Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Schlußwort an die Erwachsenen

Eine Neubearbeitung des Robinson – die wievielte wohl? Diese Frage, die einen Archivar beschäftigen mag, hat die Herausgeber oder Verfasser des vorliegenden Buchs nicht sonderlich interessiert. Sie sind der Meinung, daß diese neue sehr wohl neben den alten bestehen mag, ja sogar neben den Vorbildern von Defoe, Gisander und Campe, die eine so zahlreiche Nachkommenschaft hervorgebracht haben. Ja noch mehr als das: sie glauben, daß von jenen Vorbildern eine gerade Linie zu dieser neuen Robinsonade führt, die vorherbestimmt war und reif gewesen wäre, auch wenn niemand sie aufgeschrieben hätte.

Reif wurde sie deshalb, weil das alte Schiff Robinsons nicht mehr imstande war, seine literarische Fahrt fortzusetzen. Die Wellen der Zeit hatten die papiernen Planken längst aufgerissen, die Fluten waren hineingedrungen, und es bestand Gefahr, daß der kostbare Inhalt verloren ging. Unbildlich gesprochen: in den überlieferten schriftstellerischen Gestaltungen ist die alte Robinson-Geschichte nicht mehr zu halten, droht dem Robinson das Schicksal, auf die Insel der Vergessenheit verschlagen zu werden.

Denn Robinson ist kein Odysseus und kein Äneas, deren Geschicke, von der Zeit abgetrennt, eine mythologische Ewigkeit verdienen. Er hat keinen Homer und keinen Virgil zum Mittler gefunden, sondern Erzähler, die ihn aus ihrer engen Gegenwart heraus gesehen und geschildert haben. Daran konnte durch die Bearbeitungen der Folgezeit nichts geändert werden. 344 Der Schauplatz wurde verlegt, die Abenteuer verändert, die Wesenheit des Helden anders beleuchtet – immer blieben es Bearbeitungen, in dem Sinn wie man von Ausbesserungen, Neuauflackierungen, Neuübertünchungen alter Gemälde spricht. Es handelt sich aber nicht darum, eine alte, schadhaft gewordene Köstlichkeit neu zu überpinseln, sondern den Grundgedanken des großen Bildes aufzunehmen und in einer selbständigen Arbeit auf frischgespanntem Untergrund aus dem Geist der Neuzeit und mit den Mitteln der Neuzeit zu gestalten.

Dieser aus einem historischen, heute fast nur noch anekdotisch erscheinenden Kern herausgewachsene Grundgedanke ist zweifellos einer der bedeutendsten der Weltliteratur. In ihm gewahren wir Robinson als ein Abbild der gesamten Menschheit in einer räumlich winzigen, mit einem einzigen Blick umspannbaren, aber unendlich beziehungsreichen Projektion. Die Not als Bezwingerin, aber auch als Helferin und Lebensgestalterin wird in ihrer Gewalt an einem einzigen Menschen aufgezeigt, der alle Stadien vom Nullpunkt des Daseins bis zur Kulturhöhe durchläuft. Notwendiges Erfordernis für den Leser bleibt, daß er das glauben kann, was ihm erzählt wird, und daß er sich durchweg in die Lage des vereinsamten Helden versetzt fühlt.

Ein vollkommen verstandesgeschulter, der geschichtlichen Einfühlung fähiger Leser wäre vielleicht noch heute dazu imstande, wenn er das Campesche Buch vornimmt. Ein Jugendlicher, ein Kind vollends muß versagen. Das Kind abstrahiert nicht, versetzt sich nicht in Zeiten und gerät mit seinem Warum und Weil an hundert Punkte, über die es nicht hinwegkann. Es begreift den Herkules mit seiner Keule, aber es begreift nicht einen Robinson, der die Feuerwaffen kennt und nichts von der Möglichkeit einer Schiene, einer Lokomotive, eines Luftschiffs, einer elektrischen Maschine ahnt. Wenn er aus Hamburg stammt, einen Rock ursprünglich anhatte wie wir und mit Pulver und Rohr Bescheid weiß, so gehört er zu uns und darf uns dann nicht in Geisteslagen vorgeführt werden, 345 als gehöre er zur Steinzeit. Und wenn er zu uns gehört, so darf er auch nicht in den Antillen auf Menschenfresser stoßen, die dort seit langer Zeit nichts mehr zu suchen haben. Dagegen darf er Spannungen durchmachen, Abenteuer erleben, deren Grundbedingungen nicht bloß in den rohen Notwendigkeiten der Selbsterhaltung ruhen. Diese Spannungen zu erfinden und sie vorwiegend auf das Geistige zu richten, war eine unserer Hauptaufgaben. Und wir glauben sie so gelöst zu haben, daß gleicherweise dem Unterhaltungsbedürfnis wie dem Belehrungszweck der ganzen Anlage gedient wurde.

Die seltsamen Erziehungskünste, denen bei Campe eine so ausgedehnte Rolle zugewiesen wird, spielen in unser Buch nicht hinüber. Sie waren es zu allermeist, die sein Werk schon seit vielen Jahrzehnten bei den Gebildeten, gelind ausgedrückt, in Verdacht gebracht haben. Ganz abgesehen von ihrer steifleinenen Pedanterie enthalten sie in Beurteilung des Schöpferwillens einen Bestandteil, der heute nicht mehr als sittlich berechtigt anerkannt werden darf. Nach den Anweisungen mittelalterlicher Theodizeen wird das Walten Gottes einer Zensur unterzogen mit dem Erfolg, daß der Schöpfer nicht sowohl gelobt als vielmehr »belobigt« wird, nach dem unmittelbaren oder verzögerten Nutzen seiner Handlungen für den Menschen, im vorliegenden Fall für Robinson. Fast durchweg legt jener Erzieher an die Absichten Gottes den engen und kurzfristigen Maßstab seiner eigenen Meinung über das, was im Augenblick oder etwas später als vorteilhaft und nutzbringend erscheint. Daß es der Erzähler gut und brav meint, das darf nicht bezweifelt werden; allein ebenso wenig, daß die hierdurch anerzogene Religiosität auf ein Motiv der Selbstsucht gestimmt wird, das von Kindergemütern ferngehalten werden sollte. Wir haben uns daher bemüht, in allen Betrachtungen einen anderen Grundton hindurchklingen zu lassen, den großen, weihevollen Orgelpunkt der Natur, der unendlichen Schöpfung, deren Majestät den Kindern am deutlichsten aufgeht, wenn ihnen die Erscheinungen der Welt recht anschaulich geschildert werden.

346 Die Kinder, die in unserem Buch zu Wort kommen, werden als einfach und wohlbegabt vorgestellt, als Wesen, die sich am Leitfaden der Erzählung rasch vorwärtsfinden, ohne daß sie angehalten werden, sich selbst dauernd zu beobachten und sich in ihrer eigenen Entwicklung selbstgefällig zu bespiegeln. Ihre zahlreichen Fragen entstehen als Eingebungen der Erwartung und Wißbegier, nicht hervorgelockt durch die Künste eines Magisters, der erzieherisch an ihnen experimentiert. Und was sie dabei erfahren, erstreckt sich weit in das Reich der Naturkunde und der modernen Technik; immer im Hinblick auf die außerordentlichen Schicksale des Einzelmenschen, dessen Nöte, Versuche und Kämpfe ihnen als abgekürzte Beispiele allgemeinen Aufstiegs geboten werden. Über den Grad der Genauigkeit, der bei solchem Verfahren erreichbar und zweckdienlich sein könnte, wird sich streiten lassen. Selbstverständlich kann es sich im Grad der Exaktheit immer nur um eine Annäherung handeln, denn das Buch sollte und mußte unter allen Umständen ein Robinson bleiben, ohne irgendwo in ein Lehrbuch der Physik oder der Technik umzuschlagen. Inwieweit es den Verfassern gelungen ist, hier die Ansprüche der Tatsachen mit der Leichtverständlichkeit ins Gleichgewicht zu setzen und die Erörterungen im Fluß einer auf die Phantasie wirkenden Begebenheit zu erhalten, das zu beurteilen muß dem Leserkreis überlassen bleiben.

Zu diesem Leserkreis rechnen wir auch die Erwachsenen, wie ja auch seinerzeit der alte Robinson, obschon als Lesebuch für Kinder entworfen, den Großen allerlei mitzuteilen hatte. Nicht so zu verstehen, als könne solch eine Schrift dem Erwachsenen einen Roman mit wissenschaftlichem Hintergrund ersetzen. Unsere Hoffnung ist vielmehr darauf gerichtet, daß mancher Gereifte sich willig in die Seele des Kindes versetze, so wie dieses sich gern in die Seele des ihm an Jahren überlegenen Robinson einfühlt. In dieser Hinsicht erwarten wir eine Wechselwirkung derart, daß unser Vortrag auch über den Jugendkreis hinaus mit gewisser Anteilnahme gehört werde. 347 Denn erst dieses Echo aus einer erweiterten Leserschar kann die Probe für die Zweckdienlichkeit dieser Schrift liefern.

Es könnte einer hervortreten und fragen, was gerade uns den besonderen Auftrag gegeben hätte, den neuen Robinson zu schreiben, selbst zugestanden, daß ein solcher im Zeitenlauf fällig gewesen wäre. Darauf möchten wir wörtlich mit Fichte in seiner letzten Rede antworten: »daß allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte wie wir, und daß wir gerade darum es tun, weil keiner unter ihnen es vor uns getan hat«; nämlich so getan, daß der neue Robinson in die neue Zeit paßte. Es fällt uns natürlich nicht im Traum ein, uns in irgendeinem Betracht mit Fichte vergleichen zu wollen. Nur der Wortlaut und der Klang seiner Antwort verlockt uns, sie zu wiederholen zugunsten einer Erzählung, die in der Luft hing, und die wir ergriffen, damit sie nicht entflattere. Und noch auf einen anderen Großen möchten wir Bezug nehmen, wiederum mit respektvoll abgezogenem Hut. Unser Lichtenberg, der Philosoph und Physiker, hat gesagt, daß er zwei ganze Messiaden von Klopstock für ein einziges Kapitel aus dem Robinson hergeben würde. Damals stand Klopstocks Werk im Glanz, heut ist es verblaßt. Sorgen wir dafür, daß die verdämmernde Leuchtkraft Robinsons des Jüngeren sich in einem Robinson dem Jüngsten erneue!

 


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