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Onkel Unterwegs

Den Namen hat er erst bekommen, als ich ihn zu verstehen anfing. Und das hat lang genug gedauert. So bis ins dreißigste hinein. Denn das Verborgene eines Lebens blättert sich erst nach dem dritten Zehner auf.

Wenn ich einen Jugendkummer hatte, war er nicht etwa gleich um den Weg, der Onkel Philipp. Furunkel müssen reif sein, ehe man sie drücken darf. Der Jugendkummer mußte durchgewütet haben durch das huschelige Herz, ehe Onkel Philipp dastand:

»Komm Bub, jetzt gehn wir mal ein Stück zusammen, unterwegs bekommt das huscheligste einen steten Takt.«

Dann ging er mit mir über drei Hügel und zwei Flüsse, und auf einmal, whsch, war die Brust frei, und das Wort Kummer bestand nur mehr aus sechs braven Buchstaben, aus weiter nichts.

Ich wunderte mich baß mit meinen dreizehn Jahren. »Onkel Philipp, woher kommt das, daß –« – »Die Füße, Bub, die Füße, sie radieren unterwegs den Unmut fort und allen Kummer.« – »Allen, Onkel? auch den der großen Leute?« – »Den schwerer, weil die Füße später fauler werden.«

Richtig, vor der Reifeprüfung etwa, wurden meine Füße schwer. »Kein Wunder,« sagte Onkel Philipp, »wenn du Tag und Nacht durchbüffelst, Bücherstaub verstopft die Poren, schlenkere dir die Schlacken deiner Weisheit durch dein Gangwerk raus, mein Junge!« – »Uebermorgen ist Examen, Onkel!« – »Eben drum, jetzt komm, wir sollten lange schon unterwegs sein.«

Dann gingen wir zwei Tage lang über sieben Hügel und fünf Flüsse, und am dritten Tage federte ich mit freiem Kopfe leichtbeschwingt durch alle Brillenfragen der sechs versessenen Professoren.

Jahre kamen, Jahre gingen. Wie tapfer ich auch ausschritt, einmal holte mich was ein. Das war die Schwüle. Die dampfte mir durchs Blut. Die flegelte mich des Abends auf eine Bank hinterm Stadtwall, wo Gelichter schwirrte und willige Federn von geschweiften Frauenhüten patschuliausströmend nickten. Die siedete in meinem Blut und richtete mich zu, daß jeder jedes aus mir hätte machen können, sei's daß jetzt eine rote Feder ungereifte Jugendträume durch die Gosse ziehen würde, sei's daß –

»Fritz, ich muß dir etwas beichten,« sagte eine ruhige Stimme neben mir. Ich fuhr zusammen.

»Onkel Philipp, du?«

»Ja, ich hab' dich angelogen.«

»Aber Onkel –«

»Ja, mit dem Unterwegssein, weißt du – es ist gar nicht wahr, daß unsere Füße alles schlechte wegradieren, wenn sie unterwegs sind.«

»Doch, Onkel, doch, ich weiß noch, wie ich damals –«

»Das sah nur so aus – und ich hab es dir so sagen müssen, weil du's damals anders nicht verstanden hättest – aber heute –«

Es raschelte und nickte fedrig überm Weg her und in Onkels Sätze.

»– aber heute kannst du schon das richtige verstehen: es kommt nicht nur darauf an, daß wir unterwegs sind. Junge.«

»Sondern, Onkel?«

»Sondern der andere

»Welcher andere, Onkel?«

»Der dir von Anfang an bestimmt ist – dem du entgegengehst – für den du dich aufsparen mußt – dein Freund zum Beispiel, Freund im schärfsten Sinn genommen, weißt du –«

»Noch hab' ich keinen solchen, glaub' ich –«

»Eben drum – er ist unterwegs – unterwegs zu dir – er macht sich auf zu dir, wenn du dich aufmachst zu ihm – er hebt seine Füße, wenn du deine Füße hebst – und einmal werdet ihr zusammenkommen müssen, du und dein guter Kamerad fürs Leben – es kann natürlich auch eine Frau sein, Fritz –«

Es raschelte und nickte übern Weg her und in Onkels Sätze, aber widerwärtig kam mir plötzlich der Patschuliduft vor.

»Eine Frau, die unterwegs ist, Onkel?«

»Ja, zu dir, mein Sohn. Möglich, daß sie weit noch weg ist. Möglich, daß sie übermorgen schon in deinen Kreis tritt, stillsteht, tiefer Atem holt und hoch den Kopf hebt: So da bin ich. Was tätest du da, Fritz?«

»Auch stillstehen, Onkel, und auch tiefer atmen.«

»Sonst nichts?«

Es raschelte und nickte übern Weg her – »Ich weiß nicht, Onkel,« sagte ich mit einem letzten Rest der Schwüle, »was ich dann – dann –«

»Den Kopf höbest du, mein Junge, hoch wie Sie – denke mal, du könntest's nicht, nicht mehr, mein Sohn! »Grüßgott,« sagtest du, »Grüßgott, mein lieber Kamerad, ich hab' auf dich gewartet« – denke mal, du hättest nicht gewartet, hättest dich vorher verplempert …«

Es raschelte nicht mehr, es nickte nicht mehr übern Weg her, keine Schwüle mehr in meinem Blut, nur Heiterkeit und Wanderfreude: »Komm, Onkel, gehn wir noch ein bißchen.«

Dann gingen wir zusammen vor der Stadt draußen, über die reinen nächtlichen Felder – ihr entgegen. Und dann beim Abschied unter der Haustüre lag mir seine schwere Hand aus leicht gewordener Schulter: »Siehst du, da schreiben sie dicke Bücher über Moral und stochern mit ihren spitzen lehrhaften Fingern in den jungen Seelen, bis die ganz durchlöchert sind wie ein Sieb, wo alles durchrutscht, alles, das Gute und das Schlimme – und wäre doch so einfach, ihnen schlicht zu sagen: »Vergeßt nicht, Kinder, in der Ferne ist es unterwegs zu euch – ihr braucht ihm nur entgegenzugehen, das ist alles – das Schlimme ist dahinten, unterwegs ist immer nur das Gute – das gilt von allem, lieber Junge, nicht nur von der Liebe …«

*

Lieber Onkel Unterwegs, fast ein Menschenalter ist seitdem vergangen, und ein halbes, seit du tot bist. Ich war immer unterwegs und bin es noch. Viel ist unterwegs zu mir gewesen, vieles, hoff' ich, ist es noch, vieles aber ist auch angekommen, ist mit tiefem Atem stillgestanden, hoch den Kopf gehoben: »So, da bin ich.«

Nur eines, wenn ich's heute überblicke, hat den Kopf gesenkt, sitzt vor den Wällen draußen in der Schwüle, wirr den Kopf, die Seel' zerklüftet und mit einem siedend' Blut, daß jeder jedes aus ihm machen kann: mein Vaterland.

Ach, daß ein Onkel Unterwegs zu dir jetzt auf die Trauerbank sich fetzte, liebes Vaterland, den Kopf dir höbe und dir sagte: »Getrost, getrost – aus der Ferne ist es unterwegs zu dir – das Schlimme ist dahinten, unterwegs zu dir, mein armes Land, ist jetzt das Gute – du brauchst ihm nur entgegenzugehen, das ist alles …«


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