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Die Kur

Als Helene krank wurde, traf es alle wie ein Schlag. Wenn sonst jemand krank wird, trifft es die Krankenkasse. Aber Helene war nicht sonst jemand, Helene war ein Sonnenschein. Wenn aber der Sonnenschein bis zum Kinn hinauf in Decken eingewickelt wird, und der Kopf vor Kompressen kaum mehr sichtbar ist, ist es da ein Wunder, daß es alle fröstelt? Da war keiner, der sich nicht besonnen hätte, wie helf' ich ihr, wie helf' ich ihr …

Der Doktor war der erste, der nach einer Weile mit den Achseln zuckte. Zucken mußte. Denn laut Seite 93 war der Fall verloren.

Und wieder nach einer Weile war Helene gesund. Gesund wie ein Fisch. Und strahlte doppelt, weil sie eine Menge Sonnenschein nachzuholen hatte.

Auch der Doktor strahlte: »Es haben also meine Medizinen doch geholfen …«

Der Vater hörte und lächelte. Denn er hatte insgeheim die Doktormedizinen fortgegossen. Und dann, noch insgeheimer, die Fläschchen mit homöopathischen Rezepten wieder aufgefüllt.

»Die haben es vollbracht,« sagte er zur Mutter.

Die Mutter hörte es und lächelte. Denn sie hatte insgeheim die Vatermedizinen fortgegossen. Und dann, noch insgeheimer, der Kranken in der Krisis einen Teller Kirschen zugeschoben. Kirschen, die, verboten oder nicht, geheime Heilkraft haben. »Ja, meine Kirschen haben es geschafft.«

Die Tante hörte es und lächelte. Denn sie hatte insgeheim die Kirschen fortgenommen – »Kirschen, so was Ungeschicktes!« – und noch insgeheimer im Gebet gekniet. »Mein Beten hat's gemacht.«

Der Onkel hörte es und lächelte. Denn er war Philosoph und glaubte an die dunkelsten Zusammenhänge. »Wenn ein Vulkan aus Java tausend Menschen hinrafft, dürfen tausend Menschen in Europa, die schon auf der Totenliste standen, wieder leben. Helene, du warft eine von den Tausend …«

Helene hörte es und lächelte. Denn als sie lag in Schmerzen, hatten ihre Hände sich geballt: »Leben will ich, leben …«

Der liebe Gott aber hörte sie alle, den Doktor und den Vater, die Mutter und die Tante, den Onkel und Helene. Und sagte nichts. Nicht Ich sagte er und nicht Wir. Sondern ließ einem jeden seinen Glauben. Denn in den großen Kuren, die er in der Welt macht, kann er auch den Irrtum brauchen.


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