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Fünftes Buch
Virtuti Asylum

23

Die Ehe Barberinas war nicht glücklich, dauerte aber um so länger – trotz der häufigen Unregelmäßigkeiten, die sich der Herr Gemahl in puncto Treue gestattete. Man nahm es ja nicht so genau mit derartigen Dingen. Und die Hauptsache – die gesellschaftliche Position – hatte sie ja erreicht, wenn auch nur in der Provinz. Sie war da als Gattin des Regierungspräsidenten immerhin die erste Dame. Sie war an sich reich und insofern von ihrem Mann unabhängig; sie durfte sich auch den Luxus leisten, ein Schloß zu kaufen, wohin sie sich zur Erholung von den Strapazen der ehelichen Langeweile zurückziehen konnte.

Nach zwanzigjähriger Ehe unternahm sie einmal zur Kräftigung ihrer Gesundheit eine Reise nach den böhmischen Bädern.

In einem kleinen Ort wurde die Reise behufs Wechsels der Pferde unterbrochen. Sie benutzte die Zeit, einen Spaziergang zu unternehmen und sah sich dabei die Vorstellung einer Zigeunergesellschaft an.

Unter den Tänzerinnen, Taschenspielern und Jongleuren war einer, der durch sein sonderbares Benehmen auffiel. Ernst und schweigsam übte er sein Amt als Spaßmacher. Ohne eine Miene zu verziehen, parodierte er Tänzer und Tänzerinnen mit einer Gewandtheit, die seine Vorbilder in jeder Beziehung übertraf und auf eine weit über dem Durchschnitt stehende Kunstfertigkeit hindeutete, aber zugleich mit einem ans grotesk Schauerliche grenzenden Ernst, der den Späßen eine ans Herz greifende Wehmütigkeit verlieh und Barberina aufs höchste erschütterte. Voll Mitleid entnahm sie ihrer Börse ein Goldstück und warf es ihm, als er vor ihr stand, in das Tamburin. Ein Zittern durchfuhr ihn, er flüsterte: » Mille grazie, signora« und machte seine eleganteste Verbeugung. Und – da erkannte sie – trotz der Schminke und der ganzen Verkommenheit – Fossano! Sie dachte an jene längst verflossene Zeit, wo sie, ein junges Mädchen, auf der Straße in Parma dem Tanz der Zigeunerin zugesehen hatte und er, der reiche, übermütige, vom Glück verwöhnte Künstler, ihre Gedanken und Wünsche erratend, ein Goldstück über ihre Schulter der Tänzerin in ihr Tamburin geworfen hatte! Und es blitzte in ihren Augen auf.

Durch jenes leicht hingeworfene Goldstück war sie damals seine Schuldnerin geworden. Das hatte die erste Verknüpfung ihres Schicksals mit dem seinen gegeben. Seitdem besaß er ein gewisses, wohlerworbenes Recht auf sie. Aber jetzt erst fiel es ihr ein, daß sie gerade durch jene Zahlung in seine Gewalt geraten war. Ohne daß sie noch er sich dessen bewußt waren, hatte er dadurch ihre Seele gekauft und war ihr Herr und Meister geworden!

Und nun hatte das Schicksal es so gefügt, daß sie es ihm ohne Absicht in der gleichen Weise hatte zurückzahlen können. Das letzte Band, das sie noch miteinander verknüpfte, war gerissen. – »Du bist es, Fossano?« sagte sie halblaut.

Er verbeugte sich schweigend. In seinen Blicken war aber etwas wie eine Bitte, seinem Elend die Larve nicht vom Gesicht zu reißen. Er schämte sich seiner Verkommenheit.

»Erinnerst du dich noch, wie du einst für mich in derselben Weise zahltest?«

Er nickte.

»Jetzt sind wir also quitt!« sagte sie, und um ihre Lippen zuckte es scharf.

Er seufzte und blieb noch vor ihr stehen. In diesem Seufzer lag mehr als eine verschämte Bitte. Der Blick, mit dem er den Seufzer begleitete, gab ihm den Charakter einer Mahnung, die er nicht laut zu äußern wagte, aber die doch ihre Berechtigung zum Ausdruck brachte.

Sie verstand ihn wohl. Als er alles und sie nichts war, hatte er sich ihrer angenommen und ihr den Weg geebnet – aus Eigennutz oder nicht, aber er hatte es getan! Jetzt waren die Rollen vertauscht – sie auf der Höhe des Lebens und er in der Gosse. Jetzt war's an ihr, Schicksal zu spielen. Es war aber auch die Gelegenheit da, sich zu rächen, und sie ließ sie nicht ungenutzt vorübergehen. Hilflos, von Schmach bedeckt, stand er vor ihr, und sie rächte sich, indem sie ihm Hilfe schenkte – weniger aus gutem Herzen als aus der grausamen Lust, ihn wieder mit Füßen zu treten. Sie warf ihm noch ein Goldstück in das Tamburin.

»Das erste hat meine Schuld an dich getilgt«, sagte sie. »Dies Goldstück macht dich zu meinem Schuldner. Nimmst du es an, so bist du mir verpflichtet wie ich bis jetzt dir.«

Er nahm es.

»Signora befehlen?« fragte er unterwürfig.

»Unsere Kunst, die du mich heilig zu halten lehrtest, will ich nicht von dir durch die Gosse geschleift wissen«, sagte sie, und er zuckte unter ihren Worten wie unter einem Peitschenhieb zusammen. – »Ziehe die Bajazzotracht aus! Und wenn du umgekleidet bist, komm in das Gasthaus und hole dir meine Befehle, sofern du gedenkst, dich unter meine Botmäßigkeit zu begeben!«

Sie winkte ihrer Begleiterin und ging.

Als er nach einer halben Stunde in seinen zerschlissenen Kleidern vor ihr erschien, das von Entbehrungen und vom jahrelangen Lotterleben durchfurchte Gesicht von Schminke und Malerei befreit, da stand ihr Entschluß fest.

Sie brauchte seine Lebensgeschichte seit der Zeit, da sie ihn das letztemal gesehen hatte, nicht in allen Einzelheiten zu hören – ein paar Worte genügten, um ihr darzutun, wie er, als Spion geächtet, als Spieler verrufen, von Stufe zu Stufe gesunken war. Nachdem seine Ersparnisse verzehrt waren, hatte er sich den Zigeunern anschließen müssen, um da als Faktotum und Spaßmacher bei den Vorstellungen kümmerlich sein Leben zu fristen. An ein erneutes Hochkommen war bei ihm nicht zu denken. Selbständig würde er sich kaum einige Tage halten können, ohne zu verbummeln. Aber er konnte ihr nützlich werden. Er hatte ja Erziehung, Gewandtheit, Manieren, hatte Sprachkenntnisse und war mit dem Leben und den Menschen vertraut. Und vor allem: er kannte sie und würde ihr, wenn er wollte, ohne weiteres jeden Wunsch vom Gesicht ablesen können.

Barberina bot ihm an, ihr Haushofmeister zu werden und sie sofort auf der Reise zu begleiten. Und er nahm an, ohne mit den Wimpern zu zucken. Eine Börse, die sie ihm spendete, setzte ihn in die Lage, sich gleich mit dem nötigsten an Kleidung zu versehen und sich von den Zigeunern frei zu machen. Und so begleitete er sie auf der Reise und zurück nach ihrem Schlosse Barschau in Schlesien. Ein besonderes Vergnügen machte es ihr dabei, daß Friedrich ihn des Landes verwiesen hatte. Denn erstens war er so ganz von ihrer Gnade abhängig und sicher nur, solange sie sein Inkognito bewahrte! Außerdem konnte sie so dem König, wenn auch ohne dessen Wissen, ein Schnippchen schlagen! Jahraus, jahrein waltete Fossano also seines Amtes, ohne auch nur durch eine Miene zu zeigen, daß er früher andere Beziehungen zu ihr gehabt hatte – aufmerksam, korrekt und in strengster Beobachtung der übernommenen Pflichten.

Bis sie sich endlich, müde der schiefen Stellung, in die die Mätressenwirtschaft ihres Mannes sie gebracht hatte, entschloß, die Ehe, die schon lange kein Zusammenleben mehr gewesen war, nach achtunddreißigjähriger Dauer auch formell zu trennen.

Sie residierte, wie fast immer in den letzten Jahren, allein auf ihrem Schlosse Barschau, als die Nachricht von der endlich vollzogenen Scheidung, die ihr Rang und Namen auch ferner sicherte, bei ihr eintraf.

Sie ließ ihren Freunden und Bekannten unter dem schlesischen Adel einen Tag ansagen, an dem sie bereit wäre, Glückwunschbesuche zu empfangen.

Am frühen Morgen dieses Tages gratulierte ihr die gesamte Dienerschaft.

In feierlichem Aufzug zogen sie an ihr vorbei: Zofen, Kammerjungfern, Türsteher, Lakaien, Köche und Gärtner machten ihre tiefsten Reverenzen und brachten ihr Blumen aus dem Garten. Zuletzt der Haushofmeister, dem als einzigem die Gnade zuteil wurde, ihr die Hand zu küssen.

Er tat es mit vollendeter Eleganz, richtete sich dann in voller Würde auf, gab ein Zeichen, und die feierlich geschmückte Schar entfernte sich. Auf steifen Beinen trat er dann nochmals vor, nahm seiner Gebieterin die Blumen ab und begann sie in Vasen zu ordnen.

»Achtunddreißig Jahre ist es nun her«, sagte er dabei mehr für sich selbst. »Achtunddreißig Jahre! Und heute erst –« Er seufzte.

»Ja, heute erst –« wiederholte die Baronin, ebenfalls seufzend, aber auch sie vollendete den Satz nicht.

»Hja«, sagte der Hofmeister und steckte noch eine langstielige Rose in die Mitte des Buketts. »Das Glück der heiligen Ehe haben Madame reichlich genossen!«

Sie blickte ihn nicht an, sie kniff nur die dünnen Lippen zusammen und sagte kurz:

»Gut, daß es vorbei ist!«

»Es wäre besser schon vor zehn Jahren vorbei gewesen!«

»Meinst du?«

»Mit Erlaubnis, ja! Madame haben viel Geduld gezeigt. Viel zuviel für ein kurzes Menschenleben. Was nützt Madame jetzt noch die Freiheit?«

»Was hätte sein können, interessiert uns nicht. Was sein wird, ist wichtiger. Nun haben wir die Scheidung und sind eines unerträglichen Auslandes ledig!«

»Es ist aber nicht, was es hätte sein können«, sagte der Haushofmeister eigensinnig. »Vor Jahren, als der Präsident, Dero Gemahl, anfing, Madame offen seine Mißachtung zu zeigen und seine Mätresse in die Gesellschaft einführte und bevorzugte, da hätten Madame die Scheidung selbst beantragen müssen, statt abzuwarten, bis er es tat, um jene Dame ehelichen zu können. Dann hätte es wenigstens den Anschein gehabt, als wünsche Madame das Leben noch zu genießen – und nicht, wie jetzt, als sei Madame verstoßen!«

»Du bist dreist!« sagte die Baronin und stand auf. »Kümmere dich um das, was deines Amtes ist! Wir werden viel Gäste haben. Der ganze Adel wird sich jetzt wohl bei mir sehen lassen!«

»Ich fürchte, die werden ihre Glückwünsche lieber in Glogau bei der neuen Frau Präsidentin des gleichen Namens vorbringen! Madame werden nicht zu viele Gratulanten empfangen! Eine verstoßene Ehefrau ist den Leuten keiner Beachtung wert!«

Sie blickte ihn scharf an.

»Sie werden wohl nicht – wie du – übersehen, daß er der schuldige Teil war!«

»Sie werden Madame zum mindesten für mitschuldig halten. Und auch denken, daß Madame sich reichlich lange Zeit zur Überlegung gegönnt hätten, um Dero Einwilligung zur Scheidung zu geben!«

»Man verzichtet nicht vorschnell auf Rang und Einfluß – das werden sie alle wissen. Als Präsidentin von Cocceji war ich die erste Dame der Provinz – der ganze steifnackige Adel hatte sich mir zu beugen.«

Der Haushofmeister seufzte. – »Die erste Dame der Provinz! Wenn ich das höre und bedenke, daß Madame die erste Dame des Königreichs hätten sein können – wenn –«

»Wenn?« wiederholte sie und nahm dabei eine Haltung an, die jeden anderen als Fossano sofort zum Schweigen gebracht hätte.

»Wenn Madame selbst gewollt hätten«, sagte er, ohne sich im geringsten einschüchtern zu lassen. »Wenn Madame geruht hätten, sich im entscheidenden Augenblicke etwas weniger gehen zu lassen!«

»Wer, wie du, in jenem entscheidenden Moment mitgeholfen hat, mich um die Besinnung zu bringen, sollte mir nicht auch noch das sagen! Du bist aber ein boshafter Mensch, voll Schadenfreude und Scheelsucht! Du bist ein Undankbarer! Du vergißt, daß ich dich aus dem Elend herausgezogen habe, in dem du versunken warst! Du schätzt es zu gering ein, daß ich dir zu einem ruhigen Alter verhelfen habe!«

»Soll ich Madame so verstehen, daß ich mich durch meine Worte um meinen Posten in Dero Dienst gebracht hätte?« fragte der Alte, und es leuchtete unheimlich in seinen Augen auf.

»Das könnte so kommen, wenn du dich nicht in acht nimmst«, sagte sie hart und setzte sich an ihren Sekretär. »Geh jetzt und sorge dafür, daß alles bereit ist, wenn die Gäste kommen!«

»Zu Befehl!«

Der Haushofmeister stellte die Vase mit den Blumen vor ihr auf den Schreibtisch. Er blickte seine Gebieterin furchtlos an und nahm noch einmal das Wort:

»Auch auf die Gefahr hin, fortgejagt zu werden, werde ich meine Pflicht tun und Madame meine Meinung sagen, wenn es not tut!« Und hiermit machte er kehrt, ohne die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Gerade und steifbeinig stelzte er hinaus. Sie blickte ihm erstaunt nach.

Seitdem sie ihn in Dienst genommen hatte, war dies das erstemal, daß er sich etwas gegen sie herausnahm. Stets aufmerksam, zuvorkommend, wortkarg und pflichtbewußt durch die ganzen Jahre, dankbar für die ihm erwiesenen Wohltaten, hatte er sich streng innerhalb der Grenzen seines Amtes gehalten. Und heute kehrte er wieder den Lehrmeister heraus und sah sie mit jenem überlegenen spöttischen Blick an, der sie früher immer in Harnisch gebracht hatte. Und in seiner Stimme zitterte wieder jener verächtlich überlegene Ton des Meisters, der sich herabließ, seiner Schülerin eine Lektion zu geben!

Sie lachte laut auf! Ihr altes, steifbeiniges, verknöchertes Faktotum, schon fast abgestorben vor Entbehrungen und Gebresten des Alters, maßte sich an, wieder aufzuleben und noch einmal den eleganten, verwöhnten Weltmann und Menschenverächter herauszukehren! Das konnte noch sehr belustigend werden!

Sie ging zum Spiegel und blickte hinein. Ein volles, reifes Frauengesicht, in das die Jahre ihre Falten gegraben hatten – die Augen schwarz und stechend, die Figur mehr als üppig, nichts mehr von der übermütigen Tänzerin, die einer ganzen Welt ein Schnippchen geschlagen hatte. Eine große Dame, an Wohlleben, Behaglichkeit und Ruhe gewöhnt, und ohne Drang zu Abenteuern! Sie brauchte wahrlich weder Führung noch Schutz! Sie war frei, unabhängig, reich; und die Tage, die ihr noch beschieden waren, würde sie hier auf ihrem schönen Landschloß in vertrautem Verkehr mit lieb gewordenen Standesgenossen verleben!

Aber die Standesgenossen kamen nicht! Sie war mit der Ehescheidung aus ihrem Kreise getreten; der Kreis schloß sich wieder – um ihre Nachfolgerin, die ihren Namen und ihre Stellung geerbt hatte. Sie war jetzt draußen und wurde ignoriert. Das hatte sie nicht erwartet. Trotz ihrer Oberflächlichkeit hatte sie an die Echtheit der Gefühle geglaubt, die man ihr zeigte, und wurde jetzt bitter enttäuscht!

Sie ließ es sich aber nicht anmerken. Sie wahrte die Würde und behielt ihrer Umgebung gegenüber die Haltung. Nur den Hofmeister blickte sie ein paarmal fragend an, als er das Mittagessen servierte. Er aber tat, als merke er nichts, war korrekt bis in die Fingerspitzen, versah seinen Dienst und wartete, bis er gefragt wurde.

Lange brauchte er nicht zu warten.

»Du freust dich wohl?« sagte sie plötzlich und blickte von ihrem Teller auf. »Du freust dich wohl, weil du recht behalten hast?«

»Wie meinen Madame?«

»Sagtest du nicht heute früh, daß, nach deiner Meinung, meine Freunde es vorziehen würden, statt hier bei mir im Hause meines ehemaligen Mannes zu gratulieren?«

»Ja. Ich nahm an, sie würden nicht anders sein, als die Menschen meistens sind. Aber ich für meine Person gestatte mir keinesfalls, irgendwelche Meinung zu äußern – weder Freude noch Schadenfreude!«

»Ich schätze es, daß du dich auf deinem Platze hältst. Aber – wir kennen uns zu lange – der Anteil, den du früher an meinem Leben genommen hattest, war zu einschneidend, als daß ich an eine gänzliche Teilnahmslosigkeit denken könnte!«

»Der Anteil, den ich an Dero Leben zu nehmen die Ehre hatte, gehört der Erinnerung an und ist längst von dickem Staub bedeckt, so daß ich ihn nicht mehr ohne weiteres zu sehen vermag. Es wird Madame nicht anders gehen! Ein ›Interesse‹ habe ich nur noch für meinen Dienst! Und zu meinem Dienst gehört es nicht, mich mit dem Abstauben der Nippes und Bijouterien aus Dero Vergangenheit zu befassen! – Wenn aber Madame es mir ausdrücklich befehlen, weigere ich mich nicht, behilflich zu sein, sie aus den Behältern von Dero Gedächtnis hervorsuchen zu helfen, wenn es auch Madame keine besondere Freude bereiten dürfte!«

»Du bist frech!« sagte Barberina gereizt. »Du nimmst dir einen Ton heraus, der deutlich zeigt, daß ich auch für dich von heute ab weiter nichts bin als die ehemalige Tänzerin Barberina!«

»Von heute erst?! Pardon, wenn ich da zu widersprechen wage! Das sind Madame von dem Augenblick an gewesen, als Madame den Geheimen Rat und jetzigen Regierungspräsidenten von Cocceji ehelichten! Da hörte die Barberina auf zu sein! Da war die Laufbahn ihres Gestirns unter den Horizont gesunken! Jetzt könnte es wieder emporsteigen!«

»Du meinst, daß ich jetzt noch die unterbrochene Laufbahn fortsetzen könnte? Du siehst das Silber, das sich schon in meine Haare schleicht, siehst, daß auch die Jugend längst eine Erinnerung ist – und redest noch von einem neuen Aufstieg meines Gestirns? Du nimmst dir heraus, mich zum besten zu halten!«

»Durchaus nicht! Ich bin so frei, der Ansicht zu sein, daß der Aufstieg zu dem glanzvollen Abschluß eines einzig dastehenden Schicksals jetzt zu beginnen hätte!«

»Wie meinst du das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Meines Amtes ist es nicht, Schicksalsfragen zu enträtseln! Wenn Madame mir aber befehlen, das, was war, wieder ins rechte Licht zu rücken, damit Madame selbst sehen können, dann wollen Madame nur auf den betreffenden Gegenstand des hohen Erinnerns deuten! Und wenn ihn der Staub der Zeit zu dicht bedecken sollte, ich helfe gern, ihn zu entfernen!«

Barberina blickte die alte, dürre Gestalt an, die kerzengerade vor ihr stand, ohne einen anderen Ausdruck im Gesicht als den der gehorsamsten Pflichterfüllung, und zuckte mit den Schultern.

»Nun, so sag mir deine Meinung über die Rolle, die ich am Hofe des verstorbenen Königs hätte spielen können – wenn ich es nicht verpaßt hätte!«

»Dieselbe Rolle wie überall und in jedem Abschnitt des Lebens! Madame tanzten um die Krone herum – und verschmähten es im rechten Augenblick, nach ihr zu greifen!«

Sie lächelte.

»Ich hätte das verpaßt?«

»Zu Befehl, ja!«

»Wann denn?«

»Eben das letztemal, als wir einander auf der Bühne gegenüberstanden als Pygmalion und Galathée!«

Sie stand auf, heftig bewegt.

»Du wagst es, mich daran zu erinnern?«

»Ich hatte den gnädigsten Befehl! Keinesfalls wollte ich die Rolle meiner Wenigkeit dabei in Erinnerung bringen!«

»Du hättest allen Anlaß, das zu vermeiden; denn du bist schuld an dem, was sich damals zutrug!«

»Schuld an seinem Schicksal kann der Mensch nur selbst haben. Hätten Madame bei jener Gelegenheit die Geistesgegenwart bewahrt – wer weiß, wie es dann gekommen wäre –«

»Wie denn, meinst du?«

»Ich meine, daß bei der Gelegenheit Madame der Krone so nahe waren wie nie wieder in Dero Leben. Sie schwebte dicht über Ihrem Haupte, aber Madame sahen es nicht, Madame empfanden nicht, daß der König nichts sehnlicher suchte als die selbstlose Hingabe eines anderen Menschen an sein Wollen. Er wollte immer nur seine große Sache und glaubte damals noch der schöpferisch empfangenden Liebe eines gleichempfindenden Menschen zu bedürfen – er wünschte sie zu gewinnen und neigte sehr zu der Annahme, sie bei Madame finden zu können. Er ahnte die Möglichkeit, erkannte aber auch die Unmöglichkeit, als Madame bei der entscheidenden Probe ihrem persönlichen Temperament die Zügel ließen und alles andere darüber vergaßen. Ich sollte ihm helfen, Madame die Maske vom Gesicht zu reißen.«

»Ja, du warst stets bereit, mich bloßzustellen!«

»Wer das weiß und sich doch Blößen gibt, darf keinem als sich selber Vorwürfe machen! Ich hatte nicht die Macht, Zwang auszuüben, damals ebensowenig wie jetzt. Als aber die Maske fiel und das wahre Gesicht unverhüllt zur Schau trat – aber in leidenschaftlichster Aufwallung verzerrt –, da sah jener suchende Blick aus der königlichen Loge wohl, daß das, was er suchte, wirklich da, wo er's ahnte, zu finden gewesen wäre – wäre es nicht bereits verlorengegangen!«

»Durch wen?« fragte Barberina stechenden Blickes.

»Madame verzeihen, wenn ich mit einer Gegenfrage antworte. Wer bahnte Ihnen den Weg, wer führte Sie zu jenen Höhen, wo es die Gelegenheit gab, Großes zu leisten?«

»Wer verführte mich auf Abwege, solltest du lieber fragen!«

»Führen und verführen sind kaum auseinander zu halten! Es kommt darauf an, der Führung zu folgen und der Verführung zu widerstehen! Danach gestaltet sich der Weg des Lebens! – Madame ließen in jenem höchsten Moment von Dero Laufbahn sich wiederum zu sehr gehen, und das entschied! Das Spiel um die Krone war verloren! Was dann folgte, war ein eigenwilliges Einsargen des eigenen Lebens – ein jahrzehntelanges Modern bei lebendigem Leibe im Grabe der Ehe. Jetzt hat sich das Grab aufgetan. Madame sind wieder draußen.«

»Und was da draußen Wert hatte, ist tot! Wozu uns darüber aufhalten? Laß uns weitergehen!«

»Wohin befehlen Madame?«

»Finde du den Weg!«

»Immer noch?« sagte Fossano kopfschüttelnd. »Das Ziel soll sich der Mensch selbst stecken. Madame ließen sich aber stets vom Zufall überraschen und von anderen führen!«

»Von anderen als von dir, meinst du wohl? Denn du wolltest stets die treibende Kraft sein und merktest nicht, daß du selbst dabei getrieben wurdest! Am meisten da, wo du glaubtest, am mächtigsten in mein Leben eingreifen zu können –in Paris! Leider aber gehen einem immer erst die Augen auf, wenn's zu spät ist.«

»Das ist der Lauf der Welt. Das schönste Porzellan bekommt bei unachtsamer Handhabung Sprünge! Man merkt's nicht gleich; man stellt es aus der Hand! Nachher, beim Abstauben, kommt der Schaden an den Tag, und man sieht, wie schön es hätte sein können – wenn es nicht kaputt gegangen wäre! – Paris hätte märchenhaft schön sein können! Madame hätten dort im Reiche der Grazie und der Schönheit aus dem vollen schöpfen können – Madame hätten geherrscht – –«

»Ohne ›selbstlose Hingabe an das Wollen‹ eines Herrschers?«

»So war's! Madame hätten die Allgewalt gehabt – wenn sich Madame nicht voreilig meiner Führung entzogen hätten, um sich Leuten anzuvertrauen, deren Übereifer alles verdarb. Das gab dem Ganzen, das sich so märchenhaft zu gestalten begann, gleich zu Anfang einen Riß! Die Geschichte bekam einen Schönheitsflecken – die Krone Frankreichs glitt in andere Hände, die gierig danach griffen!

Und so war's bei jedem Königreich, das sich Madame auftat! Die Gelegenheit war stets da und war immer günstig – aber immer wurde sie verpaßt!«

»Auch in England?«

»In England hätten Madame unbeschränkt gebieten können, wären Madame nicht so naiv gewesen, gerade da Dero Herz die Hauptrolle spielen zu lassen. Das Herz Englands ist aber der Geldsack! Der regiert unumschränkt! Und der lag Madame schon offen zu Füßen!«

»Gottlob, daß ich meinem Herzen folgte und ihn liegenließ! So habe ich wenigstens etwas vom Leben gehabt!«

Der Haushofmeister seufzte.

»Madame haben viel vom Leben gehabt! Liebe, Haß, Ehren, Verleumdungen, Reichtum, Armut! Fast alles! Es bleibt nur noch – die Tugend!«

Sie blickte ihn groß an. » Du – sagst mir das?!«

»Ein anderer würde genau dasselbe sagen! Es ist ein eigen Ding um die Tugend! Man hat sie, man verliert sie – man gewinnt sie wieder!«

»Gewinnt sie wieder?! Das war mir neu!«

Sie lachte laut auf.

Er aber verzog keine Miene und verharrte in demselben trockenen, fast geschäftsmäßigen Ton.

»Das ist die Karriere!« sagte er. Und sie lachte noch toller.

»Es ist mein Ernst, Madame«, sagte er dann, ohne sich von ihrer Munterkeit anstecken zu lassen. »Nichts ist unwiederbringlich! Das Leben neigt sich immer wieder seinem Anfang zu, wenn es die Mittagshöhe überschritten hat, und da findet sich so manches verloren geglaubte Gut aufs neue am Wege!«

»Auch die Tugend?!«

»Die vor allem! Man findet sie – bei anderen und hütet die neuen Besitzer vor dem Schaden, den man selbst erlitt! Das ist die größte Tugend!«

»Du wirst mich noch fromm machen wollen!«

»Madame waren als Kind sehr zur Frömmigkeit geneigt. Das Alter pflegt sich gemäß der Kindheit zu gestalten. Das fügt sich ohne eigenes Zutun, noch das anderer Leute!«

»Gott sei Dank! Sonst müßte ich noch befürchten, daß du mich dazu bringen willst, ein Tugendasyl zu errichten!«

»Das Geld dazu hätten Madame! Und woher stammt es? Zweckmäßiger könnte es nicht verwendet werden als zur Verstopfung seiner Quellen!«

Sie stand auf.

»Du wirst dreist!« sagte sie und ging an ihren Schreibtisch. »Es ist aber gut, daß du mich an das Geld erinnerst; denn dafür muß noch beizeiten gesorgt werden.«

»Madame wollen es doch nicht Dero geschiedenem Gatten vermachen?«

»Weder habe ich Lust dazu, noch würde er es brauchen! Als herrenloses Gut will ich es aber auch nicht hinterlassen.«

»Würden Madame es dann nicht wenigstens so nutzbringend anlegen, daß Ihnen daraus noch bei Lebzeiten ein Vorteil erwachsen könnte?«

»Wie meinst du das?«

»Ich denke, Madame könnte es zu irgendeinem wohltätigen Zweck zur Verfügung stellen und daran Bedingungen knüpfen, die für Dero Person die Folge hätten, die ehemalige Tänzerin und die geschiedene Frau Präsidentin Cocceji vergessen zu machen, indem sie, in den Augen der Welt, nicht nur rehabilitiert, sondern sogar erhöht würde!«

»Du denkst an eine Standeserhöhung!«

»Ganz recht, und an eine damit verbundene Namensänderung!«

Sie überlegte es sich einen Augenblick.

»Und denkst du, der König könnte dazu seine Einwilligung geben?«

»Wenn das Gesuch in Beziehung zu Dero Vermögen gebracht und in ziemlicher Weise als gute Tat dargestellt wird, wird er es wohl tun!«

»Er kennt mich aber kaum noch!«

»Als Thronfolger hatte er reichlich Gelegenheit, Madame bewundern zu lernen. Bei Dero großen Verdiensten um die Majestät des verstorbenen Königs haben Madame auch wohl begründete Ansprüche, vom jetzigen König estimieret zu werden – wenn sich Madame, wie ich vorzuschlagen die Ehre hatte, bei ihm in Erinnerung zu bringen verstehen!«

»Wie meinst du es?«

»Der König ist galant. Er gefällt sich in der Rolle eines Beschützers des schönen Geschlechts! Er wird infolgedessen auch als verschwenderisch angesehen! Geben ihm Madame die Gelegenheit, seine schützende Hand über Dero Haupt zu halten, aber so, daß er auch dem Ruf, er sei ein Verschwender, wirksam entgegentreten kann, indem er die Gelegenheit wahrnimmt, dem Staate das große Vermögen, über das Madame disponieret, zu erhalten, oder wenigstens zu verhindern, daß es außer Landes geht! Stellen wir es für irgendeinen vom König zu bestimmenden wohltätigen Zweck zur Verfügung!«

»Mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es nicht, wie du anzudeuten die Dreistigkeit hattest, zur Errichtung eines Tugendasyls verwendet werde!« sagte Barberina energisch.

»Ich verstehe und würdige Madames Aversion, den ausgetretenen Weg alternder galanter Damen zu gehen«, sagte Fossano. »Wenn aber Madame jenen Wunsch zur Bedingung machen, müßten Madame es sich versagen, andere Bedingungen zu stellen, um nicht zu riskieren, als unbescheiden eine Zurückweisung zu erhalten!«

»An was für eine ›andere‹ Bedingung denkst du?«

»An die hauptsächliche – an die Verbesserung von Dero gesellschaftlicher Stellung, damit Madame Dero früherem Bekanntenkreis gegenüber wieder den nötigen Rückhalt gewinnen!«

»Die Standeserhöhung also?«

»Eben das! Belieben Madame vom Könige nichts zu erbitten als die Erhebung zur Gräfin und das Prädikat Exzellenz, und im übrigen seiner Gnade die Verfügung über das Vermögen zu irgendeinem Seiner Majestät genehmen wohltätigen Zweck anheimzustellen!«

Sie sann ein wenig nach.

»Ich werde mir den Vorschlag überlegen«, sagte sie dann. »Nun geh! Ich bedarf für heute deiner Dienste nicht mehr!«

Fossano verbeugte sich und ging.

Barberina nahm ein Blatt Papier aus dem Schubfach ihres Sekretärs und schrieb, ohne viel nachzudenken, folgenden Brief:

»Sire!

Eine arme, alte Fremde, die das Glück hat, Eure Untertanin geworden zu sein, wirft sich zu Euren Füßen, Euch anzuflehen, mir in der Verlassenheit, in die mein Gatte mich gestoßen, die Gnade zu erteilen, einen anderen Namen tragen zu dürfen als den, welchen ich bis jetzt hatte. Ich wage es sogar, so kühn zu sein, Eure Majestät zu bitten, mir den Rang einer Gräfin verleihen zu wollen.

Da ich keine Kinder habe und meinem Leben wohl nur noch wenige Tage beschieden sind, hoffe ich, daß Eure Majestät meine untertänigste Bitte erfüllen werden. Mein Mann hat auf mein ganzes Vermögen verzichtet, so daß ich darüber disponieren kann, wie es mir gefällt. Da ich aber keine Verwandten in Italien habe, ist es meine Absicht, ein Institut für die Armen Schlesiens zu gründen, und ich würde glücklich sein, wenn dieser Plan Eurer Majestät Wohlgefallen würde.

Ich bin in tiefster Ergebenheit, Sire, Eurer Majestät sehr untertänige und gehorsame Dienerin

Barberina de Cocceji.
Barschau, 6. August 1789.«

Sie las das Schreiben durch und verschloß es in ihrem Portefeuille.

Am folgenden Tage versiegelte sie es und übergab es Fossano mit dem Befehl, für die sofortige Beförderung zu sorgen.


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