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Abgrund?

Ich kannte einen, den ein schweres Unglück traf. Einen Augenblick lang war er wie gelähmt. Dann schnaufte er ein paarmal. Daraus krempelte er die Aermel aus und sah sich um, wo sich das Leben wieder packen ließe.

»Ach, Herr Neugebauer«, sagte jemand, »mein aufrichtiges Beileid.«

»Ich danke«, sagte er und krempelte die Aermel höher.

»Ich fühle Ihre Lage nach. Sozusagen beim Erwachen sich am Rande des Abgrunds vorzufinden, muß doch schrecklich –«

»Es geht.«

»Kenne das: Tapferkeit markieren. Mir machen Sie nichts vor. Ich bin Psychologe und weiß, wie's einem knapp vor dem Zusammenbrechen –«

»Zusammen? – nee. Brechen? – eher.«

»Hut ab vor Ihrem grimmigen Humor. Aber treiben sie es nicht zu weit. Die Verzweiflung hinterher ist um so stärker, wenn – wie, Sie spucken in die Hände? Hab' ich's nicht gewußt: das Fieber der Verzweiflung –«

»Schief gewickelt – Arbeitsfieber!«

»Alle Achtung! Wenn man bedenkt: am Rand des Abgrunds –«

»Himmelseiten! Kruzitürken! Bombenschwerenot und –!«

»Einen Augenblick – ich hole gleich den Arzt –«

»Den Abgrundarzt, nicht wahr?«

»Nun redet er schon irre. Geschwind dies Pulver, bis der Arzt kommt – keine Angst – dieselben Bestandteile, wie Druckerschwärze, aha, es wirkt schon – er wird ruhig – fast apathisch – ja, ja, es ist kein Spaß, so dicht am Rand des Abgrunds – schön, schön, der Krampf der Hände lockert sich – Teufel, seine Schaufel rutscht hinunter …«

*

»Hübsch erfundene Anekdote«, sagt ihr, Freunde, und ihr lächelt.

Lächelt nicht. Das Ding ist nicht erfunden. Täglich steht es bretzelbreit in den Blättern, täglich wird's uns zum Kaffee, zum Abendessen eingegeben: dicht vor dem Zusammenbruche …, hart vor der Verzweiflung …, knapp am Rand des Abgrundes …, unentrinnbar einem Katarakt zutreibend …

Eine Weile wehrt man sich. Dann sinkt lässig die und jene Hand: Wenn's schon keinen Sinn hat.

Was sagt ihr? Eindruck auf die Feinde? – Forderungen mäßiger? – auch das harte Schicksal ließe sich vielleicht versöhnen, wenn es in der Posemuckler Zeitung unseren Abgrund attestiert erblicke?

»Ach, kennt ihr Feinde und Schicksal schlecht: Wer zu Ende ist, dem helfen sie mit einem Stoß, dem Gnadenstoß …

Verehrter Mann aus Posemuckel, daß wir am Rand des Abgrundes ständen, sagst du, könntest du beweisen?

Nicht nötig, lieber Herr, am Rand des Abgrundes stehen wir alle, du und ich und unsere Feinde. Nein, nicht erst heute. Schon seit Olims Zeiten. Und es ist die Frage, ob wir vor dem Kriege nicht zwei Fingerbreiten abgrundsnäher standen.

Das seien Bilder, sagst du?

Ei, und der Mann, der froh bewegt das Weinglas hob, das ihm der Tod im nächsten Augenblick aus der Hand schlug – war der nur ein Bild?

Und der andere, den am hellen Sonntage durch ein Ritzchen in der Haut Mikrobenheere fällten – Bild nur oder Fleisch und Blut?

Und der dritte, den aus lichtem Wandern auf dem Berggrat über Nacht die Hand der Schwermut in die Tiefe zog – Bild oder Wirklichkeit?

Und du selber, bist du sicher, ob in einer bösen Stunde nicht das Werk von tausend Guten mit dir in den Abgrund stürze?

Nein, am Rand des Abgrundes stellen wir täglich. Oder könntest du dich, unterm Ewigkeitenwinkel rückwärts schauend, eines Tages erinnern, wo du nicht am Rande des Abgrundes standest?

Schaudern überläuft dich? Wie erst würdest du erschrecken, fiele deiner Augen Fransenvorhang vor dem Lotterabgrund des erstrebten Wohlergehens.

Sicher warst du einmal in den Bergen? Stiegst ein schmales Felsband aufwärts? Wandtest dich zurück? Der Möglichkeiten zweie sprangen dich da an: Mutlos, Schritt für Schritt zurück in Niederungen oder steil hinab in den Abgrund?

Mensch, reiße dich zusammen! Gibt es da nicht ein Drittes. Hundertachtzig Grad den Kopf herum und unverzagten Aufstieg!

Freilich steht das Rennen eins zu zwei. Aber ist die Aussicht schlecht? Hattest du nicht Tage, wo du's eins zu zehn geschafft hast?

Sieh schärfer zu – am Rand des Abgrundes wird das Auge ein Adler! –, dein Schicksal ist das schlechteste nicht. Erkenne endlich in den Abgrundsunken lächelnd eine Kinderknarre.

Nein, nicht lächelnd, sondern zähneaufeinanderbeißend, denn ums Ganze geht es immerhin. Um das Ganze der Erkenntnis, daß »am Rand des Abgrunds« weiter nichts ist als »am Rand des Aufstiegs«.

Und mit der Erkenntnis heb' die Arbeitshacke. Halt! Zuvor erschlage mit ihr – den Mann aus Posemuckel!


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