Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Der Garten an der Elbe

In der hohen, weit gespannten Halle des Hamburger Hauptbahnhofs hielt der elektrische Vorortzug nach Blankenese.

In ein leeres Abteil stieg eine kleine Gesellschaft: drei Knaben, der älteste von ihnen schon fast ein Jüngling. Wenn man die Gruppe genau beobachtete, sah man, daß von einem Einsteigen eigentlich nur bei den beiden größeren Knaben die Rede sein konnte. Der Jüngste sauste wie eine Kanonenkugel in das Abteil hinein, warf die Büchermappe mit lautem Knall auf die Bank, drehte sich dreimal wie ein Kreisel auf dem Absatz herum und rief: »Gott sei Dank, große Fe . . .!« Er konnte das Wort nicht ganz zu Ende sprechen, denn gerade jetzt zog der Zug an, und der Kreiselnde stürzte etwas heftig gegen die Bank.

Der Zweitgrößte hob die Arme gen Himmel, streckte sich, daß es in allen Gliedern knackte, und rief gleichfalls: »Gott sei Dank, große Ferien!«

Der Älteste, dem man es deutlich ansah, daß er auch gern für ein paar Augenblicke den Kreisel gespielt hätte, der aber offenbar eine solche Bewegung doch nicht für vereinbar mit seiner Primanerwürde hielt, blickte leuchtenden Auges auf die weite, sonnenbeglänzte Wasserfläche hinaus, die vor ihnen lag.

Der Zug fuhr gerade über die Lombardsbrücke, die wie ein Tintenstrich inmitten einer leeren Heftseite die Außen-Alster von der Binnen-Alster trennt. Auf den weiten Gewässern sah man Fahrzeuge aller Art sich tummeln. Da fuhren die Wasseromnibusse Hamburgs, die kleinen Alsterdampfer, und zogen leuchtende Streifen hinter sich, die wie Falten der 18 seidenen, mit Brillanten und Perlen geschmückten Schleppe einer Königin aussahen. Schlanke Boote, mit weißgekleideten Ruderern besetzt, durchschnitten messerscharf die Wasserfläche. Am schönsten jedoch waren die Segelboote anzusehen, deren von der Sonne überstrahlte weiße Leinwandflächen sich zwischen den anderen Fahrzeugen wiegten wie die königlichen Märchenschwäne zwischen den Graugänsen.

Raschen, strahlenden Blicks fing der Primaner dieses bewegte Sommertreiben auf dem Wasser mit seinem Auge ein. Er mußte sich beeilen, das Bild festzuhalten, denn schon verschwanden leuchtende Wasserfläche, Dampfer und Boote; dunkle Häuserwände ragten zu beiden Seiten der Bahnstrecke empor. Der Zug hatte die kurze Lombardsbrücke rasch überfahren und tauchte nun in das Häusermeer der großen Stadt hinein.

»Donnerwetter, Kinder,« sagte Dietrich, der Älteste, indem er seine von der Sonne geblendeten Augen für ein paar Sekunden schloß, zu seinen Brüdern, »Donnerwetter, Jungens, wenn man so etwas sieht, dann kriegt man ordentliches Reisefieber!«

»Hoho,« rief Peter, der Jüngste in der kleinen Gesellschaft, der noch immer seinen von dem Stoß gegen die Bank getroffenen Oberschenkel rieb, »Reisefieber habe ich schon den ganzen Tag! Ich habe während der Schulstunden heute überhaupt an nichts anderes gedacht als ans Reisen!«

»Na,« sagte Johannes, »das ist doch klar! An einem so schönen Tag, und wenn noch dazu gerade die großen Ferien anfangen, müßte man ja ein schöner Schafskopf sein, wenn man sich wirklich mit Dezimalbrüchen und solchem Quatsch beschäftigen wollte, statt an die Alpen, den Schwarzwald oder sowas zu denken.«

Peter puffte seine Büchermappe in eine Ecke. »Pass' mal auf,« sagte er zu dem ledernen Behältnis, »was ich mit dir machen werde! Wenn wir zu Hause sind, werfe ich dich in den Schrank und sehe dich fünf Wochen lang nicht ein einziges Mal an.«

»Ach, Jungens, ihr habt's gut,« sagte Dietrich und gähnte mächtig. »Ihr könnt so ziemlich die ganzen Ferien durch bummeln. 19 Aber wenn man erst in Prima ist,« – und er setzte sich würdevoll zurecht – »darf man sich das nicht mehr leisten. Übernächstes Jahr kommt das Examen, und da muß man so furchtbar viel wissen, daß man schon jetzt überhaupt nicht mehr von den Büchern wegkommt. Ach, in der Prima hat man's wirklich schwer!«

»Spiele dich bloß nicht so auf,« rief Johannes. »Was, glaubst du, wird alles verlangt, wenn man nach Obertertia kommen will. Das hast du wohl schon wieder vergessen!«

Peter, der sich offenbar vor Lust nicht zu lassen wußte, war indessen auf die eine Bank geklettert und machte Turnübungen am Gepäcknetz, obgleich doch so etwas streng verboten ist. »Ich möchte bloß wissen, wohin wir nun reisen werden,« fragte er zwischen zwei Klimmzügen.

»Ja,« antwortete der Primaner Dietrich, »ich denke Berchtesgaden oder Titisee im Schwarzwald. Na, wir werden's ja bald erfahren.«

»Peter,« rief Johannes, »lass' doch endlich das dumme Turnen sein. Du wirst mir noch mit deinem Stiefel ein Auge ausstoßen!« Und als der Kleine doch mit dem Herumstrampeln nicht aufhören wollte, packte ihn Johannes bei den Beinen und zog daran so lange, bis Peter die Stange des Gepäcknetzes loslassen mußte und ziemlich unsanft auf der Bank landete.

»Frech ist das von dir,« sagte er zu seinem Bruder. Aber dann begann er, da Stillsitzen offenbar ganz unmöglich war, zu singen:

Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern.

Dietrich sah ihn mißbilligend an, denn die Melodie war nicht ganz richtig. Aber es kam zu keiner weiteren Auseinandersetzung, denn schon näherten sie sich dem Bahnhof Blankenese, wo die Brüder aussteigen mußten.

Als der Zug bereits ganz langsam fuhr, steckte Johannes den Kopf aus dem Fenster. Blitzschnell fuhr er wieder zurück. 20 »Da steht ja Vater auf dem Bahnsteig,« rief er, »mit Urselchen an der Hand! Was hat das wohl zu bedeuten?«

Dietrichs Gesicht verfinsterte sich. »Mir ahnt nichts Gutes. Wenn nur Mama gesund ist!«

Und nun ergriffen sie ihre Büchermappen und sprangen heraus. Dietrich hatte den Drücker in die Hand genommen und als der Vernünftigste unter den Dreien die Tür so lange zugehalten, bis der Zug wirklich stillstand. Denn die neugierigen Jüngeren wären sonst wohl schon vorher hinausgeklettert.

Die kleine Ursula kam ihnen entgegengelaufen und kriegte von jedem ihrer Brüder einen Kuß. Aber er fiel sehr flüchtig aus, denn man wollte möglichst rasch zum Vater, um zu hören, weshalb er wohl bis auf den Bahnhof gekommen sei.

Die Hüte flogen vom Kopf, und jeder schüttelte dem Vater die Hand.

»Gut habt ihr's heute, ihr Jungens,« sagte der, »ich brauche euch nicht nach den Zeugnissen zu fragen. Als ich in die Schule ging, gab's auch noch zu den großen Ferien solche, und es soll hier und da vorgekommen sein, daß dadurch die Ferienfreude etwas gedämpft wurde. Ihr aber bekommt ja nur noch dreimal im Jahr Zeugnisse.«

Die Knaben sagten nichts, sondern sahen den Vater nur erwartungsvoll an, während sie nun zusammen im lachenden Sonnenschein über die Straßen ihrer Wohnung zuschritten. Ursula, die Sechsjährige, trabte voran, denn ein zitronengelber Schmetterling gaukelte vor ihnen her, den sie gar zu gern mit ihren kleinen Händen greifen wollte.

Der Vater, der die Frage wohl in den Augen seiner Kinder gelesen hatte, schritt nachdenklich dahin. Endlich aber sagte er: »Ihr seid wohl neugierig, weshalb ich euch bis zum Bahnhof entgegengekommen bin?«

»Ja, Vater,« erwiderte Dietrich, »das sind wir.«

»Heute vormittag war der Herr Doktor Hansen bei uns und hat Mutter noch einmal untersucht. Ihr wißt ja, daß sie sich in der letzten Zeit nicht so ganz wohl gefühlt hat. Leider hat er festgestellt, daß ihr Ruhe unbedingt notwendig ist. Längere Abwesenheit von Hause hat er ihr strengstens verboten.«

21 Aus Dietrichs Brust kam ein tiefer Seufzer, und seine Augen, mit denen er zu Johannes hinüberblickte, sagten deutlich: »Habe ich es nicht geahnt?«

Johannes holte indessen das Taschentuch hervor und trompetete hinein, damit man nicht sehen solle, daß Feuchtigkeit jäh in seine Augen geschossen war. Peter blickte nur fragend empor, denn er wußte noch nicht ganz genau, was das alles zu bedeuten hatte.

»Wollen wir nun reisen und Mutter allein hier lassen?« fragte der Vater.

Eine Antwort erfolgte nicht. Denn daß man die leidende Mutter verlassen sollte, um sich zu unterhalten, während sie sich bangte, war natürlich so vollkommen ausgeschlossen, daß es keiner Erörterung bedurfte.

Auch Peter war inzwischen das Verständnis für die Sachlage aufgegangen. Er vermochte sich nicht zu beherrschen, er seufzte »Ach Gott!« und begann zu weinen.

Der Vater faßte den jüngsten Sohn um die Schultern, zog ihn zu sich heran und sprach: »Es tut mir selbst furchtbar leid für euch und auch für uns. Wir hatten uns ebenfalls sehr auf die Reise nach Berchtesgaden gefreut. Aber diesmal soll es nicht sein. Ihr müßt tapfer sein und euch nicht grämen! Ich bin zum Bahnhof gekommen und habe euch die Nachricht dorthin gebracht, damit ihr Zeit habt, euch zu beruhigen, bis wir wieder zu Hause sind. Mutter darf nichts davon merken, daß ihr traurig seid. Als sie den Ausspruch des Arztes hörte, galt ihr erster Gedanke nicht ihrem schwächlichen Gesundheitszustand, sondern euch Kindern. Fast hätte sie geweint, weil sie schuld daran ist, daß ihr um eure schöne Ferienreise kommt. Ihr wißt ja, wie gut sie ist.«

Die Kinder sagten noch immer nichts, und der Vater fuhr fort:

»Ich habe mir's wohl gedacht, daß es euch recht zu Herzen gehen wird, aber ich habe doch mancherlei Trost mitgebracht. Mutter ist sicher bis zum Winter wiederhergestellt. Ich verspreche euch, daß wir dann während der Weihnachtsferien zum Rodeln in die Berge fahren werden. Und auch jetzt in den großen Ferien sollt ihr nicht leer ausgehen. Haben wir 22 doch den schönen Garten bei unserem Landhaus zur Verfügung, in dem ihr euch nach Herzenslust tummeln könnt. Wie prächtig es darin ist, wißt ihr noch gar nicht so recht, denn wir sind ja erst im letzten Herbst aus Braunschweig hierher gezogen, und während des Mai und Juni hat euch die Schule ja nie so recht Zeit gelassen, den Garten auszunutzen.«

»Sicher hast du recht, Vater,« sagte nun endlich Johannes, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Aber so hübsch unsere Besitzung auch ist, schöner muß es doch sein, fremde Gegenden zu durchreisen und kennenzulernen.«

»Nun, auch da will ich euch helfen!« sprach der Vater. »Sicherlich ist es unterhaltend und belehrend zugleich, wenn man reist und sich eifrig umsieht. Aber nicht unbedingt muß der Körper sich auf Reisen begeben. Auch mit dem geistigen Auge kann man Fremdes schauen und kennenlernen, wobei noch das Gute hinzukommt, daß man die fernsten Länder aufzusuchen vermag, ohne sich allzu große Mühe zu machen und viel mehr Zeit zu verlieren, als eure Ferien euch lassen.«

»Wie meinst du das, Vater?« fragte Peter.

»Ich will dafür sorgen, daß ihr fremde Länder kennenlernt und viel Fesselndes dabei erschaut, ohne daß wir Mutter zu verlassen brauchen. Ich habe mir vorgenommen, mich während der Ferien jeden Nachmittag einige Stunden lang für euch frei zu machen und euch etwas zu erzählen. Ich weiß auch schon, was das sein soll, und ich bin sicher, daß ich eine gute Wahl getroffen habe.«

Nun hoben sich die Köpfe der drei Knaben wieder, die lange gesenkt gewesen waren, so daß sie von dem jubelnden Sonnenschein um sie her und der lachenden Pracht gar nichts mehr wahrgenommen hatten. Die Winterrinde, welche die Enttäuschung um ihre jungen Herzen gelegt hatte, begann zu schmelzen. Lustig blickten sie zwar immer noch nicht drein, aber man merkte doch, daß sie die Erfüllung eines langgehegten Wunschs vor sich sahen.

»Wenn du uns etwas erzählen willst, Vater, wird es sicher sehr schön sein,« sagte Johannes.

»Und noch dazu, wenn es so lang ist wie die ganzen großen Ferien,« fügte Peter bei.

23 Dietrich dachte daran, wie oft er sich eine recht ausführliche Unterhaltung mit dem Vater gewünscht hatte. Bei den gemeinschaftlichen Spaziergängen hatte er häufig genug bemerkt, daß er sich mit niemandem so gut unterhalten konnte wie mit dem Vater. Keiner verstand so gut, zum Fragen anzuregen, und keiner gab so klare und verständliche Antworten, niemand war so geduldig beim Erklären wie der Vater. Oft genug hatten er und Johannes ihn gebeten, doch einmal ein besonders hübsches und spannendes Thema, das sie bei einem Spaziergang begonnen hatten, ausführlich mit ihnen durchzusprechen. Der Vater hätte gern diesen Wunsch erfüllt, aber niemals war es ihm in Braunschweig möglich gewesen, hierfür Zeit zu finden. Unausgesetzt saß er an seinem Schreibtisch in dem schönen Arbeitszimmer, dessen Wände ganz von Bücherreihen bedeckt waren. Und die Mutter hatte oft Mühe genug, ihn nur für die Mahlzeiten von der Arbeit abzuziehen.

Jetzt, seitdem sie in das Landhaus bei Hamburg gezogen, war es, wie sie bereits gemerkt hatten, damit schon etwas besser geworden. Der Vater hatte hier mehr Zeit. Was er jetzt gesagt hatte, brachte aber erst die Erfüllung still gehegter Hoffnungen.

Der Primaner blieb stehen und küßte den Vater. »Du bist gut zu uns,« sagte er, »und es wäre häßlich, wenn wir jetzt noch betrübt sein sollten. Nicht wahr, Johannes und Peter? Im Winter geht's in die Schneeberge, und jetzt will uns Vater etwas Schönes erzählen. Da brauchen wir Mutter doch nicht mehr merken zu lassen, daß wir traurig gewesen sind.«

Johannes sagte laut und vernehmlich »Ja!«, der kleine Peter schien aber doch noch nicht so ganz zufriedengestellt. Er mußte sich erst noch weitere Gewißheit verschaffen. »Was willst du uns denn erzählen, Vater?« fragte er.

»Ich habe etwas gewählt, das uns weit hinausträgt – bis in ferne Erdteile. Von unserem Garten aus können wir ja die Schiffe auf der Elbe hinausfahren sehen ins Meer. Eins von ihnen werden wir in Gedanken begleiten, einem Fahrgast darauf werden wir uns zugesellen, und ich verspreche euch, daß die Erlebnisse, die er haben wird, nicht die 24 langweiligsten sein sollen. Mehr will ich vorläufig nicht sagen. Ihr werdet ja bald Näheres erfahren, da wir schon heute nachmittag mit der Erzählung beginnen wollen.«

Die kleine Ursula kam herbeigesprungen, denn sie waren vor ihrem Haus angelangt, und es bestand keine Hoffnung mehr, den Schmetterling einzufangen.

»Also, Jungens, tapfer!« sagte der Vater. »Daß Mutter nichts von eurer Betrübnis merkt!«

»Wir sind ja gar nicht mehr betrübt,« riefen sie alle drei zu gleicher Zeit.

»Das wäre ja auch schrecklich undankbar von uns,« fügte Johannes noch hinzu und drückte dem Vater warm die Hand.

Dann traten sie ein, küßten die Mutter, die etwas blaß, aber doch nicht wirklich krank auf dem Sofa lag, und ihre Gesichter strahlten.

Kaum konnten sie erwarten, bis das Mittagbrot gegessen, und der Vater von seinem kurzen Schläfchen aufgestanden war. Gleich einem Sturmwind stürzten die Knaben in den Garten hinaus, der Vater folgte bedächtigen Schritts und setzte sich in den Armstuhl. Jeder von den Knaben holte sich einen der neuen, weiß gestrichenen Gartenstühle. Ursula hatte sich ein Fußbänkchen aus dem Zimmer mitgebracht und ließ sich zu Füßen des Vaters darauf nieder.

Es war wirklich ein wunderschöner Platz, an dem die kleine Gesellschaft nun versammelt war. Ein mächtiger Lindenbaum breitete seine schattige Krone über den Tisch, der in der Mitte der Gruppe stand. Rankengewächse, an weißen Spalierstangen gezogen, schlossen in angenehmster Weise den Blick nach rechts und nach links ab. Im Hintergrund erhob sich die Terrasse vor dem Haus. Das Geländer war überwuchert von prächtig blühenden Blumen, die in großen Büscheln aus den Töpfen hinabfielen. Als ein großes schwarzes Rechteck zeichnete sich in der sonnenbeschienenen Hauswand der Eingang in das große Gartenzimmer ab, in seinem Dunkel Kühlung versprechend für solche Nachmittage, an denen es draußen trotz des Baumschattens zu heiß werden würde. Ein Duft von Rosen und Reseden drang aus den ferneren Teilen des Gartens hinüber.

25 Vor den Sitzenden aber weitete sich ein prächtiges Landschaftsbild. Der Garten lag auf dem Rücken eines der ziemlich hohen Hügel, wie sie sich am Elbufer in der Nähe von Blankenese hinziehen. In Terrassen stiegen blumige Wiesen hinunter bis dort, wo der Hügel in jähem Absturz zur Elbe niederging. Lautlos wälzte der mächtige Fluß seine Wogen. Müde strebten sie nach langem, langem Weg durch das deutsche Land der Ruhe im Weltmeer entgegen.

Während auf der Alster ein lustiges Getümmel von Fahrzeugen zu sehen gewesen war, erblickte man auf diesem Wasser ernste Geschäftigkeit. Schiffe aller Art und aus aller Herren Ländern zogen in rascher Folge vorbei. Die einen fuhren mit lustig flatternden Wimpeln hinaus, andere strebten elbaufwärts dem Schutz des großen Hamburger Hafens zu. Riesige Dampfer ließen mächtige Rauchfahnen emporwirbeln, kleine Schlepper wühlten das Wasser auf und zogen große Segelschiffe hinter sich her, die hier im Land nicht mehr genügend Wind finden konnten, um ihre weißen Schwingen zu entfalten.

»Gibt es einen schöneren Platz, um von fernen Ländern zu erzählen?« fragte der Vater, »müssen wir nicht glücklich sein, daß wir reisen und trotzdem auf diesem schönen Erdenfleck verweilen können?« Schweigend stimmten alle zu. Und der Vater fuhr fort:

»Ich will meine Erzählung nun gleich anfangen, vorher möchte ich euch aber noch folgendes sagen. Ihr wißt, daß es euch strengstens verboten ist, zu unterbrechen, wenn euer Vater, eure Mutter oder ein anderer Erwachsener spricht. Wir merken wohl, daß das Schweigen euch Kindern oft schwer fällt, haben aber gerade darum großen Wert darauf gelegt, euch hierfür zu erziehen, weil ein solcher Zwang ein besonders gutes Mittel ist, Selbstbeherrschung zu lernen. Bei meiner Erzählung aber soll eine Ausnahme von dieser sonst so streng festgehaltenen Regel stattfinden. Wenn ich etwas sagen sollte, was ihr nicht gleich versteht, so dürft ihr um nähere Erklärung bitten. Ich werde mich sogar über solche Unterbrechungen, wenn sie verständig sind, freuen. Denn die Fragen werden mir zweierlei zeigen. Einmal, daß ihr aufmerksam seid, und zweitens, daß meine Erzählung euch fesselt. Denn im Kopf 26 eines jeden Menschen, der mit Aufmerksamkeit einer ihn wirklich packenden Darlegung folgt, müssen eigene Gedanken entstehen. Es wird ihm im Anschluß daran dies und jenes in den Kopf kommen, woran der Erzählende nicht denkt, und er muß den Willen haben, sich darüber zu unterrichten. Fragt also nur tapfer darauf los, ich werde gern antworten.«

»Oh, das ist fein,« rief Peter, »ich werde sicher viel zu fragen haben!«

»Bedenke immer, mein Kind, daß die Frage verständig sein und zur Sache gehören muß.«

Auch Dietrich und Johannes nickten beifällig mit den Köpfen, und Ursula sah aus, als bereite sie sich schon jetzt auf eine besonders kluge Frage vor. Der Vater streichelte dem Nesthäkchen das aufgeregte Gesicht.

Der Wind bewegte leise die Blätter der großen Linde. Drunten auf dem Fluß glitten ein mächtiger Personendampfer, offenbar ein Amerikafahrer, der heimkam, und ein ausreisender, niedriger Frachtdampfer aneinander vorbei. In den Spalieren des Gartens wiegten sich ein paar Vögel auf den Ranken. Die Sonne, welche durch die Blätter fiel, zeichnete seltsame Lichtgestalten auf die Tischplatte. Kein Laut aus der geschäftigen Welt drang bis zu dem kleinen Kreis.

Und die Erzählung begann. 27


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