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Unter Glas

Eine Erinnerung im Jahre 2000.

Das wird gegen das Jahr 2000 sein, an die achtzig Jahre hinterm Weltkrieg.

Man wird dann ein gutes Fernrohr haben müssen, um durch achtzig Jahre durchzusehen. Es gibt Sterne, deren Licht nicht weniger lange braucht, um zu uns zu kommen. Der Stern mag längst erloschen sein, uns strahlt er noch, da sein Licht noch unterwegs zu uns ist.

Der Krieg mag längst erloschen sein, nachzittern wird er doch. Noch ums Jahr 2000 wird ein seines Zittern unterwegs zu uns sein. Aber wie Millionen unter Sternen wandeln, die das Auge nicht ein einzigmal im Jahre zum Himmel heben, so wird es achtzig Jahre hinterm Weltkrieg nur noch einige Menschenherzen geben, deren Erdbebennadeln noch des Weltkrieges Zittern registrieren.

Kein Wunder. Die Söhne derer, die im Weltkrieg siegten oder fielen, ja ihre Enkel werden nicht mehr sein. Nur da und dort wird noch eines auch schon alt gewordenen Urenkels Auge blinzelnd durch das Fernrohr der Geschichte schauen: »Ja, ja, das war der Krieg …« »Das war« wird klingen wie das Singen alter Münzen, womit man in unterirdischen Gewölben gezahlt hat, während das laute »Das ist« der dafür eingehandelten Güter über den Gewölben geschäftig hin- und herrollt. Man wird gute Ohren haben müssen, um die dünngewordenen Silberschreie achtzigjähriger Vorausbezahlung unter unseren Füßen nicht zu überhören.

Wenn das schon mit des Weltkrieges harten Münzen so sein wird, wie erst mit seinem Papier! Blätter, die unsere Herzen heute mächtig schütteln, werden dann verraschelt sein, zu Staub zerfallen.

Oder …?

Ich höre ums Jahr 2000 eine Kirchenglocke läuten, so nah, als wär' es heute. Ich sehe einen Konfirmanden aus der Kirche treten, so ernst, als wär' es jetzt. Ich sehe seine Eltern ihn umringen, so strahlend, als wäre ebenda der Frieden hinterm Weltkrieg eingezogen. Ich höre seine Mutter sagen: »Nun, komm nach Hause, Sohn, zum Feste hab' ich alles bereitet.«

»Gedulde dich ein kleines Weilchen,« höre ich den Vater sagen, »wir müssen einen kleinen Umweg durch, jenes Museum drüben machen.«

»Dann also auf zu Hause –«

»Nein, Mutter, du mußt mit, gerade du.«

Verwundert werden Sohn und Mutter durchs Museum schreiten. Nirgends heißt sie der Vater stehen bleiben. Eilig geht er durch die Säle. Jetzt sind sie im letzten Saal. Er führt sie in eine Ecke. Es ist dort ein wenig dunkel. Was Besonderes wird doch da nicht stehen. Kostbarkeiten rückt man in das Licht.

Dies Licht schimmert nur leis und schüchtern aus einem kleinen gläsernen Behältnis. Darunter ist ein Stück Papier, altes, fast zerbröseltes Papier. Vater zeigt darauf. Gehorsam schaut's der Sohn an. »Ist das alles?« denkt er.

»Lies!« Der Sohn muß sich tief bücken. Es ist nur schwer zu lesen.

»Ein halb Pfund. Gültig für den soundsovielten,« liest er verständnislos. Doch in Mutters Auge beginnt es aufzuleuchten.

»Vor achtzig Jahren,« sagt sie langsam und besinnlich. Jetzt erst sieht sie unterm gleichen Glase etwas Rissiges, Uraltes, Eingeschrumpftes. »Das ist es,« sagt sie fast erschauernd.

Der Vater hat dem Sohn beide Hände auf die Schultern gelegt: »Du kommst aus der Kirche. Du bist konfirmiert. Heute trittst du in das ernste Leben. Mutter hat ein prächtig Mahl davorgesetzt. Zu Hause schmort und duftet es aus allen Pfannen. Du hast ein Recht darauf. Auf dich selber aber hat ein Größeres heut' ein Recht: deines Vaterlandes Geschichte. Hier liegt ein Stück davon aus seiner größten Zeit. Niemals gab es eine größere. Du sahst heute in der Kirche Heiliges. Aber auch dies Stück Papier, das sich vor achtzig Jahren zwischen deine Väter und den Hunger schob, ist heilig. Dies Stückchen Graupapier, das Anrecht gab auf das zerschrumpfte halbe Pfund Brot daneben. Dies halbe Pfund, von dem ein Deutscher einen Tag lang lebte, litt und stritt. Mich und Mutter, dich und deinen Kirchentag heute, das Mahl, das deiner wartet, hat er miterstritten. Vergiß es nie. Tu' dein Gelöbnis vor dem Graubrot und dem Graupapier, mein Sohn.«

Leise beugte der Sohn das Knie. Die zweite Andacht dieses Tages ging ihm durch das Herz. »Ich gelobe …«, sprach's in ihm zum andern Male.

Langsam schritten sie über die Museumsstufen. Wie Getauften war es ihnen …


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