Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Vierundzwanzigster Nachmittag

Am nächsten Tag wurde das Gespräch von Johannes begonnen. »Heute morgen«, sagte er, »habe ich so über Freitag nachgedacht. Der will mir eigentlich gar nicht so recht gefallen!«

Vater: Was hast du denn an ihm auszusetzen?

Johannes: Daß er dem Robinson treu ist und alles so schön lernt, ist ja sehr gut, aber eigentlich ist er doch beinahe so häßlich wie Robinson im Anfang. Er muß doch auch einen Vater und eine Mutter in seiner Heimat haben, und er hat noch nicht ein einziges Mal an sie gedacht.

Vater: Du hättest vollkommen recht, über Freitag verdrießlich zu sein, wenn das richtig wäre. Aber woher kennst du seine Gedanken? Ich habe euch nur von seinen Handlungen berichtet, aber nicht von dem, was in seinem Gemüt vorging. Ich freue mich aber, daß euch diese Lücke in meiner Erzählung aufgefallen ist; deine Einwendung, Johannes, zeigt mir, daß ihr aus den Lebensschicksalen Robinsons, die ich euch erzählte, bereits gelernt habt, Menschen zu beurteilen. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist etwas, das wir selbst bei den Tieren vielfach beobachten, man wird daher auch von einem Wilden, wenn man ihn als braven Menschen ins Herz schließen soll, die Regung der Kindesliebe verlangen müssen. Sie fehlte auch tatsächlich in Freitags Gemüt nicht. Ich wollte euch ohnedies davon berichten, zumal diese Sehnsucht seines Genossen für Robinson der Anlaß zu einem neuen, eigentümlichen Erlebnis wurde.

Johannes: Also hat er doch an seine Eltern gedacht? Das ist schön, das freut mich sehr. Dann kann ich den Freitag 261 ja wirklich wieder liebhaben. Aber wenn er auch lieber bei Robinson blieb und nicht zu den Wilden bei sich zu Hause zurück wollte, er hätte sich doch längst Mühe geben müssen, seinen Eltern auf irgendeine Weise mitzuteilen, daß er noch am Leben sei.

Ursula: Ja, er hätte ihnen schon wirklich gleich einen Brief schreiben können!

Peter: Haha, Ursula, du bist wirklich schlau! Schreiben konnte er ja, wenn er es schon gelernt hatte, und wenn Tinte und Papier da waren, was ich auch nicht weiß. Aber wie sollte denn der Brief auf die andere Insel rüberkommen?

Ursula: Na, durch die Post.

Johannes: Um Himmels willen, Schwesterchen, du glaubst doch nicht, daß auf Robinsons Insel an jedem dritten Baum ein Briefkasten gewesen ist?!

Ursula: Ach so, nein, nein, das gab es ja wohl nicht!

Dietrich: Was ist das bloß komisch, sich in jener Gegend eine Post vorzustellen! Briefträger, die zugleich Menschenfresser sind! Da kann man sich beinahe totlachen!

Ursula: Ach, Dietrich, du bist garstig, so habe ich es doch gar nicht gemeint!

Vater: Laßt mir das Kind in Frieden! Ich glaube, daß jedem von euch, als ihr erst sechs Jahre alt wart, etwas Ähnliches eingefallen wäre. Da wußtet ihr auch noch nicht, welch eine riesige Organisation notwendig ist, um den Nachrichtenaustausch zwischen den Menschen zu ermöglichen. Gerade Ursulas Äußerung zeigt uns, wie wunderbar die Einrichtung der Post ist, da ihr so überaus wichtiges, über alle zivilisierten Teile des Erdballs sich ausdehnendes Schaffen als etwas Selbstverständliches erscheint, wie etwas von Natur überall Vorhandenes, gleich dem Licht des Tags oder dem Ziehen der Wolken.

Da die Wilden aber nun einmal keine Post kennen, konnte unser Freitag also nicht schreiben und auch sonst keinerlei Nachricht nach Hause schicken, denn es bestand ja nicht die Spur einer Verbindung zwischen seiner Heimatinsel und der Robinsons. Je länger die beiden aber zusammen lebten, desto häufiger beobachtete Robinson das, was Johannes bisher an Freitag vermißt hat, nämlich eine gewisse Insichgekehrtheit und 262 Traurigkeit. Die Freude darüber, einen so lieben Gefährten gewonnen zu haben, füllte Robinsons Herz jedoch so vollkommen aus, daß er gar nicht auf den Gedanken verfiel, Freitag müsse doch auch bereits ein Leben geführt haben, bevor er zu ihm kam. Ohne tiefer darüber nachzusinnen, hatte er den jungen Wilden bisher als ein Geschenk betrachtet, das ihm vom Himmel herabgefallen war. Er hatte gemeint, daß dessen Gedanken sich nur mit ihm beschäftigen könnten, wie er selbst jetzt bei allem, worüber er nachdachte, von Freitag ausging und bei Freitag endete. Eines Tags aber beobachtete er, wie der Genosse, das Gesicht in die Hände gestützt, auf einem Stein saß und Tränen zwischen seinen Fingern hervortropften. »Was hast du, Freitag, warum weinst du?« fragte Robinson erstaunt. Jener sprang geschwind auf, wischte die Tränen fort und sagte: »Ach nichts, Herr, es ist nichts!« Aber Robinson drang in ihn, und nun erfuhr er . . .

Johannes: Daß Freitag Heimweh hatte.

Vater: Ja! Der Malaie gestand, daß er sich sehr nach seinen Eltern bange und sie gar zu gern einmal wiedergesehen hätte.

Da wandte Robinson sich jäh ab und ging mit raschen Schritten davon, so daß Freitag ihm erstaunt nachblickte und meinte, daß er ihn schwer erzürnt habe. Woran dachte Robinson wohl jetzt?

Peter: An seine eigenen Eltern!

Johannes: Daran, daß er viel schlechter gewesen sei als Freitag, weil er nicht als Gefangener, sondern freiwillig aus der Heimat fortgegangen war, ohne an den Schmerz seiner Eltern zu denken.

Vater: Wirklich durchlebte Robinson innerlich noch einmal die Zeit des Antritts seiner verhängnisvollen Seereise. Die ganze Häßlichkeit seiner Handlungsweise trat ihm vor Augen, und er fand Trost nur in dem Gedanken, daß er inzwischen ein ganz anderer geworden und heute eines ähnlichen Verhaltens keineswegs mehr fähig sein würde. Er kehrte zu seinem Gefährten zurück, zeigte diesem wieder ein freundliches Gesicht und sagte: »Du mußt nicht glauben, Freitag, daß ich dir deswegen böse bin, was du mir eben gesagt hast. Ich 263 habe dich vielmehr jetzt noch lieber als vorher.« Mehr sprach er jedoch über diese Angelegenheit nicht mit seinem Genossen, weil er erst etwas überlegen wollte, was ihm eingefallen war.

Robinson hatte im Lauf der Zeit, während der die beiden nun schon beieinander waren, den Freitag mit allem bekannt gemacht, was er vorher auf der Insel geschaffen hatte. Nur von einer einzigen Stelle im Wald hatte er ihn immer ferngehalten. Das war der Ort, wo das große Boot lag. Robinson schämte sich nämlich, seinem Gefährten zu gestehen, daß er eine so umfangreiche Arbeit mit solcher Unbesonnenheit angefangen hatte. Nun aber schien es ihm doch notwendig, seine Eitelkeit hintanzustellen und dem Genossen das Boot zu zeigen. Vielleicht konnten sie es mit vereinten Kräften ins Wasser bringen. Er hielt sich für verpflichtet, den Gefährten mit jeder Möglichkeit bekannt zu machen, die eine Rückkehr nach der Heimatinsel gestatten konnte. Zwar hatte er Freitag bereits als treu und anhänglich erprobt, aber er war sich doch nicht darüber klar, was dieser bei freier Wahl vorziehen würde: bei ihm zu bleiben oder wieder nach seiner Heimat zurückzukehren. So schrecklich unserem Freund der Gedanke war, vielleicht wieder gänzlich vereinsamt zurückbleiben zu müssen, er glaubte doch, verpflichtet zu sein, dies zu ergründen und Freitags Entscheidung auf sich zu nehmen, auch wenn sie gegen ihn ausfiele.

Eines Tages sprach er daher zu Freitag: »Komm mit mir, ich will dir etwas auf der Insel zeigen, was du noch nicht gesehen hast und dessen Anblick dir vielleicht viel Freude bereiten wird.« Sie gingen durch den Wald und kamen an die Stelle, wo das Boot lag, das wegen seiner außerordentlich festen Fügung noch immer sehr gut erhalten war. Kaum erblickte Freitag das Fahrzeug, da stieß er einen Jubelruf aus, lief hinzu und betrachtete das Boot von allen Seiten. »Ein schönes, seetüchtiges Fahrzeug, nicht wahr?« sagte Robinson. »Freilich, freilich,« rief Freitag, »damit kann man gut übers Meer fahren!« Und erwartungsvoll blickte er seinen Herrn an. »Gut, Freitag,« sagte dieser, »jetzt hast du also die Möglichkeit, wieder nach Hause zu fahren. Ich gebe dir die Erlaubnis dazu. Wenn du willst, können wir uns schon morgen trennen.«

264 Kaum hatte Robinson diese Worte gesprochen, da warf Freitag sich auf die Erde, weinte und schrie und gebärdete sich ganz verzweifelt.

Robinson war sehr erstaunt und fragte: »Was ist dir denn? Was hast du nur, daß du so außer dir bist?« »Oh, Herr,« sagte Freitag unter Schluchzen, »ich war so stolz darauf, daß du mich vielleicht schon ein bißchen liebgewonnen hättest, obgleich ich doch nur ein dummer und unwissender Mensch bin, und nun willst du mich fortschicken?« »Fortschicken?« »Ja, du stoßest mich von dir, du hast es ja eben selbst gesagt!« »Nein, lieber Freitag, so war es nicht gemeint. Du hast mir doch selbst gesagt, daß du gern nach Hause fahren wolltest, und ich erkläre dir, daß ich dich keinesfalls zurückhalten will.« »Und du denkst, Herr, daß ich gleich dortbleiben und nicht wiederkommen will?« »Das weiß ich nicht, Freitag!« »Herr, ich hatte nichts anderes im Sinn, als nur einmal, wenn es ginge, zu meiner Insel zu fahren, meine Eltern zu sprechen, ihnen zu sagen, wie herrlich es mir geht, und dann schnell wieder zu dir zurückzukommen!«

Diese Antwort erfreute Robinson sehr, und sie kamen überein, daß Freitag so handeln sollte, wie er gesagt hatte. Zu einem kurzen Besuch zu Hause sollte er hinüberfahren und dann nach der Rückkehr für immer bei Robinson bleiben. Der junge Wilde küßte seinem Herrn die Hände und gebärdete sich wie toll vor Freude. Schließlich aber sagte er: »Ich habe doch noch einen Wunsch. Willst du nicht mit mir fahren, Herr?« »Aber Freitag,« erwiderte Robinson entsetzt, »wenn ich dich nicht so genau kennen würde, könnte ich glauben, daß du mein Unheil willst. Ich soll mich unter die Wilden begeben, unter die Menschenfresser, damit sie mich töten und verzehren?« »Nein, Herr!« rief Freitag, »das würde niemals geschehen! Meine Leute verfahren so nur mit Gefangenen, die sie in der Schlacht gemacht haben, niemals aber töten sie Menschen, die als Gäste zu ihnen kommen. Mein Vater ist der Häuptling des Dorfs, er würde den Retter und Freund seines Sohns sicherlich nicht angreifen lassen.«

Robinson wußte, daß Freitag dies nicht sagen würde, wenn er nicht die volle Sicherheit hätte, daß man ihm kein Haar krümmen würde. Das Erlebnis lockte ihn, und ohne viel zu 265 überlegen, sagte er zu. Das war nun für Freitag die höchste Freude. Er tanzte um das Boot, sang ein lustiges Lied in seiner Wildensprache, und Robinson konnte nur mit Mühe abwehren, daß er seine Füße küßte. Da augenblicklich keine dringenden Arbeiten zu erledigen waren, beschlossen sie, sogleich ans Werk zu gehen und das große Boot ins Wasser zu bringen. Aber dieses schöne, mit so vieler Mühe hergestellte Fahrzeug war nun einmal ein Unglücksding. Obgleich sie nun mit vereinten Kräften schoben und rückten, Hebel anwendeten und Walzen unterlegten, sie konnten es nicht vom Fleck bewegen. Nach dreitägiger Arbeit waren sie beide verzweifelt. Es wären mindestens noch drei Mann mehr notwendig gewesen, um das Boot flott zu machen. Zum zweitenmal mußte es verloren gegeben werden.

Robinson war sehr ärgerlich über dieses erneute Mißlingen, aber Freitag wußte Rat. Zu Hause hatte er ja oft genug geholfen, Boote aus Baumstämmen herzustellen, und er beherrschte als ein geschickter Bursche, der er offenbar immer gewesen sein mußte, auch diese Kunst sehr gut. Er schlug seinem Herrn vor, ein neues Fahrzeug zu fertigen. Dieser wollte zunächst nichts davon wissen, weil er an die ungeheure Arbeit dachte, die er mit dem vor ihnen stehenden Boot gehabt hatte, und nicht genügend Geduld in sich fühlte, um selbst mit Freitags Hilfe ein kleineres Schifflein zu bauen. Er erzählte seinem Genossen, um ihn von diesem Gedanken abzubringen, welch eine entsetzliche Mühe besonders das Aushöhlen des Baumstamms gemacht hatte. Da klatschte dieser in die Hände und rief mit frohem Stolz, daß er in diesem Fall einen besseren Weg wüßte als sein sonst so viel klügerer Herr. Bei ihm zu Hause würden die Einbäume nicht mit Äxten, sondern durch Feuerbrände ausgehöhlt; das ginge sehr viel rascher, und er glaube, daß sie auf diese Weise wohl in zwei Wochen ein brauchbares Boot fertigstellen könnten.

Nun änderte Robinson seine Meinung, und sie unternahmen die Arbeit. Mit geübtem Auge wählte Freitag einen geeigneten Stamm, geschickt wußte er das Abhauen so einzurichten, daß der Baum dicht am Meeresrand niederfiel, und unermüdlich half er, die Außenform herzustellen. Der Malaie 266 jauchzte während dieser Arbeit, denn er hatten hierfür jetzt ein stählernes Beil zur Verfügung, während er zu Hause stets mit den im Vergleich dazu ganz ohnmächtigen Steinwerkzeugen hatte arbeiten müssen. Die Schnelligkeit, mit der das Ausbrennen des Hohlraums vor sich ging, setzte wieder Robinson in Erstaunen, und so waren für die beiden die Wochen, die sie beim Bootsbau zubrachten, eine Zeit frohester Schaffenslust. Als das Fahrzeug dann bald darauf im Wasser lag, schnitzten sie sich Ruder, trugen ein großes Gefäß mit Wasser und Lebensmitteln hinein, und jetzt stand nichts dem Antritt der Fahrt nach Freitags Heimat entgegen.

Die Bootsbauwerkstatt hatte am Südstrand gelegen, also an jenem Ufer, an dem Robinson gelandet, und wo auch seine Wohnung errichtet war. Freitag wußte aber, daß sie nach Norden fahren mußten, wie ja auch alle Landungen der Wilden am Nordstrand erfolgt waren. Sie beschlossen also, zunächst um die Insel herum zu rudern und dann das offene Meer zu gewinnen.

Johannes: Oh, jetzt geht Robinson also wieder aufs Wasser! Wenn ihm das bloß glückt! Er mußte doch ordentliche Angst vor dem Meer haben!

Dietrich: Es ist ja wohl ein Unterschied, ob man mit einem großen Schiff auf die hohe See hinausgeht oder mit einem Boot bloß zwischen zwei Inseln fährt. Ich denke, sie werden auch einen Tag mit schönem Wetter und ganz ruhiger See abgewartet haben.

Vater: Das taten sie natürlich! Und Robinson hegte nicht den geringsten Zweifel, daß bei vollkommenster Stille von Luft und Wasser sein Gefährte, der sich sogleich als vorzüglicher Ruderer erwies, ihn ohne Unfall zu einer jener Inseln hinüberbringen würde, die ja fast in Sehweite lagen. Eigentümlich war ihm aber doch zumute, als er zum erstenmal nach langen Jahren den Boden der kleinen Insel verließ, die ihm nun doch schon so sehr ans Herz gewachsen war.

Freitag wandte das Boot zunächst scharf südwärts, um ein Stück vom Inselstrand abzukommen, da von diesem aus viele Klippen recht weit ins Meer hinausgingen, die umschifft werden mußten. Mit eigentümlichem Gesang, die glänzenden 267 Augen auf seinen Herrn gerichtet, ruderte Freitag dahin. Pfeilschnell schoß das Boot durchs Wasser und gehorchte vortrefflich dem Willen des Ruderers. Doch nur wenige Minuten lang. Dann auf einmal wendete sich die Spitze des Boots, und das Fahrzeug wurde westwärts herumgerissen. Freitag legte scharf das linke Ruder ein, um das Boot wieder in die von ihm gewünschte Richtung zu bringen. Vergebens! Er hatte keine Macht mehr über das Schifflein. Statt stehenzubleiben, wenn er die Ruder einzog, wurde es nur immer schneller und schneller nach Westen getrieben, ja die Geschwindigkeit, die es hatte, wuchs so stark an, daß sich die beiden Insassen am Bootsrand festklammern mußten.

Johannes: Na, das ist doch nun aber wirklich schon das Allertollste! Kaum ist der Robinson bloß ein paar Meter ins Meer hinausgefahren, da packt ihn schon wieder ein Sturm . . . Aber wie kann das bloß sein, Vater, war denn das Wetter so plötzlich umgeschlagen?

Peter: Hatten sie denn Segel am Boot, daß der Wind sie überhaupt so treiben konnte? Davon hast du doch gar nichts erwähnt!

Vater: Weder habe ich die Segel vergessen, denn sie besaßen keine, noch war ein Sturm aufgekommen. Die Sonne lachte vielmehr aufs freundlichste hernieder, und kein Lüftchen regte sich.

Johannes: Ja, mein Gott, aber man hat doch wirklich noch nie gehört, daß ein Boot ohne Segel und Ruder und Wind fahren kann und noch dazu so schnell. Ja, wenn es noch ein Strom mit scharfem Gefälle gewesen wäre, aber im Meer . . .?

Vater: Es war ein Strom, der Robinson gepackt hatte. Ein Strom im Meer, der zehn Jahre lang vor seinen Augen geflossen war, und den er noch niemals gesehen hatte.

Johannes: Das verstehe ich nicht!

Dietrich: Da hast du also noch nie von Meeresströmungen gehört?

Johannes: Nein. Ich dachte, das Meer steht überall still.

Vater: Das ist auch im allergrößten Teil seines riesenhaften Beckens der Fall. Aber an vielen Stellen ist doch Bewegung wahrzunehmen, die oft sehr scharf sein kann.

268 Johannes: Da du es sagst, Vater, glaube ich es natürlich, aber vorstellen kann ich's mir gar nicht. Ein Fluß im Meer! Das ist ja geradeso wie Tinte ohne Tintenfaß, oder als wenn man Suppe ohne Teller essen wollte, der Fluß im Meer hat doch gar keine Einfassung. Wo sind denn da bloß die Ufer?

Vater: Die sind schon vorhanden, wenn auch in anderer Form, als du es gewöhnt bist. Diese Meeresströme besitzen keine Ränder aus Sand oder Felsen, ihre Ufer werden aus Wasser gebildet. Du wirst das gleich besser verstehen, wenn ich euch an die Luftströmungen erinnere. Ihr wißt ja, daß der Wind, der augenblicklich die Blätter der Linde hier über unseren Köpfen bewegt, durchaus nicht in gleicher Richtung und gleicher Stärke nun auch über die Alster mitten in Hamburg zu wehen braucht. Das Luftmeer der Erde ist nicht als Ganzes in Bewegung, wenn wir einen Wind spüren, sondern nur Teile darin bewegen sich gegen uns, während andere ruhen oder gar die entgegengesetzte Bewegung haben. Die Luftströmungen haben also stillstehende Luft als Ufer und so die Meeresströmungen stillstehendes Wasser. Natürlich sind die Ufer nicht so scharf ausgeprägt, wie ihr es hier bei der Elbe seht.

Johannes: Und was ist die Ursache der Strömung?

Vater: In der Hauptsache ist der Grund in Luft und Wasser der gleiche, nämlich Wärme und damit Dichtigkeitsunterschiede. Es kommt öfter aber noch anderes hinzu, wie gleichmäßig wehende Winde, Verschiedenheit des Salzgehalts, um an einzelnen Stellen die im ganzen ziemlich langsame Strömung in scharf reißende Gewässer zu verwandeln, die für den Seefahrer um so gefährlicher sind, als er sie mit dem Auge nicht zu erkennen vermag. Unsere großen Ozeanfahrer lassen sich hierdurch nicht leicht überwältigen, wohl aber kann ein Boot, wie ein solches, in dem Robinson und Freitag sich jetzt befanden, dadurch in arge Bedrängnis geraten. Im Altertum, wo es ja überhaupt nur kleine Schiffe gab, waren Meeresstellen mit scharfen Strömungen sehr gefürchtet. Die Sage vom Magnetberg, der die Schiffe aus der Ferne anzieht, ist sicherlich dadurch entstanden, daß an bestimmter Stelle Fahrzeuge stets von unsichtbarer Strömung erfaßt und gegen Felsen geschleudert wurden, so daß sie zerschellten.

269 Dietrich. Und Robinson? Und Freitag?

Ursula: Ich bin schon die ganze Zeit ängstlich, wie es ihnen wohl in dem schrecklichen Meer ergehen mag.

Vater: Sie waren in recht bedrängter Lage. Nachdem die Strömung das Boot erst einmal gepackt hatte, riß sie es mit furchtbarem Ungestüm dahin. Robinson dankte Gott, daß er bei seinen Schwimmtouren sich niemals weit von der Küste wegbegeben hatte; sonst wäre er wohl mit seinem Körper in die Strömung geraten und des sicheren Tods gewiß gewesen. Aber auch jetzt im Boot sah er gar keinen Ausweg. Soviel sie auch mit den Rudern gegen das Wasser seitlich anpeitschten, es gelang ihnen nicht, aus der Strömung herauszukommen. Immer rascher und immer weiter trieben sie dem offenen Meer zu. An sich war das ja nicht gefährlich, da die See ruhig war und sie auch Lebensmittel mitgenommen hatten, aber sie mußten fürchten, daß schließlich das Eiland ihren Blicken entschwinden würde, und es ihnen, da sie ja keinen Kompaß besaßen, schließlich unmöglich werden könnte, es wiederzufinden.

Indessen schossen sie mit größter Geschwindigkeit weiter und weiter dahin. Freitags Mut brach rascher zusammen als der Robinsons, obgleich er körperlich weit sehniger und kräftiger war als jener. Das kultivierte Gehirn aber ist in der Not standhafter. Freitag begann, verzweifelte Rufe auszustoßen und Gebete zu sprechen, unter die sich hier und da eine Anrufung seines alten, heidnischen Gotts mischte. Schon waren sie so weit, daß sie nichts mehr sahen als die Spitze des Bergs auf der Insel.

Robinson blickte zurück, und auf einmal erschien ihm das einsame Eiland, von dem er sich doch so viele Jahre lang jeden Tag fortgewünscht hatte, als das irdische Paradies.

»Oh, wenn ich nur wieder dort sein könnte,« dachte er, »auf der teuren Erde, die mich so sicher getragen! Wenn ich doch den Boden meiner lieben Wohnung unter meinen Füßen, die Hecke zu meiner Seite hätte, wie glücklich wollte ich sein!«

So kann etwas, das man eben noch wenig geschätzt hat, für den Menschen plötzlich von höchster Bedeutung werden. Aber Robinson wurde jetzt von solchen Gedanken abgedrängt, denn ihre Not steigerte sich noch weiter.

270 Während sie zuerst nur glatt, wie von gewaltiger Maschinenkraft vorwärts getrieben, dahingesaust waren, gerieten sie jetzt in einen Strudel. Offenbar waren sie an eine Stelle gelangt, wo zwei Meeresströmungen einander durchschnitten. Die Spitze des Boots wendete sich plötzlich wieder von selbst zur Seite, und dann wurden sie minutenlang herumgeschleudert, als wenn sie in einem geschwind gepeitschten Kreisel säßen. Um und um ging es in gischtendem, zischendem Wasser. Sie mußten sich mit aller Kraft anklammern, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Fast vergingen ihnen die Sinne in diesem grauenvollen Wirbeltanz, und schon hielten sie sich für verloren. Doch eine wunderbare Rettung ward ihnen zuteil, ähnlich jener des Tauchers in Schillers berühmtem Gedicht:

»Gleich faßt' mich der Strudel mit rasendem Toben,
Doch es war mir zum Heil, er riß mich nach oben.«

Die kreiselnde Strömung hatte sie dem Bann des in bestimmter Richtung unentrinnbar dahinschießenden Stroms entrissen und schleuderte sie nun seitwärts fort. Plötzlich fühlten sie sich wieder in stillem Wasser. Wohl sahen sie den Strudel in kleinem Bezirk gurgelnd schäumen, aber von der Meeresströmung, die ihnen so arg zugesetzt, war nichts zu erblicken. Sie konnten glauben, daß ein Zauberer oder eine geheimnisvolle Kraft, wie die eines Magnetbergs, sie bis hierhin gezogen hatte.

Rasch wurden nun wieder die Ruder ergriffen, obgleich beide Seefahrer schwer erschöpft waren. So geschwind es ging, eilten sie heimwärts über das spiegelglatte Meer. Mehr als zwei Stunden brauchten sie, bis sie in jener Bucht, die den Wilden als Hafen gedient hatte, wieder ans Land stießen. Selbstverständlich hatten sie jetzt den Nordstrand angesteuert, da die Fahrt am anderen Ufer ihnen gar zu gefährlich dünkte. Sie sprangen heraus und knieten am Land nieder, Gott für ihre wunderbare Rettung dankend. Dann wurde das Boot festgemacht, und todmüde schleppten sich die beiden nach der Wohnung, wo sie, kaum angekommen, einschliefen, ohne nur einen Bissen Nahrung zu sich genommen zu haben.

Johannes: Da konnten Freitags Eltern nun wohl lange auf seinen Besuch warten?

271 Dietrich. Das kann man doch nicht wissen. Vielleicht entschlossen sich Robinson und Freitag bald zu einer neuen Fahrt. Denn von der Landzunge aus, wo das Boot jetzt lag, hätten sie doch sicher ohne Gefahr über das Meer kommen können. Die Wilden waren ja oft genug die Strecke gefahren, ohne auf eine Meeresströmung zu stoßen.

Vater: Freitag bat denn auch schon am nächsten Tag seinen Herrn, den nun ganz ungefährlichen Weg anzutreten. Aber Robinson, der bereits vorher recht zögernd an dieses Vorhaben herangegangen war, hatte jetzt alle Lust dazu verloren. Er dachte, daß es für ihn sicher nicht gut sei, den Boden der Insel zu verlassen, die ihm so wunderbare Rettung gewährt hatte. Er hielt es für eine Undankbarkeit, neue Gefahren unnötig aufzusuchen. Freitag bekam jedoch die Erlaubnis, allein hinüberzufahren. Doch das wollte dieser nicht. So sehr ihn die Sehnsucht nach Hause trieb, er schob die Fahrt von Tag zu Tag und schließlich von Woche zu Woche auf, da er hoffte, sein Herr würde allmählich das Abenteuer mit der Meeresströmung so weit vergessen haben, daß er sich endlich doch entschließen würde, mit ihm zu fahren.

Aber Robinson blieb fest bei seinem Vorsatz, und vorläufig nahmen daher die beiden ihr nun schon gewohntes Leben auf der Insel von neuem auf. Robinson hielt jetzt die Zeit für gekommen, einen schon lange gehegten Plan auszuführen, über den ich euch morgen berichten will. 272


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