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Das Kind

Den Bankdirektor im Gebirgsnest hatte eine Börsendepesche aus dem Urlaubsschlaf geschreckt: »Phönix streiften den Kurs tausend. Sollen wir abstoßen?«

Er hieb auf den Bauerntisch: »Dieses Schaf von einem Prokuristen – fragt der noch – bei einem Kurs von tausend!«

»Ha?« streckte der Michelbauer den Kopf durch's niedre Fenster, »sind S' 'leicht net g'sund, weil S' gar so schrei'n, Herr D'rekter?«

»Phönix tausend, Michelbauer, denken Sie!«

»Woll, woll.«

»Und gekauft hab' ich sie zu zweihundertsiebenundvierzig! – na, was sagen Sie jetzt!«

»Woll, woll – also Kolik hab'n S' keine?«

»Kolik? Was reden Sie für einen Stuß – Norbert Auto vorfahren – Bahnstation – telegraphieren – bißchen fix, bitte –«

»Woll woll.« Gemächlich trottete der Michelbauer übern Hof.

Der Bankdirektor hieb zum zweiten Male auf den Tisch: »Ob er abssstoßen soll! – zu tausend! – natürlich soll er abssstoßen – hätte sofort abssstoßen sollen – bei tausend nicht abzussstoßen verrückt – Norbert! – Norbert!« zwängte er mühsam den roten Kopf durch's Fenster, »hab' ich 'n Auto oder eine Ochsenkarre! – Phönix, tausend! – doll, einfach doll! – gekauft zu zweihundertsiebenundvierzig – macht siebenhundertdreiundfünfzig Prozent Gewinn! – hm, nicht übel – das heißt, ich hätte sie 'ne Woche früher zu hundertneunzig haben können, wenn dieser Döskopp von einem Kompagnon – verflucht, tausend minus hundertneunzig gibt – gäbe – hätte gegeben … ob ich doch noch warte? – wenn 'n Papier auf tausend ist, kann's auch über tausend …«

Der Michelbauer war inzwischen in den Schuppen gestapft: »Nuhrbart, enker Herr spinnt wieder amal – Fänix! schreit er in einer Duhr, Fänix! tausend! abgessstoßen! –«

Robert horchte auf: » Was soll abgestoßen werden?«

Der Michlbauer deutete auf das Auto: »Enkerer Stinkkasten, glaub' i – zum Bahnhof, glaub' i – diligrafiern mecht er, glaub' i – weg'n die Fänix, glaub' i – bressier'n tut's eahm, glaub' i – hör'n S' 'n, wie er Nuhrbart schreit – ganz bibbern tut er, glaub' i – weg'n die Fänix, glaub' i – Sie, was is denn dös, die Fänix, daß er gar so naarisch tut weg'n die Fänix –«

Pff, surrte Norbert vor dem Bauernhäuschen vor.

Sein Herr war noch am Ueberlegen: »Gesetzt den Fall, ich hätte sie zu tausend abgessstoßen und sie kletterten auf dreizehnhundert oder gar auf fünfzehnhundert … was? Auto? na gar so hätt' es nicht geeilt – Sie sehen doch, daß ich rechne, Norbert.«

Bleistiftziffern hagelten auf den eichenen Bauerntisch. Der Wagen wartete. Der Motor schnurrte.

»Ssstellen Sie ihn ab, Norbert – Sie meinen wohl, ich habe keine Nerven … hm, wenn sie aber nicht mehr ssfteigen? – wenn sie fallen? – sagen wir auf siebenhundert fallen, während ich sie zu tausend abssstoßen hätte können – – he, Norbert, warum haben Sie den Motor nicht angessstellt! – zum Teufel auch. Sie meinen wohl, Depeschen hätten soviel Zeit wie – wie der Michlbauer, he! – Decken? – Unsinn! – Autobrille! – halten Sie mich nicht auf! Sie glauben wohl, die Phönix warten, bis ich meine Autobrille finde – los, sage ich, los!«

Das Auto tutete durchs Dorf. Es tutete den Redakteur Heilemann aus seinem Sommerhäuschen, der sofort die Straße lebhaft winkend sperrte: »Ah, Herr Direktor? – Bahnhof, was? – ausgezeichnet! – ich muß depeschieren – an mein Blatt natürlich – Sie nehmen mich doch mit – danke, danke – wissen Sie, es handelt sich um unsere Stellungnahme zur Pariser Konferenz …«

Das Auto raste weiter durch die Dorfstraße. Der Bankdirektor beugte sich flüsternd zum Führer vor: »Tuten Sie nicht mehr –«

Aber da stand schon die Sarotti, die berühmte Sängerin an der Straßenbiegung, gleichfalls winkend. Der Direktor versuchte vorbeizusehen. Aber der Redakteur tippte ihm auf die Schulter: »Die Sarotti, Herr Direktor, die Sarotti!«

»Meinetwegen«, brummte der Bankmann.

»Sie hat 'nen Freund im Handelsministerium, lieber Direktor, ich an Ihrer Stelle –«

Brr, abermals hielt der Wagen. Leichtfüßig schlüpfte es herein, holdselig lächelte es: »Wußte es ja – bei Ihrer Ritterlichkeit – doch zum Bahnhof, nicht wahr? – ich muß nämlich depeschieren – dieser Esel von Impresario will mit fünfzig Prozent abschließen, als ob ich jemals unter fünfundsiebzig …!«

Das Auto hatte die offene Landstraße gewonnen. Blütenschwere Bäume neigten sich von links und rechts zu ihm: Warum so eilig, verweilet doch –

Auch der Bankdirektor neigte sich. Nach vorne zum Führer: »Norbert, 'n bißchen schneller, bitte.«

Die Gräser nickten und die Grillen zirpten: Verweilet doch, verweilet –

»Verflucht«, dachte der Redakteur, »wenn nur nicht inzwischen mein Vertreter die Pariser Konferenz vermurkst hat – Herr Direktor, könnten wir nicht 'n wenig schneller …?«

Die Sonne liebkoste flimmernd die blanken Autoteile, düfteschwere Winde streichelten die Schläfen der Insassen, der ganze Sommer schlug wonnedröhnend über ihnen zusammen: Kinder, freut euch …

»Wie sagen Sie, Herr Redakteur,« überschrie die Sängerin nervös den Autolärm, »ein Antrag gilt juristisch angenommen, wenn nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgesagt wird? – dann hätte ich ja allerhöchste Zeit – Herr Direktor, würden Sie die Schnelligkeit verdoppeln …«

Das Auto raste. Unersättlich schlang es die Landstraße in sich hinein, wie ein Feuerfresser seine Bänder. Der Wagenführer drehte sich ein Viertel rückwärts: »Soviel ich weiß, werden Telegramme nur bis zwölf Uhr angenommen –«

Zwei Uhren fuhren aus der Tasche, ein Handgelenk ward augenhoch geschleudert, drei Stimmen knäuelten sich, verängstigt in die gleichen Worte: »Zwölf? und jetzt ist's fünf Minuten vor –!«

Tu-tu-tuu! machte das Auto, obgleich auf der schnurgeraden Straße nicht das kleinste Hindernis zu sehen war.

»Norbert, warum tuten Sie?«

»Ich? Ich habe nicht getutet.«

»Unsinn, wer denn sonst als –!«

Tu–tu–tuu!

»Norbert, lassen Sie den Blödsinn!«

»Sie tun ihm unrecht, Herr Direktor, er hat den Hupenhebel nicht berührt.«

»Aber wer, zum Donnerwetter –!«

Tu–tu–tuu!

Sie sahen sich an, spöttisch-unbehaglich. »Das Auto kann doch nicht von selber –? Mensch, warum auf einmal langsam?«

Der Führer wies mit dem Kopf nach vorne. An die zweihundert Meter weit vor erschien ein dicker Punkt in der Straßenmitte.

»Was ist's, he?«

»Weiß nicht – vielleicht ein – ein Kind.«

»Ein Kind? Mitten auf der Straße? Das ist denn doch –«

»Und die Mutter? Da hört sich doch verschiedenes –«

»Es scheint, es spielt –«

»Es spielt – das Kind spielt – unerhört! Norbert tuten Sie!«

Der Führer drückte verzweifelt auf den Hebel. Kein Laut erklang.

»He, weichen Sie nach links aus, Norbert – oder rechts – geht nicht? Warum denn? – Jaso, die Gräben – welch ein Unfug!«

»Und drei Minuten auf zwölf –«

R–r–ratsch, verringerte das Auto seine Geschwindigkeit. Das spielende Kind kam nah und näher. Vier Menschen im Auto standen aufrecht, fochten mit den Armen schrien aus der Ferne auf das Kind ein …

Das Kind schaute auf. Ruhig sah es auf die dunkle Masse, die da heranfauchte. Unbekümmert lächelte es. Jetzt spielte es wieder mit den Blumen. Es waren Narzissen. Die weißen Sterne leuchteten seltsam.

»Unerhört! Wir werden halten müssen!«

»Unglaublich! Eines Kindes wegen!«

»Man sollte seine Mutter –«

»Was Mutter! – Meine Depesche! – Meine Phönix!«

»Und die Pariser Konferenz –!«

»Und mein Impresario –!«

»Es ist eine Affenschande! Herr Direktor, wir sollten einfach –«

»Bedenken Sie, das Kind –«

Der Primadonna verzog's den herrischen Mund spöttisch: »Sagt' ich's ihnen nicht, Herr Redakteur, ein Kind kann ihn lenken, ein Kind –«

Der Bankdirektor straffte sich. Der Wahnsinn der Schnelligkeit hatte ihn erfaßt: »Schofför, Sie fahren – fahren zu!«

»Geht nicht – der Straßengraben links – aus Handbreit –«

»Dann eben Handbreit rechts, zum Donnerwetter!«

»Aber das Kind –«

»Handbreit rechts, sage ich! – Sind Sie der Herr, oder bin ich's?«

Zögernd, ein Ungeheuer mit schlechtem Gewissen, schlingerte das Auto gegen das Kind. Im nächsten Augenblick würde es überfahren sein. Dem Chauffeur riß es die Hand an die Blitzbremse. Noch bevor er sie berührte, schlug's ihm von hinten auf den Arm. Der traf den Schnelligkeitshebel. Wie ein wildes Tier machte das Auto einen Sprung nach vorne – vorbei.

Sie wollten krampfhaft gradaus blicken. Sie konnten's nicht. Es drehte ihnen das Genick nach hinten. Das Kind, wo war das Kind?

»Auf der Straße ist es nicht!« schrie der Redakteur in das Motorgeknatter. Seine Augen waren aufgerissen.

»Und im Graben?« schrie der Bankdirektor heiser.

»Auch nicht,« bewegten sich die Lippen der Sängerin tonlos.

»Dann – dann –«

Das Dann hing in der Luft. Das Dann sprang aus den Himmeln in das Auto. Das Dann packte sie hinten an den Wirbelsäulen, daß es sie schüttelte. Das Dann trieb ihnen den Schweiß auf die Stirnen. Wenn sie's nur erwürgen hätten können, dieses Dann. Aber da saß es vorne beim Chauffeur. Da drehte es sich herum, das Gesicht im Genick, da blähte es sich auf zu einem ganzen Satz und nickte ihnen kalt und sachlich zu: »Dann ist es unter euren Füßen im Getrieb.«

Schaudernd lehnten sie sich in den Polstern rückwärts, hoben ihre Füße ab vom Boden –

»Schofför, halten!«

»Nein, schneller, schneller!«

»Es nützt nichts, es fährt mit!«

»Wer fährt mit, wer!«

»Es – es!«

»Wer es?!«

»Verstell dich nicht, du weißt es längst, du – du Hund!«

»Hund? Ich ein Hund!«

»Sie – Sie haben es g-gewollt!«

»Nein, Sie!«

»Nein, nein, wir alle!« schrie es aus der Sängerin.

Weiter raste das Auto und fraß die Straße gierig in sich hinein. Nur die Straße?

Keuchend lagen die drei Leiber mit der Brust auf der Rücklehne. Die Augen brannten sich in die Straße hinterm Auto hinein. Wird es die Maschine herausschleudern? – in Fetzen – jetzt – nein, jetzt –

»Was – was sucht Ihr!« fuhren sie wild einander an.

»Es – es – es!« lag es gellend in den Lüften.

Es hatte das Dann neben dem Chauffeur verdrängt. Es saß auf dem Bock. Es hielt die Narzissensterne seltsam leuchtend in den Händchen. Blut floß daran herab in hundert dünnen Strähnen.

Schreckhaft reckten sich Arme gegen es: »Da – da!«

»Ich – ich halte es nicht mehr aus«, schrillte die Sängerin, »halten – halt – haaalt!«

Der Chauffeur hielt nicht. Rasend fuhr er vor der kleinen Bahnstation vor und hielt mit einem Ruck. An eine rote Mütze legten sich dienstbeflissene zwei Finger: »Die Herrschaften wünschen?«

»Ich?« sagte der Bankdirektor entgeistert und stieg aus, »ich weiß – weiß nicht.«

Der Vorstand lächelte: »Und Sie?«

»Ich,« sagte der Redakteur mit wirren Blicken, »ich – ich muß mal sehen.« Er heulte sich unter den Wagen. Er atmete auf: »Blanke Teile, von Staub bedeckt, nichts weiter –«

»Ha, was ist das!« schrie die Sängerin.

Eine Katze fuhr unter dem Getriebe hervor. Ein Hund kläffte.

»Es ist nichts«, sagte der Vorstand.

»Es? – was es!« schrie der Bankdirektor.

»Sie haben sich wieder mal gerauft – ah, gnädiges Fräulein wollen telegraphieren?«

»Ich auch,« stotterte der Redakteur und kramte nervös nach Formularen in der kleinen Amtsstube.

Der Vorstand zog die Uhr: »Es ist allerdings gleich zwölf Uhr, aber da Sie extra mit dem Auto – was gibt's – um Gotteswillen –!«

Ein durchdringender Schrei trieb sie hinaus. Auf der anderen Seite des Autos stand der Bankdirektor. Die Zähne in dem kalkweißen Gesicht schlugen aufeinander. In der Hand hielt er etwas Rotes, einen Streifen, den er unter dem Getriebe vorgezogen hatte.

»Verdammt!« sagte der Vorstand, »hat die Katze doch das Kotelett erwischt – Tyras, Hundsvieh!«

Der Hund hatte es geschnappt und rannte davon.

»Es!« schrie der Bankdirektor, »es – ich – es – es!«

Seine Fahrtgenossen packten ihn an den Schultern: »Aber so hören Sie doch – es ist weiter nichts als …«

Er verstand sie nicht. Er fuhr fort, ins Leere zu starren. Vom nächsten Dorfe her begann die Uhr zwölf zu schlagen. Er nickte langsam bei jedem Schlag: »Es – es – es – es …«

*

Bei seiner Einlieferung in die Irrenanstalt versuchte es der junge Arzt mit lächelnder Ruhe: »Sehen Sie, Herr Direktor, die Sache ist ganz einfach. Die Erscheinung des Kindes auf der Landstraße war weiter nichts als –«

»– es, ich weiß.«

»Als eine Vision, meine ich, hervorgerufen durch eine Nervenüberreizung, etwa der modernen Erwerbssucht –«

»Ich weiß es – wann ist die Verhandlung?«

»Sie werden nicht verhandelt. Sie sind kein Verbrecher. Sie werden bald geheilt sein und aus der geistigen Verwirrung wieder wie ein Phönix –«

»Phönix!« schrie er auf und sprang dem Doktor an die Kehle, »warum hast du sie nicht abgestoßen, du Schuft! – zu tausend! – hätte ich's nicht zerfetzt in der Maschine – es – oh es!«

Die Wärter sprangen erschrocken zu. Vorher noch fiel er von dem Doktor ab, gebrochen, wimmernd: »Ich – du – sie – es – es spielt mit Blumen … komm, ich spiele mit … ich pfeife auf die Phönix … lass' mich mit dir spielen … du willst nicht? … warum willst du nicht! … oh es will nicht … will – nicht, oh …!«


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