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»Gehe Hof, falle Loch«

So klein die Hilde war, so empfindlich war sie manchmal. Ob mit, ob ohne Grund, das pflegen große Leute zu entscheiden. Dummerweise. Denn ob, weshalb und wann ein kleines Herz aufschluchzt, geht in erster Linie dieses kleine Herz an, dann erst andere Leute. Deren Lächeln mag ja weise sein. Weisheit aber ist ein schlechter Porzellankitt für zerbrochene Kinderherzen. Sie selber müssen sich den Kitt bereiten. Wenn's heute nicht gelingt, je nun, dann morgen.

»Hilde, könntest auch mal früher aufstehn«, so begann's an jenem Tage. »Hilde, hast den Hals auch ordentlich gewaschen?« ging es weiter. »Hilde, Nachbarsgretl kann schon bis fünf zählen und du?«

Jetzt bricht's aus: »Ich – ich kann nix – gar nix kann ich – dumm bin ich – ganz dumm. –«

»Hm, und ein Loch hast auch schon wieder im Strumpf.«

Nichts bricht mehr aus. Stumm wird's. Das Loch geht um. Das Loch hat ein kleines Herz durchlöchert.

Durch ein Loch kann aber auch Licht kommen, sonderbares Licht. Ist nicht im Hofe draußen auch ein Loch? Eins mit dunkeldrohendem Wasser aus dem tiefen Grunde? Eins, vor dem die Mutter immer wieder warnte? Eins, das nur mangelhaft mit Brettern zugedeckt und das manchmal unbedeckt war, wie eine offne Wunde …

Hilde hatte schon dreimal nach der Klinke gelangt. Es fehlten noch zwei Zoll. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Schließlich öffnete ihr die Mutter selber: »Nun, Hilde, wohin willst du?«

»Gehe Hof.«

»Was willst du denn im Hof?«

»Falle Loch.«

Der Möglichkeiten dreie tun sich auf in der Geschichte. Soll ich die Mutter sagen lassen: »Pfui, du garstiges Kind!« Soll ich den Vater lachen lassen? Soll ich Onkel Philipp sagen lassen: »Schön Kind, geh hinaus und fall hinein, soll ich dir etwa helfen?«

Tun wir nicht erhaben, Freunde. Wer von uns hat nicht im Kinderbett schon krank gelegen, sich nicht genug bedauert gefühlt und nach der Medizin geschielt: Wenn ich die auf einmal tränke – wenn ich stürbe – wenn sie jammernd um meine arme Leiche stünden. hätten wir doch – hätten wir doch – strenge würden wir uns aufrichten: Zu spät, gerade recht geschieht 's euch! …

Ja, sagt ihr, das war eben, als wir Kinder waren.

Und als die Liebste von euch nichts wissen wollte, als du in der Nacht mit bloßer Brust am offenen Winterfenster standest: Lungenentzündung? meinetwegen …

Welcher Unterschied gegen: »Gehe Hof, falle Loch?« Hand aufs Herz – das Hochdeutsch höchstens.

Uns, uns Deutschen steht das Weinen heute näher, als es Hilde stand. Salzig quollen deren Tränen, unsere quellen blutig. Uns hat man schlimmeres gesagt als: »Könntest auch mal früher aufstehn.« Ob wir den Hals – den Hals, von dem ein aufrecht reiner Nacken ja ein Teil ist – ordentlich gewaschen hätten, stimmt schon eher. Und Löcher haben wir, Gott sei's geklagt, nicht nur im Strumpfe, sondern – westlich, östlich – in den Lenden.

Wär's ein Wunder, Freunde, wenn wir uns mit letzten Kräften auf die Zehenspitzen stellten, nach der Klinke griffen: »Gehe Hof, falle Loch.«

Oder auf Hochdeutsch übersetzt, in Zeitungsspalten: Wenn ihr uns weiter drangsaliert – wenn wir die Bolschewistenmedizin auf einmal tränken – wenn wir stürben und der Bolschewismus über eure eigenen Grenzen brandete – wenn ihr jammernd ständet: Hätten wir, ach hätten wir – strenge würden wir uns aus dem Grab aufrichten: Zu spät, gerade recht geschieht 's euch! …

Ach, wie lang sind doch Leitartikel in der Zeitung! Und wie kurz war Hilde: »Gehe Hof, falle Loch.«

Hebbel kam darin der Hilde noch am nächsten: »… mit den eigenen Fingernägeln grübet ihr den letzten Deutschen wieder aus der Erde …«

Aber muß das kommen?

Nein, sagt ihr, müssen nicht, wenn unsere Feinde endlich so vernünftig – –

Unsere Feinde?

Freunde, ich vergaß das Ende der Geschichte zu berichten: Eines Tages – freilich waren Jahre seitdem hingeflossen – eines Tages reckte sich die Hilde. Nein, nicht nach der Klinke. Nach dem Handwerkszeuge an der Mauer – schier verstaubt sah's aus zwar – hat sie sich gereckt. In den Hof ist sie gegangen, festen Blicks hinabgesehen in die Tiefe hat sie, wo die dunklen Wasser brauten. Fester noch schwang sie den Hammer, trieb die Nägel in die Bretter, hat das Unglücksloch zugenagelt. Ein für allemal.

»Meine Kinder,« hab ich Hilde zwischen Hammerschlägen sagen hören, »meine Kinder werden dahinein nicht fallen, auch im Trutz nicht.«

Und ihr Hammer – er war von der Arbeit wieder blank geworden – funkelte in der Sonne.


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