Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Zehnter Nachmittag

Am nächsten Tag war die kleine Gesellschaft schon frühzeitig um den Gartentisch versammelt und wartete ungeduldig auf den Vater. Als dieser endlich erschien, rief man ihm entgegen: »O bitte, schnell! Was ist's denn mit den Menschen auf Robinsons Insel? Wir sind so neugierig!«

Vater: Wir verließen unseren Freund, als er gerade beim Betreten der Dichtung so furchtbar erschrak. Denn er sah eine große Absiedlung vor sich, lauter hochgebaute Hütten, und – wahrhaftig! – aus mehreren von ihnen stieg Rauch empor. Robinson zitterte am ganzen Körper. Und in diesem Augenblick gab noch dazu der Boden nach, so daß er fast ausgerutscht und mit seinem Korb hingefallen wäre. Um eine Stütze zu haben, lehnte er sich an den nächsten Baum. Doch welch neues Entsetzen! Kaum hatte er den starken Stamm mit seiner Schulter berührt, da fiel dieser um, als wäre er aus Papier. Und jetzt taumelte Robinson wirklich, so daß die zuoberst im Korb liegenden Früchte herausfielen.

Johannes: Ach, wie entsetzlich!

Peter: Das ist ja ordentlich wie im verhexten Wald!

Vater: So etwas dachte Robinson wohl auch. Aber er hatte trotz seines Schrecks noch Kräfte genug, um weiter zu beobachten. Ganz leise zog er sich hinter den nächsten dicken Baum zurück und lugte hervor. Die Hütten standen da, eine neben der anderen und hinter der anderen in langen Reihen, es war offenbar ein richtiges Dorf. Und immer noch wirbelten die Rauchsäulen. Gewiß würden jetzt gleich die wilden Bewohner herauskommen, ihn erblicken und töten, vielleicht auffressen. Robinson fror bei diesem Gedanken in der Tropenhitze.

118 Aber war das wirklich Rauch? Er faßte die Spitze der nächstliegenden Hütte ins Auge, und wer beschreibt sein Erstaunen, als er jetzt, nachdem er sich gewaltsam zur Ruhe gezwungen, wahrnahm, daß das, was er für Rauch gehalten, nichts anderes war als ein dichter Schwarm senkrecht aufsteigender weißer Insekten.

Johannes: Die kamen aus den Hütten heraus?

Vater: Ja, das kam Robinson merkwürdig genug vor. Überall schwärmten diese Insekten aus den offenen Spitzen der meist kegelförmig gestalteten, teils niedrigen, teils hohen Hütten heraus.

Ursula: Da hatten die Bewohner wohl gerade überall Insektenpulver gestreut?

Vater: Über die Ursache des Schwärmens wußte Robinson nichts. Was ihn aber noch mehr in Verwunderung versetzte, war, daß er trotz langen Wartens in den Gassen des großen Dorfs nicht einen einzigen Bewohner erblickte. Schließlich wurde er ungeduldig, und da er ein tapferes Herz hatte, wagte er, sich an die nächstliegende kleine Hütte heranzuschleichen. Nichts regte sich als die emporschwirrenden Insekten. Vorsichtig umging er die Hütte und bemerkte zu seiner Überraschung, daß sich weder ein Fenster noch eine Tür darin befanden. Ebenso ging es ihm bei der zweiten und auch bei der dritten, die so hoch war, daß er die Kuppe gar nicht mehr überblicken konnte. Da wurde er mutiger, denn allmählich dämmerte ihm die Gewißheit, daß das gar keine richtige menschliche Ansiedlung sei.

Peter: Ja, aber die Hütten mußten doch von Menschen gebaut sein! Denn richtige Zauberei gibt es doch nicht.

Vater: Nein, gewiß nicht. Aber es gibt Wunder der Natur, die wir für Zauberkunststücke halten müßten, wenn wir ihre Ursachen nicht erforscht hätten.

Dietrich: Wer wohnte also in den Hütten?

Vater: Das erfuhr Robinson, als sein Fuß jetzt von neuem in das Erdreich einbrach. Da sah er unter der zerrissenen Erdfläche unzählige weiße Insekten erschreckt davonlaufen und in der nächsten Hütte verschwinden. Mit seinem Steinbeil erweiterte er den Riß in der Erde und kam schließlich dazu, einen Teil der nächsten Hütte selbst anzuschlagen. Überall fand er nichts weiter als ein ungeheures Gewimmel kleiner, weißer Tiere, die sich offenbar scheu vor dem eindringenden Licht zurückzogen.

119 Peter: Waren das die Bewohner des Dorfs?

Vater: Ja, kein anderes Geschöpf hatte sich hier angesiedelt.

Johannes: Aber die kleinen Tiere konnten doch unmöglich die großen Bauwerke hergestellt haben!

Vater: Das war dennoch der Fall. Alle diese Hütten waren nichts anderes als Termitenhügel. Die Termiten oder weißen Ameisen, wie sie auch genannt werden, obgleich sie nicht zu den Ameisen gehören, sind diejenigen Mitglieder des Tierreichs, die es fertig bekommen, die mächtigsten Bauwerke herzustellen. Gleich den Bienen und den Ameisen leben sie gesellschaftlich zusammen, und als herrliches Beispiel der Leistungen, die schwache Geschöpfe vollbringen können, wenn sie einträchtiglich zusammenarbeiten, stehen ihre Bauwerke da.

Peter: Da wird Robinson sich wohl schön gewundert haben, als ihm das klar wurde!

Vater: Sein Erstaunen stieg noch weiter, als er die Insekten sogleich in ihrer Tätigkeit beobachten konnte. Kaum hatte er die Axt zurückgezogen, mit der er eine der Hütten geöffnet, da strömten schon Tausende der Termiten herbei, um die Öffnung sofort wieder zu verschließen. Jede von ihnen brachte im Mund ein ganz kleines Erdklümpchen, das sie an den Riß klebte. Und obgleich jedes Klümpchen kaum so groß war wie ein Stecknadelkopf, hatte die ungeheure Masse, die in richtiger Ordnung hintereinander und zusammen arbeitete, schon in zehn Minuten ein merkliches Stück des Risses zugemacht.

Johannes: Wie wunderbar!

Vater: Es reizte Robinson, ein paar der Tierchen näher zu besehen, und er griff mit der Hand in den Haufen, um einige der eifrig Arbeitenden herauszuheben. Aber das sollte ihm schlecht bekommen. Er schrie vor Schmerz auf und zog seine Finger blutend zurück. Es waren zahlreiche, kleine Wunden hineingeschlagen. An seinen Fingern hingen noch einige Termiten, die ihre verhältnismäßig sehr kräftigen Beißzangen zu tief eingeschlagen hatten und sie nicht geschwind genug wieder losmachen konnten. Robinson löste sie ab und betrachtete ihre riesigen Köpfe. Wenige Blicke zeigten ihm, daß nicht alle der Insekten solche Beißwerkzeuge hatten. Es gibt nämlich 120 unter den Termiten in jedem Stock zwei Arten, die Arbeitstiere, die wunderbar zu bauen vermögen, und die Soldaten, welche nicht bauen, sondern mit Verteidigungswaffen ausgerüstet sind und den Stock zu bewachen haben. In einer einzigen Hütte oder dem Hügel, wie wir jetzt richtiger sagen wollen, leben ihrer oft mehrere Millionen zusammen, deren Haupt ein König und eine Königin sind; diese halten sich stets in der Mitte des Hügels in einer großen Kammer auf.

Johannes: Woher nehmen sie denn ihre Nahrung?

Vater: Auch das ist eine seltsame Angelegenheit. Die Termiten haben weiche, leicht angreifbare Körper, und sie fallen noch dazu durch ihre weiße Farbe besonders leicht auf. Sehr viele Tiere sind ihre Feinde. Sie scheuen darum das Licht, gehen am Tage nie ins Freie hinaus. Um jedoch zu den Wurzeln der Bäume zu gelangen, von denen sie sich nähren, graben sie sehr lange Wege durch die Erde. Sie durchziehen oft weite Plätze dicht bei dicht mit Gängen, und daher kam es, daß Robinson mit seinen Füßen eingebrochen war. Ihre große Zahl und ihre ungeheure Freßlust veranlaßt sie, Bäume, deren Wurzeln sie befallen haben, allmählich weiter und weiter von unten her auszuhöhlen. Sie fressen oft den ganzen Stamm innen vollständig auf und lassen nur eine ganz dünne, äußere Schale stehen, damit sie nicht in das ihnen verhaßte Licht hinauszukommen brauchen. Kein Wunder daher, daß jener Baum so leicht abbrach, gegen den Robinson sich gelehnt hatte. Er war eben vollständig hohl gewesen und stand nur noch auf seiner Rinde.

Dietrich: Aber jene Rauchsäulen, jene fliegenden Insekten, die Robinson gesehen hatte, waren das auch Termiten?

Vater: In einer bestimmten Zeit des Jahres befinden sich in jedem Nest Termiten, die geflügelt sind, während die anderen keine Flügel besitzen. Das ist bei unseren Ameisen ganz genau so. Die geflügelte Gesellschaft schwirrt aus dem Nest und dient dazu, neue Niederlassungen anzulegen. Von den vielen Tausenden, die jedes Termitendorf auf diese Art aufschwirren läßt, kommen jedoch nur ganz wenige dazu, wirklich eine Neugründung zu beginnen, denn überall lauern die Feinde auf sie.

Robinson beobachtete, wie auf der Kuppe eines niedrigen Hügels Tausende und Abertausende der richtigen Ameisen, 121 wie sie auch in unseren Wäldern wohnen, umherliefen, und unzählige der geflügelten Termiten sogleich beim Ausfliegen packten, töteten und zu verzehren begannen. Er sah hier einen entsetzlichen Kampf zwischen Tier und Tier, wie ihn die Natur in ihrer uns unbegreiflichen Grausamkeit nicht selten geschehen läßt. Vergeblich hielten Soldaten-Termiten am Ausflugloch Wacht. Sie konnten die Ameisen nicht vertreiben.

Voll tiefen Staunens überblickte Robinson noch einmal die ganze Lichtung, sah die verschiedenen Arten der Termitenhügel, kegelförmige, ferner turmartige Gebäude mit hohen Zacken, auch pilzförmige dicht aneinandergelegt, und überlegte sich, daß hier wohl viele Milliarden der kleinen, weißen Tiere wohnen müßten. Endlich nahm er Abschied von der lebenerfüllten Waldlichtung, erfreut, daß die Kolonie sich nicht in der Nähe seiner Wohnung befand, und schritt fürbaß.

Die Hitze war recht lebhaft geworden, und sein Sonnenschirm leistete ihm gute Dienste. Als er sein Mittagsmahl hielt, erfrischte der Saft der Zitronen seinen lechzenden Gaumen, da an dieser Stelle gerade kein frisches Wasser zu finden war. Später erst traf er wieder eine Quelle, aus der er in großen Zügen trank. Eine Zeitlang sah er nun nichts weiter als die immer wechselnden und doch immer gleichen Formen des Urwalds. Der Boden war jetzt häufig hügelig, und es ging oft über kleine Berglein hinauf und hinab. Einer dieser Hügel lenkte Robinsons Blick auf sich. Er leuchtete nämlich fast schneeweiß im Sonnenlicht. Unser Wanderer wollte sehen, woraus er denn bestünde. Die Decke des Hügels war hart, glatt und fühlte sich so ähnlich an, als wenn sie aus Glas wäre. Aber die Axt drang unschwer ein. Der Stoff ließ sich zerkrümeln. Es bildeten sich lauter kleine, scharfkantige Stücke. Diese kamen Robinson bekannt vor. Plötzlich leuchtete es in seinem Gesicht auf. Er faßte ein kleines Häuflein mit den Fingern und schob es mit rascher Bewegung in den Mund.

Ursula: Es war gewiß Zucker!

Dietrich: Das kann ich mir nicht gut denken, denn der Zucker kommt doch in der Natur nicht fertig vor. Den machen wir doch erst aus Zuckerrohr oder Rüben.

Vater: Es war wirklich durchaus nichts Süßes, was Robinson auf der Zunge fühlte, und dennoch ließ er es mit Freude im Mund 122 zerschmelzen. Er hatte nichts anderes entdeckt als Salz, ganz gewöhnliches Kochsalz, wie wir es in unseren Küchen verwenden.

Ursula: Pfui, Salz! Das schmeckt doch abscheulich! Wie kann sich Robinson darüber freuen!

Vater: Unter gewöhnlichen Umständen würde er es auch sicherlich nicht getan haben, und noch wenige Minuten vor seinem Fund hätte er auch wohl selbst nicht geglaubt, daß ein paar Finger voll Salz ihm wohlschmecken würden. Aber eine ganz unwillkürliche, natürliche Regung führte ihn dazu. Während der ganzen Zeit, die er auf der Insel zugebracht, war nichts Salziges über seinen Gaumen gekommen. Die angenehme und gesunde Fruchtnahrung hatte ihn den Mangel nicht bemerken lassen, nun aber fühlte er plötzlich etwas, das keiner von uns kennt, nämlich den Salzhunger.

Dem Landwirt ist er nicht unbekannt, denn er bemerkt ihn an dem Vieh, das auf salzarmen Wiesen weidet. Man legt den Rindern Steine aus Salz hin, damit sie daran lecken. Dem tierischen und menschlichen Körper ist nämlich eine gewisse Salzzufuhr unentbehrlich. Sie trägt außerordentlich viel zur richtigen Regelung des Säfteumlaufs im Körper bei. Im Blut, im Speichel und auch im Magensaft muß sich stets ein gewisser Salzgehalt befinden, sonst gehen das Tier oder der Mensch schließlich zugrunde. Für gewöhnlich nehmen wir ja in unseren Speisen genügend Salz zu uns. Es befördert die Verdauung und macht vieles erst schmackhaft. Ein gescheiter Mann hat einmal gesagt: »Das Salz ist ein Gewürz, das die Speisen verdirbt, wenn es nicht hineinkommt.« Robinson hatte richtigen Salzhunger, und darum aß er das reine Gewürz nicht ohne Behagen, was man für gewöhnlich nicht zu tun pflegt. Dann fiel ihm ein, daß er seine schönen Trinkeier damit würzen könne, was er auch sofort tat. Gleich schmeckten sie ihm sehr viel besser. Er nahm einen tüchtigen Haufen des schönen, reinen Salzes in seinen Korb, um es nach Hause zu bringen.

Johannes: Wie kam denn nun bloß das Salz auf die Insel, Vater?

Vater: Es hat dort sicher schon viele Jahrhunderttausende gelegen, bis es von Robinson entdeckt wurde. Es stammte aus dem Meer.

123 Dietrich: So, Vater? Das kann ich mir gar nicht zusammenreimen. War an dieser Stelle der Insel früher ein Meerwassersee gewesen, dessen Flüssigkeit verdampfte?

Vater: Nein, so kann man es sich wohl nicht erklären. Es sind größere Ursachen in Betracht zu ziehen. Das Antlitz unserer Erde sah nicht immer so aus wie heute. Die Massen, welche heute als Gebirge hochgetürmt dastehen, lagen vielleicht einst auf dem Grund des Meers; Flächen, die jetzt vom Meer überspült werden, waren früher ein mächtiges Festland. Durch Revolutionen im Innern der Erde, deren Kruste nicht immer so dick und widerstandsfähig war wie heute, wurden Erdbeben von einer Ausdehnung und Kraft hervorgerufen, die wir uns nicht vorzustellen vermögen. Hebungen und Senkungen haben allerorten stattgefunden. So mag auch Robinsons Insel einst vom Meeresboden in die Höhe geschoben worden sein. Ein großes Salzlager, wie sie in der Tiefe nicht selten sind, gelangte auf diese Weise zutage, und gewiß war damals noch nicht abzusehen, daß Teile von ihm dazu dienen sollten, Robinsons Eier zu würzen. Gerade solche Erscheinungen wie dieses Salzlager auf der Insel lassen uns aus dem Antlitz der alten Erde ihre Geschichte herauslesen. Es sind Runen, welche die Natur selbst geschrieben, als wolle sie uns Fingerzeige geben, ihr gewaltiges Tun zu erkennen und zu verehren. –

Robinsons Entdeckungsreise war nun schon recht erfolgreich gewesen, und er hätte getrost und zufrieden nach Hause zurückkehren können. Aber ein Blick auf den Stand der Sonne zeigte unserem Freund, daß es dazu doch schon zu spät sein würde. Vor dem Einbruch der Finsternis konnte er seine Wohnung wahrscheinlich nicht mehr erreichen, und da entschloß er sich kurz, noch weiter zu wandern und irgendwo ein sicheres Nachtlager zu suchen. Er ging noch mehrere Stunden am Waldrand entlang, ohne daß ihm etwas Besonderes aufgefallen wäre. Er war ja nun schon reich, so daß nicht jeder kleine Fund ihn freudig überraschen konnte.

Als dann der müde Wanderer von seinen Früchten zu Abend geschmaust und wiederum köstliche, mit Salz gewürzte Eier genossen hatte, begann er, nach einem Nachtlager umherzuspähen. Die Zeit drängte, denn die Sonne begann bereits mit der gewohnten Geschwindigkeit zu versinken. Nicht allzu schwer 124 war es, in dem herrlichen Palast des Urwalds, wo die Baumsäulen dichter gedrängt standen als die Steinpfeiler in dem berühmten, altägyptischen Tempel von Karnak, eine Höhlung zu finden von der Art, wie sie dem Robinson nach der Landung so lange als nächtlicher Aufenthalt gedient hatte. Ein mächtiger Spalt in einer uralten Korkeiche lockte ihn recht freundlich an, hier auszuruhen. Robinson stellte seine Bürde am Fuß des Baums nieder und flocht sich wiederum ein Gitter aus Zweigen, um die Baumöffnung hinter sich zu verschließen. Als er damit fertig war, verrichtete er sein Abendgebet, indes die Wipfel der ungeheuren Bäume eine rauschende Orgelmusik hierzu vollführten. Schon wollte er sich zu dem Baumspalt emporziehen – da entfiel das Geflecht seiner Hand. Er hatte etwas Furchtbares erblickt.

Ursula: Vielleicht eine weiße Erscheinung?

Peter: Es ist schrecklich, Ursula, daß du immer solch einen Unsinn redest. Es gibt doch keine Gespenster! Das hat dir bloß die dumme Auguste vorgeredet. Vater hat sie schön ausgescholten, als er dahinterkam.

Johannes: Was war es denn aber wirklich, Vater? Sage schnell! Vielleicht ein Bär oder ein Löwe?

Vater: Das wußte Robinson selbst nicht; er sah nur deutlich zwei weit aufgerissene Augen hellschimmernd auf sich gerichtet.

Johannes: Entsetzlich!

Peter: Ach, nun wird es ihm wohl schlimm ergehen, denn das Beil hatte er ja wohl schon abgelegt.

Vater: Wirklich war Robinson in diesem Augenblick ohne Waffe, und der Schreck bannte ihn so, daß er mit der Hand in der Luft umhergriff, aber sich gar nicht mehr besinnen konnte, wo er Korb und Beil niedergelegt hatte. Indessen blickten die Augen des Untiers, dessen Formen er undeutlich zwischen den Pflanzen sich abheben sah, ihn unverwandt an. An allen Gliedern zitternd, stierte auch Robinson hinüber und erwartete, im nächsten Augenblick den heißen Atem des Tiers in seinem Gesicht, die scharfen Krallen in seinen Schultern zu fühlen. Wohl fünf Minuten stand er regungslos da, und sie gehörten zu den entsetzlichsten, die er je erlebt hat.

Johannes: Sprang denn das Tier nicht gleich auf ihn los?

Vater: Nein, es blieb unbeweglich. Und das war für 125 Robinson ganz besonders schrecklich. Alles ringsum war nun schon ganz dunkel; außer dem Blätterrauschen herrschte tiefstes Schweigen im Wald, nur die fürchterlichen Augen, als einzige Lichter, starrten ihn an. Er konnte es schließlich nicht mehr aushalten, er bückte sich, griff glücklich das Beil und schleuderte es vorwärts.

Peter: Da hat das Tier sicherlich aufgebrüllt.

Vater: Nichts dergleichen geschah. Robinson hatte ausgezeichnet getroffen; er sah das Beil gerade zwischen den beiden Augen niedergehen. Aber zu seiner größten Verwunderung erblickte er nun plötzlich statt der beiden Augen eine einzige, breite, leuchtende Fläche.

Dietrich: Nanu! Was soll denn das heißen? Das muß ja ein merkwürdiges Tier gewesen sein.

Vater: Robinson taumelte zurück. Dann aber dachte er sich, daß hier doch wohl etwas ganz anderes im Wald sitzen müsse, als er vermutet hatte. Kühnen Schritts ging er darauf zu. Und was fand er?

Johannes: Das kann ich mir gar nicht zusammenreimen.

Vater: Da waren weder Augen noch ein Tier. Er fand vielmehr einen faulenden Baumstumpf, der im Dunkeln leuchtete.

Peter: Und der hatte Augen gehabt?

Vater: Nein, gewiß nicht. Aber eine große Schlingpflanze hatte zwischen Robinson und dem Baumstumpf gestanden. Ihr dichtes Blätterwerk verdeckte die leuchtende Fläche bis auf zwei ungefähr kreisförmige Stellen, die zwischen den Blättern frei geblieben und zufällig so weit voneinander entfernt waren, wie Augen in einem Tierkopf auseinanderzustehen pflegen.

Dietrich: Na, das ist doch aber ein merkwürdiger Zufall!

Vater: Gar nicht so sehr merkwürdig. Tatsächlich hatte die Natur sich doch nicht im geringsten bemüht, ein Tier vorzutäuschen. Robinson hatte ja nichts weiter gesehen als zwei leuchtende Stellen in kurzer Entfernung voneinander. Nach seiner Erfahrung gab es nichts anderes, das so aussehen konnte, als Tieraugen, und daher spiegelte ihm seine Phantasie ein Tier vor, dessen ganzen Körper sogar er deutlich zu sehen glaubte, das aber durchaus nicht vorhanden war. Seine Angst löste sich nun in einem befreienden Gelächter auf; er suchte sein Beil, trug es zur Baumwurzel zurück und konnte nun getrost schlafen gehen.

126 Dietrich: Wie kam es aber bloß, daß das Holz leuchtete?

Vater: Besinnt ihr euch auf den seltsamen Vorgang des Meeresleuchtens, den ich euch früher geschildert habe? Was war doch damals die Ursache?

Dietrich: Kleine Lebewesen, die Licht ausstrahlten.

Vater: Und das gleiche ist auch hier der Fall. Auf faulendem Holz, auch auf verwesendem Fleisch, wachsen kleine Pilze, die gleichfalls ein Leuchtvermögen besitzen. Schon mancher Wanderer ist im nächtlichen Wald durch derartiges Leuchtholz erschreckt und irregeführt worden.

Peter: Das ist aber auch etwas Schreckliches!

Vater: Nur deswegen, weil es eine für uns unerwartete Erscheinung ist. Sie hat an sich gar nichts Schreckhaftes. Wenn sie sich häufiger einstellte, als es der Fall ist, würde jeder Mensch sie aus Erfahrung kennen und von vornherein richtig einschätzen. So aber mag manches unsinnige Gerede von Gespenstern und nächtlichen Erscheinungen im Wald in diesen Leuchtpilzen seine Ursache haben. Es gibt nichts Unnatürliches! Denn die Natur beherrscht alles, und über ihre Grenzen kann nichts auf der Erde oder auf irgendeinem anderen Stern im Weltenraum hinaus.

Dietrich: Die Tieraugen leuchten aber doch auch, sonst hätte Robinson ja gar nicht auf seine Vermutung kommen können. Wachsen denn auf den Augen auch solche Leuchtpilze?

Vater: Das natürlich nicht. Wenn es ringsum wirklich völlig dunkel ist, leuchtet kein Auge, wohl aber, wenn noch einiges Licht in der Umgebung vorhanden ist, und namentlich wenn es von der Richtung herkommt, welcher der Beschauer den Rücken zukehrt. Die Hornhaut des Auges ist nicht selbstleuchtend, aber sie wirkt als ein Spiegel für einfallendes Licht. Eine Katze, die im dunkeln Hauswinkel sitzt, wirft mit ihren Augen das Licht aus der Umgebung spiegelnd zurück, so daß in dem Dunkel der Ecke leuchtende Punkte entstehen. Die gleiche Erscheinung kann bei Dämmerung im Wald eintreten. Robinson hatte in seiner Angst natürlich nicht daran gedacht, daß schon alles rings um ihn herum dunkel war, also nur ein selbstleuchtendes Etwas die Ursache der Lichterscheinung sein konnte. Der Schreck lähmt ja immer die Schärfe unseres Gedankengangs.

Ursula: Wenn Robinson nun auch wußte, daß kein Tier 127 da war, so konnte er doch sicherlich jetzt wohl nicht einschlafen. Ich hätte nach einem solchen Schreck nicht schlafen gekonnt!

Vater: Da war Robinson zu seinem Glück anders geartet. Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit aufgeklärt und keine Gefahr mehr vorhanden war, schlief er in seiner gesicherten Baumhöhle fest und ruhig bis zum Morgen. Dann trat er singend und trällernd trotz der recht schweren Last in seinem Korb den Rückweg an. Aber er beschloß, nicht wieder am Waldrand zurückzugehen, sondern in einem Bogen durch das Innere des Waldes hindurchzudringen, da er sich nun vor den wilden Tieren, die doch offenbar nicht vorhanden waren, keineswegs mehr fürchtete. Und an noch unbetretenen Stellen konnte er bei jedem Schritt etwas Neues, Brauchbares finden.

Inmitten des Waldes leuchtete ihm der Spiegel eines kleinen Sees entgegen. Von fernher schon sah er am Ufer eine lebhafte Bewegung. Unser Wanderer dachte zunächst, daß es Vögel wären, die dort liefen und flatterten. Aber nach wenigen weiteren Schritten erkannte er, daß die Tiere für Vögel doch wohl zu groß wären. Und als er dem See schon ganz nahe war, erblickte er etwas, das ihn sehr überraschte. Da weidete eine ganze Herde mittelgroßer Tiere mit kurzen, zurückgebogenen Hörnern, schlanken Körpern und spitzen Köpfen. Daß dies keine Bestien waren, konnte man sofort erkennen. Ihren gutmütigen Augen fehlte jeder Ausdruck von Wildheit; außerdem fraßen sie Gras, was die auf Fleischnahrung angewiesenen Raubtiere ja niemals tun. Mehrere standen am Ufer des Sees und tranken, indes eine Anzahl Junger ihre Mütter in drolligen Sprüngen umhüpfte.

Peter: Freute sich Robinson über diese Tiere?

Vater: Ja, und aus einem doppelten Grund. Einmal war es ihm lieb, zahme Lebewesen solcher Art, die dem Menschen schon nähersteht als die Vögel, auf der Insel zu wissen, und dann ahnte er, daß sie ihm wohl auch sonst großen Nutzen bringen könnten. Hätte er Feuer besessen, so würde ihm wohl gleich der Gedanke an einen Braten gekommen sein, denn das Fleisch der Tiere konnte vielleicht recht wohlschmeckend sein. Sie sahen den Ziegen nicht unähnlich, in Wirklichkeit waren es, wie Robinson später erfuhr, kleine Gemsbüffel, die in jenen 128 Gegenden zu Hause sind. Er beschloß sogleich, sich ein paar von den Tieren beizugesellen und sie mit nach Hause zu nehmen, um in ruhiger Betrachtung den besten Nutzen zu ermitteln, den er von ihnen ziehen könnte.

Johannes: Das ging nun wohl nicht so leicht, solche Tiere zu fangen? Die waren doch sicher sehr scheu!

Vater: Durchaus nicht! Die Scheu der Tiere beruht auf Erfahrung; diese pflanzt sich in einer Weise, die wir noch nicht kennen, von Geschöpf zu Geschöpf und von Geschlecht zu Geschlecht fort. Die hier hatten sicherlich noch nie einen Menschen gesehen und wußten daher auch nicht, daß ein solcher ihnen Schaden bringen könne.

Als Robinson aus den Bäumen heraus unter die Herde trat, da sprangen die nächsten Tiere wohl zur Seite, aber in ganz kurzer Entfernung blieben sie stehen und weideten ganz ruhig fort. So war es denn für unseren Freund gar nicht schwer, eins der Tiere an den Hörnern zu packen und ein zweites mit Hilfe seines Gürtels aus Weidenrute, den er wie eine Schlinge gebrauchte, zu fangen. Es waren schöne, ausgewachsene Tiere, die sich nicht wenig sträubten, als Robinson sie mit Gewalt weiterzog. Aber gegen die überlegene Kraft des Menschen half kein Stemmen der Füße gegen den Boden. Robinson führte die Tiere so sanft wie möglich in der Richtung nach seiner Wohnung davon, indem er sich sorgfältig den Platz anmerkte, wo er die äsende Herde getroffen. Bald sah er, daß er mehr gefangen hatte, als er geglaubt, denn vier niedliche Zicklein liefen hinterdrein und ihm immer weiter nach. Offenbar waren es die Mütter der Kleinen, die er gegriffen hatte. So besaß er gleich eine kleine Herde.

Nach recht beschwerlicher Wanderung mit dem gefüllten Korb und den widerspenstigen Tieren kam er erst gegen Mittag wieder am Südstrand an.

Als der Wanderer die grüne Hecke seiner Wohnung erblickte, durchwogte sein Herz ein warmes, freudiges Gefühl. Er kam nach Hause. Hier hatte er ein Zuhause, eine Stätte, die ihm gehörte, hinter deren Wänden er sicher war, einen Ort, wo er nun schon manches nützliche Gerät und eine vertraute Umgebung antraf. Wie ein König, der von seinem Eroberungszug heimkehrt, stieg er, nachdem die Gemsbüffel nicht 129 ohne Mühe durch Weidenruten gefesselt waren, damit sie nicht wegliefen, mit Schätzen reich beladen über seine Strickleiter in die Wohnung. Was brachte er nicht alles mit! Apfelsinen, Zitronen und vor allem den Salzvorrat, der in seiner Lage ein höheres Gut war als Gold, Silber oder Edelsteine. Er schüttete das kostbare Mineral in Kokosschalen und stellte andere als Deckel darüber, damit es bei eintretendem Regen nicht naß werde.

Zunächst hatte Robinson jetzt für seine kleine Herde Sorge zu tragen. Er beschloß, eine kreisförmige Umzäunung aus Sträuchern und Bäumchen anzulegen und die Gemsbüffelchen darin anzusiedeln. Als er aus seiner Wohnung wieder herausgeklettert war, um sich nach den Tierchen umzusehen, bot sich ihm ein lieblicher Anblick. Die kleinen Lämmerchen lagen an ihren Müttern und tranken aus den Eutern. Dieses Bild rührte Robinson zu Tränen, und er sah mit gefalteten Händen zu. Hatte er doch hier das Bild einer Familie vor sich, einer Zusammengehörigkeit, wie er selbst sie einst genossen und durch seinen Leichtsinn vielleicht für immer verscherzt hatte. Er gedachte der treuen Mutterliebe, die auch ihn umgeben, er sah die teure Gestalt vor Augen, die so fern, fern von ihm, jenseits der großen Meere sich sicherlich um den verschollenen Sohn sorgte. Dann aber schritt er wieder zur Tat, baute in mehrtägiger, angestrengter Arbeit den Zaun, innerhalb dessen die Gemsbüffelmütter und ihre Jungen bald lustig umhersprangen, die Alten an dem reichlichen Futter, das er ihnen brachte, sich gütlich taten.

Robinson kam auf den Gedanken, daß die Milch, die den Lämmerchen jetzt noch zur Nahrung diente, ihm in kurzem, wenn die Jungen entwöhnt sein würden, sehr nützlich sein könnte. Er suchte die Tierchen bald zu anderer Nahrung zu erziehen, indem er ihnen besonders saftige Kräuter bot, was auch gelang, da sie schon viele Wochen alt waren. Nun bemühte er sich, die Muttertiere zu melken, wobei er sich freilich recht ungeschickt anstellte und manchen Fußtritt in Kauf nehmen mußte. Am Ende aber konnte er jeden Tag mehrere Kokosnäpfe mit Milch füllen, die ihm sehr gut mundete. 130


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