte sie auf dem Schlachtfelde oder in der Schenke geholt sein, half das gute Wasser des heiligen Borns zu Pyrmont.

Hier verlegte ein Haufe fetter Barfüßermönche aus einem allzu nahrhaften Kloster zu Paderborn den Weg; – gegen jede Verdauungsstörung war der heilige Born ein untrüglich Heilmittel!

Weiter hin schlichteten Spiegelbergische Knechte einen ausgebrochenen Kampf, in welchem die blanken Waffen bereits mitgespielt hatten; mit eigener Lebensgefahr mußten die Schloßleute den hitzigen, ineinander verbissenen Streitern die Wehren aus den Hände reißen. Dort lagerte eine Schar Spielleute aus einer Bergstadt im Harz um ein Feuer; dort zerhackte man einen eben geschlachteten Ochsen. Hier schlief, quer über den Weg liegend, ein Trunkener seinen Rausch aus, an welchem das Wasser des heiligen Borns nicht schuld hatte; dort errettete eine Mutter mit hellem Geschrei ihr Kind vor den Fußtritten einer andringenden Bande, welche einem Bänkelsänger nachfolgte.

In tausenderlei Gestalten umdrängte die Gefahr des Umwerfens die Sänfte, und Klaus hatte genug zu tun, seinen Gelehrten aus allen diesen Gefahren zu erretten.

Im Kulminationspunkt der »großen Vergadderung« kam natürlich am meisten Not an'n Mann; und es war ein Glück für die Träger der Sänfte, für die Sänfte selbst, für den Rektor und Freund Eckenbrecher, daß in dem Augenblick, wo der Zug sich hier durchwand, von der andern Seite her zwei Reiter erschienen, welchen das Volk, ohne durch Bitten und Drohungen gezwungen zu werden, Platz machte, wodurch auch Klaus für sich und seinen Schutzbefohlenen Raum bekam.

Der vorderste der Reiter war ein sehr vornehm in schwarzen Sammet gekleideter Mann von ungefähr dreißig und einigen Jahren. Ein Schwert, ebenfalls in schwarzer Sammetscheide, hing ihm an der Seite; er ritt auf einem schwarzen Rappen und ließ sein kühnes, dunkles Auge ruhig über die wogende Menge hingleiten. Sein schwarzes Haar hing in wohlgeordneten Locken bis auf die Schultern herab; die Farbe seines Gesichtes war gelblich-bleich, doch hatte sie durchaus nichts Kränkliches.

Ihm nach folgte auf falbem Roß ein Diener, fast noch ein Knabe, welcher einen Mantelsack hinter sich über den Sattel geschnallt hatte und mit einem kurzen Feuerrohr und einem kurzen Schwert bewaffnet war.

Man sah auf den ersten Blick, daß weder der Herr noch der Diener dem germanischen Stamme angehörten, daß ein südlicheres Blut in ihren Adern pulsiere.

Es würde sich schwer angeben lassen, was das Volk ohne Murren dem ersten Reiter aus dem Wege weichen machte; ein herrischer Zug im Gesicht, ein drohendes Auge würden es nicht vermocht haben, noch viel weniger hätten es vielleicht Bitten vermocht.

Jedenfalls sah man den unbewegten Mienen des Fremden an, daß er sich wohl öfters in noch wilderem Getöse bewegt hatte.

Auch die Aufmerksamkeit Eckenbrechers zog der schwarzgekleidete Ankömmling in hohem Grade auf sich; aber der Reiter des Grafen von Pyrmont durfte nicht verweilen. Quer über den heiligen Anger, wo Zelt an Zelt, Laubhütte an Laubhütte aufgeschlagen und gebaut war, wo Feuer bei Feuer brannte, um die Krankensuppen und die Nahrung des Volkes zu kochen, zog Klaus mit seiner Sänfte dem Schloß zu und über die Zugbrücke durch das dunkle, hallende Tor ein in den Schloßhof. –

Das Schloß Pyrmont hatte damals eine ganz andere Gestalt als heute. Hohe Mauern und Wälle umgaben es zu Schutz und Trutz. Türme und Türmchen, Erker und Giebel von allen Formen ragten und klebten überall daran.

Das alte Gebäude ist längst dahin – es ist zu Grabe gegangen wie das Haus der Spiegelberger selbst!

Andere Mauern sind aufgetürmt auf der Stelle, wo es sich einst stolz genug erhob; ein anderes Geschlecht leidet und freut sich in diesen neuen Mauern. –

In dem düstern Burghofe – bei solcher Hitze das kühlste Fleckchen der ganzen Grafschaft – sprangen sogleich einige Diener schnell heran und hoben den Rektor Hermann Huddäus so vorsichtig als möglich aus der Sänfte ihres Fräuleins und setzten ihn auf die Füße oder vielmehr auf den Fuß, denn sein linkes Pedal zählte der Rektor selbst seit langer Zeit nicht mehr mit als Fuß.

Ein Bogenfenster öffnete sich in der Höhe, und unser alter Bekannte, Herr Philipp von Spiegelberg, legte sich weit hinaus und rief fröhlich herunter:

»Guten Abend, Herr Rektore! Sacht, sacht, Klaus Eckenbrecher, faß mir den Herrn behutsam an! Hans, Toffel, ihr Lümmel, heda, vorsichtig! Unterstützet den Herrn Rektor, daß er die Trepp hinauf kann.«

Klaus, Toffel und Hans gebärdeten sich um den Gelehrten wie drei Ammen um ein krankes Kind, doch trotz des besten Willens nicht mit demselben Geschick. Die enge Wendeltreppe, welche zu dem Gemache des Grafen hinaufführte, wurde ein wahrer Marterweg für den Rektor von Minden. Der Arme gelangte halb ohnmächtig vor der Tür droben an; aber Herr Philipp empfing ihn so freundlich mit Gruß und Handschlag, entschuldigte sich so sehr wegen der Not und der Umstände, welche er dem gelehrten Manne mache, daß dieser bald seine Schmerzen darüber vergaß.

Es war recht kühl und heimlich in dem hohen Gemache. Durch die bunten Scheiben flimmerte das Sonnenlicht und spielte zauberisch auf dem braunen Holzgetäfel der Wände, um die Hirschgeweihe und Waffenstücke: aber noch viel zauberischer um ein blondes Lockenköpfchen, welches sich schelmisch in dem hohen Lehnstuhl barg, der in der Fensternische dem Sessel gegenüber stand, von welchem sich Herr Philipp soeben erhoben hatte.

Dieses blonde, von der Abendsonne und der roten, blauen, grünen und gelben Glut der Scheiben umspielte Lockenköpfchen eignete dem Fräulein Walburg von Spiegelberg, des Grafen jüngstem Schwesterlein. Es war im Jahre 1556 kaum sechzehn Jahre alt und wurde als das Nestküchlein des Hauses Spiegelberg – und der Liebling der ganzen Grafschaft und weit nach allen vier Weltgegenden ins Land hinein – gehalten.

Ihr machte der Lärm der letzten Zeiten, der Tumult drinnen und draußen, der Andrang der Gäste, über welchem ihr Bruder sich die Haare hätte raufen mögen – bei welchem der Schwester Ursel, dem Hausmütterchen von Pyrmont, oft genug die Sinne vergehen wollten – das allergrößte Vergnügen. Ihr gefiel das Getümmel um den heiligen Born gar sehr. Sie als der Eulenspiegel und die neckische Fee des Schlosses auf dem heiligen Anger, war bei diesem Skandal recht in ihrem Elemente und kam bei Tag und Nacht nicht aus dem Lachen heraus.

Eine verwegene Reiterin und Jägerin, eine gute Sängerin und Harfenschlägerin – wenn sie wollte – war Fräulein Walburg. Mutwillig und sanft, trotzköpfig und milde, spielte sie nach Gelegenheit in allen Farben, gleich einem Tautropfen in der Morgensonne. Ein gutes Dritteil aller seltsamen Ereignisse, welche das Schloßvolk den Kobolden und Hausgeisterchen zuschrieb, fiel von Rechts wegen auf des kleinen Fräuleins Rechnung. Auf ihr lastete das Leben noch nicht so schwer wie auf den beiden andern Waisen von Spiegelberg; sie führte ja nicht den Herrschaftsstab über das Land Pyrmont wie Bruder Philipp; sie trug ja nicht das Schlüsselbund der Grafschaft am Gürtel wie Hausmütterlein Ursula, die gute stille Schwester, welche durch den frühen Tod der Eltern schnell zu weiblicher Selbständigkeit gereift war und in Not und Sorgen das häusliche Regiment auf Pyrmont führen mußte.

Wahrlich hatte Ursula die meiste Not und Sorge von dem tollen Wesen, das über ihr stilles, grünes Waldtal so urplötzlich, so verwirrend hereingebrochen war. Früh vor Tage, ehe die Hähne krähten, mußte sie aus dem Bett hervor, und als die allerletzte durfte sie in der Nacht das Lager suchen. Überall mußte sie ihre Stimme erklingen lassen, bittend, klagend, scheltend, befehlend, ihre braunen Locken schüttelnd.

Ein jeder wandte sich an sie, ein jeder fragte sie um Rat, ein jeder verlangte von ihr Trost und Hülfe!

In diesem Augenblick befand sie sich im Schloßgarten mit Frau Hedwig von Brandenburg, der Gemahlin des Kurfürsten Joachim, einer polnischen Prinzessin von grämlichem Gemüte, sauertöpfigem Aussehen und knarrend-kreischender Stimme. Die hohe Frau litt am Magenkrampf, wollte ihres Übels durch den Born zu Pyrmont ledig werden und machte der guten Ursel von Spiegelberg mit Zanken, Hadern, Grollen, Greinen, Keifen und Nagen das Leben schwer genug. Leider können wir dem armen Kinde nicht helfen, wir müssen sie ihrem bösen Geschick und der Prinzessin überlassen und in das Gemach des Grafen zurückkehren.

Zwischen Herrn Philipp und dem Rektor Huddäus waren derweilen die Fragen nach der bösen Gicht und dem übrigen Befinden, die Komplimente und höflichen Worte abgetan. Klaus Eckenbrecher hatte dem Gelehrten einen Sessel gebracht, auf welchem dieser sich erst nach vielen Bitten niederließ, und sehr hübsch war es anzusehen, wie die kleine Walburg dann heranschlich und sich auf die Lehne dieses Sessels stützte zu nicht geringer Beklemmung und Beängstigung des Rektors.

Hübsch war es ferner anzuschauen, wie die Schelmin sich bemühte, aus ihrem rosigen Gesichtchen eine faltenreiche, mürrische Schulmeisterphysiognomie zu machen. Hübsch war es anzusehen, wie ihr solches Vorhaben auf keine Weise gelingen wollte und wie sie es aufgab und sich für ihre vergebliche Mühe entschädigte durch eine Nase, die sie mit zierlichem Finger hinter dem Stuhle des gelehrten Mannes dem gelehrten Manne drehte.

Eigentlich war das sehr unrecht von ihr, denn der Rektor Hermann Huddäus war in der Wahrheit ein sehr frommer und kluger Mann; aber – Kinder sehen solches nicht eher, bis sie selbst in die bedächtigeren Jahre hineinwachsen, und das ist wohl recht gut also, sintemalen das Leben in dieser Welt sonst doch gar zu langweilig werden würde.

Herr Philipp von Spiegelberg hatte alle Mühe, ernsthaft zu bleiben, und biß sich dabei fast die Zunge ab. Er warf auch der niedlichen Gauklerin einen nach Möglichkeit grimmigen Blick zu, welcher Blick jedoch auf halbem Wege seine ganze Schreckhaftigkeit verlor und in das Gegenteil sich veränderte.

Aus der Gefahr des Erstickens an unterdrücktem Lachen vermochte sich der Graf nur durch die schnelle Frage zu erretten:

»Nun, Herr Rektore, Ihr habet also die Täfelein, so ich von Euch erbeten hatte, fertig gemacht?«

Huddäus verbeugte sich und griff nach seiner Brusttasche, wo die Papiere, welche wir schon kennen, knisterten.

»Die Gesetze des heiligen Borns sind geschrieben, wie Ihr, Herr Graf, es befohlen habet.«

»Das ist mir eine gar weidliche Freud, und ich danke Euch recht sehr dafür. Aber nun setzet auch Euerer Güte das Kränzel auf und leset sie meinem neugierigen Schwesterlein und mir her. Nachher wollen wir sie anschlagen an der Linde neben dem Bronnen, und alles Volk, so dieselbigen übertritt, soll zu seinem Schaden und Eueren großen Ehren Euerer Gelahrsamkeit gedenken.«

Der Rektor verbeugte sich abermals, räusperte sich und schaute erschrocken seitwärts auf seine linke Schulter, auf welche plötzlich ein leises Lockenringlein sich herabgesenkt hatte. Die Walburg als neugierige Evastochter blickte dem Rektor über die Schulter in das Konzept, und das war wieder sehr unartig von ihr, da sie mit Vorbedacht den Mann dadurch vollständig aus aller Fassung brachte.

Erst nach mehrfachem Hin- und Herrücken hatte er sich soweit zurechtgefunden, daß er sich zum drittenmal verbeugen und zum zweitenmal räuspern konnte. Dann aber kam er in Zug und begann, gleichsam als ob er auf seinem Katheder zu Minden vor seiner in Ehrfurcht verstummten Prima sitze:

»Periocha legum ad sacrum fontem affixarum – das ist die Überschrift ...«

Und mit der Hand den Takt zu seinen Distichen schlagend, floß ihm in holdseliger Gebundenheit das Latein von den Lippen:

»Justitiae fines ne Tu peregrine viator
Ignores, Leges has tibi Semper habe!
Primum qui sacrum –«

Hier aber wurde der Strom seiner Rezitation leider schon unterbrochen. Der Spiegelberger Graf hatte nämlich Mund und Ohren so weit als möglich aufgesperrt und rückte nun selbst, wie eben noch sein Gast, unruhig auf seinem Sessel hin und her. Dann legte er die Hand auf den skandierenden Arm des Rektors und sprach mit höchst kläglicher Miene:

»O mein allerliebster Herr Rektore, das ist ja Latein! Wie soll das ungelehrte Volk dieses verstehen? Und auch ich –«

»Und auch ich«, kicherte die Spiegelbergerin hinter der hohen Stuhllehne.

»Und auch ich«, fuhr der Graf fort, »auch ich verstehe es nicht und muß bekennen zu meiner großen Schande, daß leider Gottes kein Stab und Prügel hart genug war, mir solche schöne Sprache einzubleuen, als ich noch ein Büblein war.«

Der Rektor, welcher seufzend in der Deklamation seines Virgilianischen Poems innegehalten hatte, neigte bescheiden das Haupt und sprach:

»Dieses ist auch nur für die Leute von Gelahrtheit, so den guten Brunnen für ihre Leibesbeschwerden zu brauchen kommen; hier hab ich die Gesetzlein auch in teutsche Reime gebracht, das mag denn sein für den gemeinen Haufen.«

»Danke, danke Euch, Herr Rektore!« jubelte Walburg, in die Hände klatschend, und ihr Bruder brach nun ebenfalls in ein helles Lachen aus. Die Gelegenheit war allzu günstig!

Der Rektor aber quälte sich vergebens um den Grund dieser urplötzlichen Heiterkeit der Geschwister, und nur ganz dunkel schoß es ihm durch den Sinn, was für eine anmutige, höfliche Bemerkung er zum besten gegeben hatte,

»Bitte, bitte, Herr Rektore«, rief der atemlose Philipp, »bitte, denket einmal, wir gehörten mit zum ungelehrten gemeinen Haufen, und leset der Walburg und mir erst die teutschen Gesetzlein her; das Latein geht uns nachher desto baß ein!«

Herr Hermann Huddäus zuckte unmerklich die Achseln, gedachte unmutig des alten schönen Wortes vom Werfen der Perlen vor die Saue – margaritas ante porcos – , kam aber doch der Bitte des Grafen nach, zog sein anderes, umfangreicheres Blatt hervor und begann von neuem:

 

»Gesetze des heiligen Borns zu Pyrmont.

 

Daß sich ein jeder thu halten recht
Bei diesen Brunn, will ich nun schlecht
Des edlen Herrn und Grafen Will'n
An Baum gehängte Artikel erzäll'n.

 

I
Zum ersten soll'n, so diesen Fontein
Besuchen; reich, arm, groß und klein,
Sich allewege thun befleißen,
Daß sie nicht göttliche Ehr beweisen
Diesem Brunn, und machen ihn nicht
Zu einem Abgott, sondern schlicht
Zu Gottes Ehren sein genießen,
Von Dem kömmt diese Gnad herfließen.

 

II
Ein sicher Geleit thun wir auch geben
Den, so sich halten recht daneben.

 

III
Zum dritten soll sich ein jeder warten,
Daß er den Leuten an Zäun und Garten,
An Wiesen, Weid und Korn dazu
Bei schwerer Straf kein Schaden thu.

 

IV
Niemand soll hier auch richten an
Unlust, es soll sich jedermann
Gebührlich halten gegen sein'n Wirth,
So bleibt der Gast auch unbeschwert.

 

V
Wer hieher Proviant bringt feil
Und ander Waar, sei was es will,
Geb redlich Kauff's und handle recht
Bei Straf, so da ist aufgelegt;
Drei Groschen Stetgeld soll er geben
Alle Woch'n, davon die Armen leben.«

 

So ging es weiter bis zum Ende:

 

»Der Wolgeborne Graf und Herr
Hat diese Artikel löblich sehr
An eine Linden bei dem Bronn
Gehenckt, als man so findet ston,
Danach ein jeder bei Straf und Pein
Sich halten soll bei Straf und Pein!«

 

bis der Rektor von Minden Hermann Huddäus sein Blatt aufrollte und emporblickte zum Grafen, welcher aufgesprungen war.

»So ist's recht! So ist's wacker! So hab ich's auch gemeint! Dank' Euch, dank' Euch! Und an die Linde wollen wir das heute noch – jetzt gleich hängen! Das ist schön!«

»Wird dem Volk grad so viel leuchten, wie Dreck in der Latern!« brummte Klaus Eckenbrecher an der Tür, doch nicht so laut, daß jemand seine unmaßgebliche Meinung bestreiten konnte.

»Aber nun auch das Latein – das Wahre –«

»Ein andermal, liebes, altes, schwarzes Rektorlein!« jubelte Fräulein Walburg von Spiegelberg und sprang und tanzte im Gemach umher. »Das Latein auf ein anderes Mal! Jetzt das Deutsch! Wir wollen alle mitziehen, es an den Baum zu schlagen; wir wollen einen großen Zug machen Euch zu Ehren, mein Rektorlein, und Ihre keifenden kurfürstlichen Gnaden von Brandenburg sollen auch mitgehen, und Ihr sollt Hofprediger werden zu Berlin im Sande – das will ich Euch versprechen.«

»Ja, so wollen wir tun!« rief Graf Philipp. »Und einmal zur guten Stunde kommt da eben mit der Ursel über den Hof die alte« – er schlug sich auf den Mund – »wollt ich sagen, die Frau Kurfürstin Hedwig. Heda, Klaus Eckenbrecher, sprich zu den Knechten, sie sollen ihre Spieße nehmen, und die Drommeter sollen sich bereithalten, uns vorzublasen. Wir gehen zum Bronn –«

»Ach, aber gräfliche Gnaden –« seufzte der geschmeichelte Rektor und blickte auf sein krankes Bein.

»O, das soll Euch nicht halten! Wir wollen Euch auf einen Sessel setzen – Ihr möget gleich auf diesem sitzen bleiben – und zwei Knechte sollen Euch tragen wie einen römischen Bürgermeister oder Feldmareschalk, so einen Triumphzug feierte. Das soll so sanfte gehen, als säßet Ihr auf einem geflügelten Esel oder Eurem Katheder.« –

 

Gesagt, getan! Einige Minuten später finden wir fast die ganze Hofhaltung von Pyrmont auf dem Schloßhofe versammelt, in der Mitte auf seinem Lehnstuhl den Rektor Huddäus samt seinem Zipperlein.

Die Knechte und Pagen stellten sich auf zum feierlichen Zuge, und die schrille Stimme der Frau Kurfürstin von Brandenburg erfragte, was dieser neue Lärman bedeute und ob es denn niemalen Ruhe geben werde auf dem Schlosse zu Pyrmont.

Den Grafen Philipp, welcher jedesmal, wenn sein fürstlicher Gast seine Stimme vernehmen ließ, eine Faust in der Tasche machte, stieß das Schwesterlein schalkhaft mit dem Ellenbogen in die Seite, als sie beide auf die ärgerliche hohe Dame und die arme, gequälte Ursula zuschritten.

»Geh«, flüsterte Walburg, »sei ein artiger Knab und recht höflich.«

»Der Teufel hole das Weib!« murmelte der Graf von Pyrmont, ehe er der Frau Hedwig unter tiefen Verbeugungen die Bedeutung und den Zweck des Aufzuges auseinandersetzte. Die Kurfürstin erklärte darauf) sie sei bereit mitzuziehen und durch ihre hohe Gegenwart zur Verherrlichung der Feierlichkeit beizutragen. Gellend schrie sie nach den Damen und Herren ihres Gefolges, nach ihren polackischen Läufern und ihrem Hofzwerge. Als alles sich zusammengefunden hatte, ergriff sie den Arm des kleinmütigen Grafen und stellte sich mit diesem dicht hinter den Spiegelbergischen Zinkenisten an die Spitze des Zuges. Zwischen den beiden Fräulein Ursula und Walburg aber wurde, wie es vorgeschlagen war, der Held des Tages, der Verfasser der Badegesetze des heiligen Borns, der Rektor Hermann Huddäus von Minden, in seinem Armsessel von zwei rüstigen Knechten gleich einem Triumphator einhergetragen.

Ach, hätte der Gute in dieser seligen Stunde schon gewußt, daß sein lateinisches Gedicht der Welt ebenfalls nicht verlorengehen sollte, daß der berühmte Freund, der Doktor Philippus Melanchthon, dieses Poem in demselben Jahre noch zu Wittenberg, in Quarto, vermehrt mit einer Vorrede und Widmung an den Grafen von Hoya, drucken lassen würde: o, wie hätte das die Wonne seines Herzens vermehrt, wie hätte das die Schmerzen seines kranken Beines gemildert!

Gravitätisch teilte der Haushofmeister von Pyrmont mit seinem Amtsstabe die herzudringende Menge, welche den Grundherrn und seine vornehmen Gäste auf die tumultuarischste Weise begrüßte auf ihrem Wege über den heiligen Anger. Alle Hunde, Diener und Dienerinnen des Schlosses, welche von ihren Geschäften nicht abgehalten wurden, zogen mit; die reisigen Knechte, unter welchen sich Klaus Eckenbrecher befand, beschlossen den Zug.

Die Posauner bliesen mit vollen Backen in ihre Instrumente, gewaltiges, stets wiederholtes Jubelgeschrei der Menge stieg auf zum Himmel und klang wider von den Bergen.

Man näherte sich der großen Brunnenlinde. In Purpur und Gold strahlte der Abendhimmel und überleuchtete mit roter Glut phantastisch die bunten Gewänder, die Zelte, die Hütten, die ineinandergeschobenen Wagen und Karren, die bunten flatternden Fähnchen, die wogende tausendköpfige Menge.

Auf dem Wege, welchen heute die große Allee beschattet, bewegte sich langsam der Zug des Grafen und seiner Gäste, und eben hatte er sein Ziel, die große Brunnenlinde, erreicht, als die dort versammelte Volksmenge plötzlich nach allen Seiten hin auseinanderschlug und zurückdrängte mit großem Geschrei, wie ergriffen von Furcht und Erstaunen.


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