Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Dreiundzwanzigster Nachmittag

Vater: Heute will ich euch von dem ersten großen Erlebnis erzählen, das Robinson und sein getreuer Freitag zusammen auf der Insel hatten. Wir finden beide eben dabei, einige Fackeln herzustellen.

Ursula: Ach solche, wie die Feuerwehrleute haben, wenn sie nachts ausfahren; hat's denn bei ihnen gebrannt?

Johannes: Aber Schäfchen! Robinson und Feuerwehr. Gewiß wollte er irgendwohin, wo's finster ist, und wo er Beleuchtung brauchte.

Vater: Ganz recht. Die Herstellung der Fackeln ging mit Holz, Pflanzenfasern und Aufstrich von Baumharz leicht vonstatten. Und fürs Anzünden sorgte Robinson durch Mitnehmen eines glimmenden Spans. Mit diesen Vorräten versehen begaben sich die beiden nunmehr auf die Wanderschaft. Die Ausrüstung wurde durch einen Korb voller Nahrungsmittel, durch zwei Spitzhacken und Schaufeln vervollständigt. Robinson wollte nämlich eine Spur verfolgen, die in das Innere des Gebirges zu führen schien, da ihm gewisse Spalten das Vorhandensein einer Höhle verraten hatten. Während aber die zuvor aufgefundene blaue Grotte ihren einzigen Zugang von der Seeseite hatte, blieb es diesmal beim Landweg. Nach einigen Stunden hatten sie die Stelle erreicht. Robinsons Vermutung erwies sich als richtig: eine der Spalten gewährte Durchgang bergeinwärts, und die beiden Wanderer zögerten nicht, die offenstehende natürliche Pforte zu benutzen.

Eines der kleinen Gemsbüffelchen, ein besonders keckes Tierchen, das völlig zahm war und deshalb frei herumlaufen durfte, war von Hause mitgesprungen und lief neugierig voraus, 251 so daß es als erstes in der Höhle ankam. Allein das sollte ihm schlecht bekommen. Denn kaum war es darin, als es von einer unsichtbaren Gewalt ergriffen und betäubt wurde. Es begann krampfhaft zu zittern, fiel um, stieß noch einen kurzen blökenden Schrei aus und schien einem jähen Tod verfallen. Robinson glaubte zuerst, es müsse von einer Giftschlange gebissen sein; allein nichts dergleichen war wahrzunehmen. Kurz entschlossen griffen die beiden Männer zu und zogen das leblose Tier heraus bis ans Tageslicht. Und während sie noch überlegten, was sich da eigentlich ereignet haben könnte, kehrte der Atem in das Tier zurück, es erhob den Kopf, blickte treuherzig um sich, stellte sich wieder auf die Füße und – heidi, schoß es davon, in der Richtung nach der Behausung, dem Stall entgegen, als wollte es zu verstehen geben: einmal und nicht wieder in eine solche Felsenhöhle.

»Kannst du dir denken, Freitag, was da vorgegangen ist?« fragte Robinson. »Nun, ich will es dir sagen: das war keine giftige Schlange, aber eine giftige Luft, ein gefährliches Gas, das aus einer unterirdischen Quelle strömt und jedem lebendigen Wesen beim Einatmen den Tod bringen muß.« »Oh, Herr,« meinte Freitag, »diesmal irrst du dich aber bestimmt. Denn wir beide sind doch auch darin gewesen, wir haben dieselbe Luft geatmet, und uns ist gar kein Unheil begegnet!«

Nun versuchte Robinson seinem Gefährten klarzumachen, daß solch ein gefährliches Gas, Kohlensäure, sich gewöhnlich niedrig am Boden aufhält, weil es schwerer ist als die atembare Luft. Deshalb sei das kleine Tier noch in den Dunstkreis des Giftgases hineingeraten, während sie beide als erwachsene Männer darüber hinausgereicht hätten und folglich ganz unberührt davon geblieben wären. Zudem hätten sie sich ja beim Anfassen des ohnmächtigen Büffelchens nur wenige Sekunden gebückt, so daß eine üble Einwirkung des Gases noch nicht aufzutreten vermochte.

Daß Freitag diese Merkwürdigkeit vollkommen verstanden habe, möchte ich nicht gerade behaupten; denn in seinem ungelehrten Kopf steckte ganz gewiß keine richtige Vorstellung von Luft, Gas und Gasgewicht. Euch aber wird das schon eher einleuchten, da wir uns bereits über die Körperlichkeit und Schwere 252 der Luft unterhalten haben, und da ihr außerdem vom Wesen anderer Gase eine Ahnung habt, so vom Leuchtgas, das uns aus den Fabriken zuströmt, und von der Kohlensäure, deren Blasen ihr aus manchem Mineralwasser habt aufsteigen sehen.

Peter: Gibt es denn viele solche Gashöhlen?

Vater: Es mag deren mehr geben, als bekannt geworden sind. Denn die Kohlengruben mit ihren »schlagenden Wettern«, die leider noch alljährlich so viele Opfer fordern, sind hier nicht mitzuzählen, da sie eine Erscheinung für sich bilden. Spricht man von Gashöhlen der Art, wie sie Robinson eben betreten hatte, so denkt man im Vergleich hauptsächlich an die »Hundsgrotte« in Süditalien, deren Name davon herrührt, daß Geschöpfe von der Größe eines Hundes darin zugrundegehen müssen, falls ihnen nicht so schnell geholfen wird wie Robinsons kleinem Haustier.

Unser Freund hatte rasch genug begriffen, daß ihm keine weitere Gefahr drohte, zumal da die am Eingang muldenartig vertiefte Grotte sich weiterhin in sanfter Steigung hob, so daß ein Nachdringen der Kohlensäure ihrer Schwere wegen nicht zu befürchten war. Beide schritten nun mit angezündeten Fackeln tiefer hinein, und sie erkannten bald, daß die Höhle sich in Steingängen zu weiteren Grotten fortsetzte, ohne daß abzusehen gewesen wäre, wann diese Reihe felsiger Säle überhaupt einmal ein Ende nehmen würde.

Johannes: Na, wenn sie nur Beleuchtung haben, müssen sie das doch bald herausbekommen.

Dietrich: Auf alle Fälle aber hätte Robinson am Eingang einen Faden anbinden müssen, so einen, wie die Ariadne dem Theseus mitgab, als er in das Labyrinth hineinstieg.

Vater: Gewiß, das wäre eine Vorsicht mehr gewesen, denn sie befanden sich wirklich in einem Labyrinth. Von der Ausdehnung solcher Höhlenverzweigungen, wie sie die Natur in die Berge gesprengt hat, kann man sich nur schwer einen Begriff machen. Um nur ein Beispiel zu geben: die sogenannte Mammuthöhle in Kentucky mißt, alle ihre Seitengänge zusammengerechnet, zweihundertvierzig Kilometer, das ist eine Strecke wie von Hamburg bis an die holländische Grenze. Da kann man sich also schon tüchtig verlaufen.

253 Ursula: Gewiß wird er nun wieder nicht heimfinden! Daß er aber doch immer irgendwo hinein muß, wo man ihm nachher nicht heraushelfen kann!

Peter: Und wozu hatte er das überhaupt nötig, wo er doch schon die blaue Grotte gesehen hatte? Höchstens sah doch eine Grotte immer so aus wie die andere.

Vater: Also erstens: die Gefahr des Verlaufens war hier nicht so ungeheuer, denn Robinson hatte sich vorgenommen, nur einige hundert Schritt weit vorzuschreiten, schon aus Rücksicht auf den Verbrauch von Fackeln, mit denen nicht leichtsinnig gewirtschaftet werden durfte. Zudem war an eine so gewaltige Ausdehnung wie etwa bei der von mir erwähnten Höhle in Kentucky nicht zu denken, weil ja die Fläche seiner ganzen Insel nicht groß genug war, um eine solche Höhlenbildung auch nur entfernt zu gestatten. Und schließlich war der Anblick, der sich ihm jetzt bot, doch ganz anders als der in der blauen Grotte und übertraf alles, was sich die kühnste Einbildungskraft nur vorzustellen vermag. Er befand sich nämlich in einer Tropfsteinhöhle, in einem abenteuerlichen, schier unermeßlich erscheinenden Raum, den die Natur wie zum Kristallpalast für einen Herrscher unterirdischer Geister geformt zu haben schien.

Johannes: Jetzt möchte ich nun bald sagen: alle Herrlichkeiten der Welt findet der Robinson in seiner Nähe, und wir kriegen so was niemals zu sehen!

Vater: Du irrst, Johannes! Auch wir in Deutschland besitzen solche Wunder, besonders im Harz, wohin wir einmal reisen wollen, um die Baumanns- und die Hermannshöhle zu besichtigen. Wenn auch die, in welcher Robinson sich jetzt befand, wie ich vermute, noch bei weitem glänzender und mächtiger war, so ist doch die Grundbedingung ihres Entstehens überall dieselbe. Es sind Tropfgewässer, die durch eine kalksteinhaltige Überschicht hindurchsickern und beim Hinabtröpfeln von diesem Mineral kristallartige Zapfen absetzen. Man nennt diese bei Fackellicht in allen Edelsteinstrahlen funkelnden, von der Decke hinunter strebenden Zapfengebilde Stalaktiten. Die ihnen von unten entgegenwachsenden heißen Stalagmiten.

Peter: Wieso von unten her? Sickert denn da etwas hinauf?

254 Vater: Keineswegs, denn der fallende Tropfen ist mit seinem Weg fertig, sobald er am Boden ankommt. Allein hier verdunstet er, hinterläßt wiederum einen kalkig-kristallinischen Rückstand, jeder Rückstand erhöht sich über seinem Vorgänger, und so wächst tatsächlich ein Zapfen aufwärts dem abwärts gesenkten genau entgegen. Unausdenkbar lange Zeiträume sind erforderlich gewesen, um auch nur eine Fingerlänge solcher flimmernden Gebilde zuwegezubringen. Allein an Zeit hat es ja seit der Gestaltung der Erdrinde nicht gefehlt, und so haben sich denn diese Tropfsteine zu riesigen Körpern auswachsen können, die sogar bisweilen die ganze Höhe der ungeheuren Grotte durchmessen. Robinson zählte zu Dutzenden die Vereinigung von Stalaktit und Stalagmit zu vollkommenen Säulen und zu Pfeilern, die sich feierlich anordneten wie im Palast eines Kirchenfürsten. Er erhob seine Spitzhacke und führte einen wuchtigen Schlag gegen eine solche strahlende Säule –

Peter: O pfui, jetzt will er auf einmal die ganze Herrlichkeit entzweimachen!

Vater: Bewahre! Nur einen Schall wollte er hervorbringen, und wirklich: die Säule klang mit einem tiefen und schönen Ton, als wenn der Klöppel gegen eine riesige Kirchenglocke schlägt. Und dort – in ganzen Reihen strebten sie an den Schroffen empor, die Klangsäulen, einer Orgel vergleichbar, nur daß die mächtigste Orgel irgendeines Münsters neben dieser wie ein ganz kleines Instrument ausgesehen hätte. Schlag auf Schlag führte Robinson, ganz berauscht von der Klangwirkung dieses ungeheuren Chorals, der verstärkt durch anhaltendes Echo den gewaltigen Steinbau durchbrauste. Es war das erste, das einzige Musikereignis, das er auf seiner Insel erlebte, und dieses Konzert gab er selbst mit seinen eigenen Händen.

Freitag, der sich in diesen Eindrücken noch weniger zurechtfinden konnte als sein Herr, war betäubt zu Boden gesunken. Seine Fackel war ihm dabei entglitten und verlosch auf dem feuchten Grund. Als Robinson sie vom Boden aufhob, um sie an der seinigen zu entzünden, wurde er jetzt erst gewahr, daß da am Boden allerhand Körper herumlagen, die er zuvor, in den Glanz der Tropfsteine vertieft, gar nicht bemerkt hatte 255 oder doch höchstens nur so weit, als er darüber gestolpert war. Nun leuchtete er den Boden ab und sah: es waren Knochen.

Zeigten sie sich hier nur lose verstreut, so lagerten sie an anderen Stellen der Höhle in Massen. Seltsam gebildete Teile von Gerippen waren es, teilweise in solcher Größe, daß Robinson sich gar nicht vorstellen konnte, zu welcher Gattung von Geschöpfen sie wohl gehört haben mochten. Allein bald besann er sich auf eine Beschreibung, die er kurz zuvor in seinen Büchern gelesen hatte. Ganz recht! Solche Tropfsteinhöhlen sind ja wirklich die Fundstätten von tierischen Überresten aus einer längst vergangenen Zeit; aus einer Zeit, da die Verteilung von Land und Wasser noch eine ganz andere war als auf heutiger Erde, da sich Tiere umhertummelten, deren abenteuerliche Gestaltungen längst verschwunden, ausgestorben sind, und von denen wir Lebenden gar nichts wüßten, wenn nicht ihre versteinerten Knochengerüste, in Höhlen und Bergschichten aufbewahrt, auf uns gekommen wären.

Johannes: Was waren denn das für Tiere?

Vater: Es würde zu weit führen, wenn ich sie euch im einzelnen aufzählen wollte. Aber stellt euch einmal vor, sie lebten noch, und ihr kämt in eine Landschaft, die von solchen Wesen bevölkert wäre; da würdet ihr vor Staunen und Grausen die Besinnung verlieren.

Dietrich: Ach, wenn solche Tiere noch lebten, brauchte man sie ja nicht im Freien anzusehen; dann wären sie gewiß auch im Zoologischen Garten, wo man sie ganz ohne Furcht betrachten könnte.

Vater: Vielleicht! Obschon ich kaum glaube, daß es möglich wäre, solche Geschöpfe einzufangen und hinter ein Gitter zu bringen. Nehmen wir zum Beispiel eine fossile Eidechsensorte . . .

Peter: Fossil?

Vater: Das heißt ausgegraben, versteinert, urweltlich, einer Zeit angehörig, als noch keine Menschen unserer Art auf Erden lebten. Die größten Eidechsen, die wir kennen, die Kaimans und Krokodile, sind ja wohl schon fürchterlich genug mit ihren sieben Metern Körperlänge. Aber das sind unbeholfene, niedrige Kriechtiere, denen zum richtigen Schreckenseindruck die aufgerichtete 256 Figur fehlt. Nun denkt euch solch ein Riesenkrokodil im Körpergerüst drachenartig erhöht! Und jetzt denkt euch ferner solch ein Geschöpf noch um ein Vielfaches verlängert, verbreitert und verdickt, so kommen wir allmählich zur richtigen Vorstellung des vorweltlichen Ungeheuers, des größten Landbewohners, den unsere Erde jemals getragen hat. Die Mehrzahl waren entsetzliche Raubtiere, andere waren Pflanzenfresser, so der Atlasdrache, Atlantosaurus, der bei einer Höhe von dreißig Fuß eine Länge von hundertfünfzehn Fuß erreichte. Das ist mindestens die sechsfache Länge eines großen Elefanten, den er sonach bei Berücksichtigung der anderen Körperausdehnungen in der Masse etwa um das Dreißigfache übertraf! Dreißig Elefanten zu einem einzigen Geschöpf von Eidechsenart vereinigt!

Johannes: Ja, wann hat denn dieses Tier eigentlich gelebt?

Dietrich: Na, das kannst du dir doch denken: vor Tausenden von Jahren.

Vater: Lieber Dietrich, wenn du bei versunkenen Tiergattungen sagst: Tausende von Jahren, so ist das ungefähr so, als wolltest du behaupten, daß seit dem Tod des Kaisers Barbarossa schon Tausende von Minuten verflossen sind. Die Behauptung wäre nicht falsch, aber ganz unzureichend. Das Maß ist eben ungeeignet. Und ebenso wie wir in der uns bekannten Weltgeschichte nicht nach Minuten, sondern nach Jahren und Jahrhunderten rechnen, so haben wir in unserem Fall, wenn wir von ausgestorbenen Tiergattungen reden, nach Millionen von Jahrtausenden zu zählen.

Peter: Hat denn nun Robinson solche Drachenknochen in der Höhle gesehen?

Vater: Nicht nur die, sondern auch wohl Reste von manchen anderen Geschöpfen der Urzeit, aus Zeiten, da ein Übergang von Reptilien zu den Vögeln stattfand, und von affenartigen Geschöpfen zu Zweihändern, die schon menschenähnliche Gestaltung zeigten. Freilich vermochte er sich von der Natur der Knochenteile keine Rechenschaft zu geben. Allein er nahm sich doch vor, einzelne Teile mit den Abbildungen zu vergleichen, die jetzt in seinem Besitz waren, um dadurch dem Verständnis seiner Funde ein wenig näherzukommen. Er 257 lockerte daher einige Bruchstücke der umherliegenden Gerippe, fügte sie zu seiner Traglast und verließ die Höhle, um das Freie zu gewinnen. Es war die höchste Zeit, denn die letzte Fackel war eben am Verglimmen, als er den zum Licht führenden Ausgang erreichte.

Johannes: Was mögen das bloß für Knochen gewesen sein, die er mitnahm?

Vater: Dies genau zu bestimmen, reichten seine Mittel allerdings nicht aus. Dazu gehören schon die Fähigkeit und der Scharfsinn eines Gelehrten wie Cuvier, der sich rühmen durfte, er wäre imstande, aus dem Knochensplitter irgendeines unbekannten Tiers dessen gesamten Bau zu erraten und genau zu beschreiben. Aber bei den Funden des Robinson befand sich wenigstens ein Stück, das sich von ihm mit ziemlicher Gewißheit deuten ließ. Es war ein nur wenig beschädigter Schädel. Und indem er diesen mit den Zeichnungen in seinen Naturbüchern verglich, gelangte er zu der Überzeugung: er hielt einen Menschenschädel in der Hand.

Peter: O wie garstig! Einen Totenkopf in die Hand zu nehmen!

Dietrich: Wieso garstig? Das muß doch jeder Student tun, wenn er anfängt, Medizin zu studieren. Aber wie war denn der tote Mensch in die Höhle gekommen? Da lagen doch bloß Gerippe von Tieren?

Vater: Nun, tierisch genug mag der Mensch gewesen sein, dem dieser Schädel einst angehörte. Denn dieser Urmensch bildete den Übergang vom menschenähnlichen Affen zum niederen, noch an den Affen erinnernden Menschen. Aus einer Reihe derartiger Skelettfunde, deren wichtigster vor noch nicht langer Zeit auf der Insel Java stattfand, also gar nicht sehr weit von Robinsons Insel, wissen wir mit Bestimmtheit, daß solche Urmenschen gelebt haben, ja wir können uns sogar ein Bild entwerfen von ihrer äußeren Erscheinung und von den Formen ihres Lebens. Ich habe das schon einmal erwähnt, als wir von den Entdeckungen des Professors Hauser in französischen Höhlen sprachen. Träte heute ein solcher Urmensch lebend vor uns hin, wie er einst war, vor hundertfünfzigtausend Jahren, mit haarigem Fell, plump, ohne Sprache und ohne 258 Werkzeuge, so würden ihm wohl manche das Menschenrecht verweigern; allein das wäre nicht viel anders, als wollte man einen Kongoneger zu den wilden Tieren zählen, weil er nicht unsere Farbe und Sitte besitzt. In allem Erschaffenen, sei es Pflanze oder Tier, handelt es sich immer nur um Stufenleitern, um Übergänge, und so hat denn der aus jenen Überresten erwiesene Urmensch auch die Lücke zwischen Tier und Mensch ausgefüllt.

»Sieh her, Freitag,« rief Robinson, indem er seinem Gefährten den Schädel vor Augen hielt, »wir beide waren nicht die ersten, nicht die einzigen menschlichen Bewohner dieser Insel! Lange, lange vor uns haben hier Männer gehaust mit Weibern, mit Kindern, haben Bestien verzehrt und sind von Bestien verzehrt worden. Ohne Kleidung, ohne Hausgerät, ohne Sprache und klare Gedanken haben sie dahingelebt in fürchterlichem Kampf mit Gift- und Raubgetier. Und doch waren es Menschen, aufrecht gehende Geschöpfe mit Freude am Leben und mancherlei Gefühlen, die unseren eigenen Empfindungen ähnlich sein mochten.«

Johannes: Aber Vater, wie verträgt sich denn das alles mit dem, was wir in der Bibel lesen, wo doch die ganze Welt in sechs Tagen geschaffen wurde und nicht in hunderttausend oder gar Millionen Jahren?

Vater: Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Um dir aber über das Bedenken hinwegzuhelfen, möchte ich sagen: so wie es bei verschiedenen Völkern verschiedene Sprachen gibt, so ist auch die Sprache der Bibel eine andere als die der Wissenschaft. Der Maßstab der Bibel ist die Ewigkeit, vor der ein Jahrtausend nicht anders gilt als eine Sekunde. Und so mag wohl der Zeitraum, den die Bibel als einen Tag bezeichnet, etwas ganz anderes bedeuten als der Tag in unserem bürgerlichen Leben. Und ferner, wie wir eine Dichtung, ein schönes Märchen nicht nach der Richtigkeit beurteilen, so liegt auch der Wert der Bibel nicht in ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit, sondern in der Gewalt, mit der sie ans Herz greift. Diese Gewalt auszuüben, war ihre vornehmste Aufgabe, als sie zuerst zu Menschen sprach, denen die richtige Einsicht in das Walten der Natur noch fehlte. Diese Reife erlangten sie erst sehr viel später, zu 259 Zeiten Goethes und wesentlich durch Goethe selbst. Heute nennen wir den Zweig des Wissens, der uns von der Entwicklung der Geschöpfe einschließlich der Menschen Kunde gibt, die Darwinsche Lehre, nach dem Engländer Darwin, der sie mit aller Gründlichkeit ausgebaut hat. Man könnte sie ebensogut die Goethesche Lehre nennen, und damit wäre wieder ein Bedenken beseitigt: denn auch was Goethe schrieb, gilt ja uns Deutschen als heilige Schrift.

Um auf unseren Robinson zurückzukommen, schoß ihm, während er mit dem Schädel in der Hand seinen Genossen zu belehren versuchte, noch ein Gedanke durch den Kopf, den er aber nicht aussprach, weil Freitag ihn wohl nicht verstanden hätte. Er dachte sich nämlich: wie wird es wohl in einer sehr fernen Zukunft, in weiteren hunderttausend Jahren auf der Erde aussehen? Sehr möglich, daß dann jemand meinen eigenen Schädel findet, den Schädel, den Robinson einst auf den Schultern trug. Und der Finder wird dann vielleicht bezweifeln, ob dieser Schädel wohl der eines Menschen gewesen sein könnte. Denn das Knochengerüst dieses Zukunftsmenschen wird sich abermals sehr geändert haben, ebenso wie seine Sprache, sein Wissen, sein Können. Er wird längst nicht mehr an die Erde gefesselt sein wie wir, wird wahrscheinlich schon mit anderen Planeten im Güterverkehr stehen, und so ein Robinsonschädel kann für ihn nichts anderes sein als der Teil eines Urweltmenschen aus unvordenklicher, gänzlich unkultivierter Zeit. 260


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